Berliner Spielzeugwanderung II
Manche wollen vielleicht wissen, wo dieser ganze Spielzeugladen, diese Galerien von Puppen, Tieren, Eisenbahnen, Gesellschaftsspielen aufgebaut sind, durch die ich euch das letzte Mal geführt habe und jetzt noch weiter führen werde. Es wäre nichts einfacher, als es zu sagen. Aber man darf im Rundfunk keine Reklame machen, extra steht: auch keine versteckte, darum kann ich euch den Namen nicht sagen. Was machen wir da? Manche Kinder wollen doch vielleicht kontrollieren, ob das, was ich gesagt habe, stimmt. Und da es wirklich stimmt, kann ich mir ja auch gar nichts Besseres wünschen. Da muß ich also zu einer List greifen und werde euch folgendes verraten: Daß ich in einem großen Warenhaus war, das werdet ihr ja schon herausgekriegt haben. Nun kuckt euch ein bißchen um und paßt auf, wo ihr auf einem Tische ein riesiges Metallmodell von dem neuen Lloyddampfer »Bremen« findet. Es ist so groß, daß man es von weitem schon sieht. Das Ganze ist mit dem mechanischen Baukasten Stabil gebaut. Ob es viele von euch nachbauen werden, weiß ich nicht. Man braucht nämlich dazu die Größe 9 dieses Baukastens. Das ist die größte und kostet 155 Mark. Habt ihr schon etwas von der Pariser Weltausstellung gehört, von der im Jahre 1900 ganz Europa gesprochen hat? Auf allen Ansichtskarten, die damals von der Ausstellung gemacht wurden, sah man im Hintergrund der Stadt Paris ein großes Schwungrad mit vielleicht 16 Kabinen in beweglichen Scharnieren. Dies Rad drehte sich langsam, in den Kabinen saßen die Leute und kuckten auf die Stadt, die Seine und die Ausstellung herunter, bis ihnen von der doppelten Bewegung, dem Schwanken der Kabinen in ihren Scharnieren und der Umdrehung des großen Rads schlecht wurde. Auch dieses Rad findet ihr mit einem mechanischen Baukasten nachgebildet. Es ist beweglich, und die kleinen Kabinen schwanken wie vor 30 Jahren die richtigen, in denen vielleicht eure Großeltern saßen. Das also gibt es in der Abteilung »Gesellschaftsspiele«. Von den Spielen aber, die ich mir da angesehen habe, will ich euch nicht viel erzählen. Ihr kennt ja alle die Quartette mit ihren unzähligen Abarten, dieses schöne Spiel, bei welchem man lernt, listig, boshaft und höflich zugleich zu sein, und die Würfelspiele auf großen Brettern, »Das Gänsespiel«, »Die Reisen um die Welt«, »Der Jahrmarkt zu Schröppstedt«, wie sie früher hießen, und »Im Zeppelin«, »Die Nordlandreise«, »Der gute Schupo«, wie sie heut' heißen, kennt ihr auch. Eher lohnt es sich schon, von dem elektrischen Frage- und Antwortspiel zu berichten. Da habt ihr eine kleine Batterie, eine Birne, zwei Stöpsel; den einen steckt ihr auf eins der Brettchen, die mit den Fragen bedeckt sind. Neben jeder Frage ein kleines Metallstäbchen. Dann sucht ihr auf einer der anderen Karten die Antwort. Wenn ihr z.B. den einen Stecker auf die Frage, an welchem Fluß liegt Rom, gesteckt habt, sucht ihr mit dem anderen Stecker die Antwort, und wenn ihr an die richtige Stelle kommt, fängt die elektrische Birne zu leuchten an. Das ist natürlich schon eine Art von hinterhältigem Spielzeug, ein Spielzeug, wo sich der Lehrer listig in eine elektrische Birne verwandelt hat. Solche raffinierten Schulverstecke im Spielzeug gibt es noch andere. Am besten hat mir ein ganz neues gefallen, das für die Sechsjährigen bestimmt ist, die eben mit Rechnen anfangen. Es ist ein wunderschöner polierter Holzapfel, der duftet auch, nicht wie ein Borsdorfer oder eine Reinette, sondern eben wie Holz duftet. Sieht man näher zu, so ist er kunstvoll ineinandergefügt und läßt sich in sechs verschiedene Teile zerlegen, an denen man den Nonanern viel Rechnerei klarmachen kann. Wenn auch noch Kerne drin wären, könnte man ihn vielleicht sogar für die oberen Klassen benutzen. – Aber ist das noch Spielzeug? Sind die sogenannten Beschäftigungsspiele, die Perlen, die man auf Fäden reiht, die Flechtvorlagen für den Kindergarten, die hier in der Nähe zu finden sind, noch richtiges Spielzeug? Die Abziehbilder? Vor allem die Oblaten? Ich weiß es nicht. Von den Oblaten aber möchte ich euch erzählen. Nicht nur, weil ich sie als Junge sehr gern hatte, sondern weil ich schon von meiner Mutter her eine sehr schöne Oblatensammlung zusammengebracht habe, in der es Sachen gibt, die ihr heute in keinem Papiergeschäft mehr zu kaufen bekommt. Nämlich ganze Märchen: Däumling, Schneewittchen in bunten Oblatenfolgen, Aladin und die Wunderlampe, Robinson usw. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich habe die winzigen Bilderchen, in denen der schreckliche Geist mit fletschenden Zähnen vor einem vor Schrecken taumelnden Aladin auftaucht, oder Robinson, wie er seinen Sonnenschirm vor Schreck beinah fallen läßt, wie er die ersten abgeknabberten Menschenknochen auf der Insel entdeckt – ich habe diese Augenblicke, die doch in vielen Kinderbüchern abgebildet sind, nur immer so vor mir gesehen, wie ich sie heut noch in meinen Oblatenalben aufschlage. Das ist ein gutes Gegenstück zu den vielen schnäbelnden Täubchen, Rosenjungen, Blumenwagen, aufgeplusterten Engeln, die man geduldig mit der Schere von ihren Papierstangen schneiden muß, den Stangen, wo mit kleinen roten Buchstaben der Name des Fabrikanten oder UX 798 oder sonstiges rätselhaftes Geschäftskauderwelsch gedruckt steht. – Für mich geht überhaupt nichts über Papierspielzeug. Angefangen vom kleinen Faltboot oder Papierhelm, mit denen wir beinah zuerst Bekanntschaft gemacht haben, bis zu den Einsteckbüchern, von denen ich euch jetzt noch etwas erzählen will. Stellt euch ein Bilderbuch mit wenigen Seiten vor. Auf der ersten vielleicht eine Stube, auf der zweiten eine Landschaft mit Bergen, Äckern und Wald, auf der dritten eine Stadt mit ihren Straßen, Toren, Plätzen und Häusern. Nun seht näher zu. Ihr entdeckt dann auf jedem dieser Bilder eine Fülle von kleinen Ritzen; Spalten zwischen Fenster und Fensterbrett, zwischen Schwelle und Tür, zwischen Brunnen und Pflaster, zwischen Stuhlsitz und Lehne, zwischen Ufer und Fluß usw. Und solchen Büchern sind dann hinten in einer kleinen Tasche allerhand Menschen, Möbel, Fuhrwerk, Schiffe, Speisen, Pflanzen beigegeben, die man an kleinen Zäpfchen in die Ritzen auf den Bildern hineinschiebt. So kann man die Stube auf hundert verschiedene Arten möblieren, die Landschaft mit hundert verschiedenen Blumen und Tieren ausputzen, die Stadt bald an einem Markttage, bald an einem Sonntag zeigen, und, wenn es einem Spaß macht, sogar Hirsche und Eichhörnchen auf ihrem Pflaster spazierengehen lassen. Schön, solche Bücher gibt es nicht mehr. Es wird aber nicht lange dauern, so wird es sie wieder geben, und ebenso schöne könnt ihr jetzt schon bekommen. Laßt euch z.B. das Zauberboot schenken, das Tom Seidmann-Freud gemacht hat und in dem es fast ebenso zugeht wie in dem, wovon ich erzählte.
Ja, werdet ihr nun vielleicht sagen, aber was hat denn das mit Berlin zu tun? Dann müßte ich euch aber bitten, scharf nachzudenken, und würde meinerseits nun euch fragen: Wo glaubt ihr denn, kann man in Deutschland eine solche Wanderung durch das ganze Reich der Spielsachen hindurch unternehmen, außer in einem Berliner Warenhaus? Ich will ja nicht sagen, daß es nicht Spielzeuggeschäfte gäbe, in denen ebenso viele Sachen zu haben sind. Der große Unterschied ist nur der, daß die Warenhäuser viel Platz haben, alles auf ihren riesigen Tischen aufbauen, so daß nichts versteckt bleibt und jeder, der Augen hat, all das zu sehen bekommt, was sonst zum großen Teil in Schränken und Kästen verwahrt liegt. Es ist allerdings ein langer Weg gewesen, bis es zu solchen Galerien, wie wir sie hier durchwandern, gekommen ist. Vor allem müßt ihr nicht denken, das Spielzeug sei von allem Anfang an Erfindung von Spielwarenfabrikanten gewesen. Es ist vielmehr ganz allmählich aus den Werkstätten der Holzschnitzer, der Zinngießer usw. ans Licht getreten. Kinderspielzeug wurde nämlich anfänglich nur von den Handwerkern als Nebenarbeit hergestellt, weil alle Dinge des täglichen Lebens im kleinen nachgebildet werden mußten. Der Tischler fertigte nach Bestellung Möbelchen für die Puppenstube, der Zinn- und Kupfergießer Gefäße und Geschirr für die Puppenküchen, der Töpfer kleine Tonwaren, kurz: jedes Handwerk bekam für die Herstellung derartigen Kleinzeugs sein Teil zugewiesen. Eine eigentliche Spielwarenfabrikation aber konnte es wegen der strengen Zunftschranken, die im Mittelalter bekanntlich jedes Handwerk beengten, nicht geben. Jeder Meister durfte nur fabrizieren, was in seinen Betrieb fiel. Dem Tischler war es verboten, seine Holzpüppchen selbst zu bemalen, er mußte sie dem sogenannten Wismuth-Maler überlassen, der Lichtzieher wiederum mußte sich an den Tischler wenden, wenn er seinen wächsernen Puppen oder Engeln irgendein hölzernes Gerät, z.B. Kerzenhalter, in die Hand geben wollte. Man kann sich vorstellen, wie unglaublich umständlich in diesen Zeiten, und die dauerten bis ins 19. Jahrhundert hinein, z.B. die Herstellung eines Puppenhauses gewesen sein muß, wenn so viele verschiedene Gewerbe sich daran beteiligen mußten. Daher denn auch ihre große Kostbarkeit. In den ersten Zeiten waren sie nur für Fürsten erschwinglich und kamen als Prunkstücke in die Kinderstuben der Schlösser, wenn sie nicht etwa gegen Eintritt öffentlich auf dem Jahrmarkt gezeigt wurden. Von so einer Schaustellung wissen wir. Es ist jetzt 300 Jahre her, da kam ein gutes, altes Fräulein in Nürnberg auf den Gedanken, Geld zu verdienen, indem sie den Kindern die Grundsätze einer richtigen Haushaltsführung an einem Puppenhause erläutern wollte, in dem alles naturgetreu nachgemacht war. Die Eltern von diesen Kindern sind vielleicht auf solche Anpreisungen hereingefallen und haben die kleinen Mädchen zu ihr in die Bude geschickt. Die Kinder selber aber werden wohl mehr Vergnügen als Nutzen davon gehabt haben. Im übrigen war auch die innere Einrichtung dieser Häuser in Wirklichkeit gar nicht naturgetreu, sondern man reihte Zimmer aneinander, wie es sich gerade traf, nur zu Schauzwecken. In den meisten Puppenhäusern gibt es nicht einmal eine Treppe, die die verschiedenen Stockwerke verbindet.
Ihr kennt doch sicher, und sei es nur von eurer Arche Noah, die sogenannten Nürnberger Spielsachen, die winzigen lackierten Tierchen und Männchen. Ich war auf meinem Rundgang ganz erstaunt zu sehen, wie diese biblische oder ländliche Spielzeugwelt sich um viele neue städtische Gegenstände vermehrt hat. Jetzt gibt es neben der Arche Noah Mietskasernen, Schienenbahnhöfe, Badeanstalten, ja sogar Berolina-Rundfahrtautos, ganz mit auswärtigen Puppen besetzt. Warum dieses kleine Spielzeug Nürnberger heißt, davon später. In Wirklichkeit kommt es heut meistens aus dem Erzgebirge oder aus Thüringen. Dort wird es schon mehrere hundert Jahre lang hergestellt, und wie es zu seiner Fabrikation kam, das zeigt wieder, wie sehr am Anfang Herstellen und Verkauf des Spielzeugs ganz von dem heutigen verschieden waren. Nicht umsonst liegen die Dörfer, aus denen dies Spielzeug kommt, tief in den thüringischen oder den böhmischen Wäldern. Dort zwangen die langen Wintertage, in denen aller Verkehr auf den verschneiten Straßen und vereisten Pässen stockte, die Bauern und Handwerker, die in der guten Jahreszeit von diesem Verkehr lebten, zu anderer Beschäftigung. Da Holz reichlich vorhanden war, fanden sie bald Gefallen am Schnitzen. Anfangs waren es nur Löffel aus Holz, Küchengerät, einfache Nadelbüchsen und dergleichen. Aber die Begabten befriedigte das nicht lange, und bald wagten sie sich daran, nebenher kleine Puppen, Wägelchen oder Tiere zu schnitzen, wie sie aus ihrer Umgebung sie kannten. Im Sommer nahmen ihnen dann die durchreisenden Kaufleute gerne diese kleinen, lustigen und billigen Kunstwerke ab, um sie ihren Kindern als Geschenk heimzubringen. Der leichte Verdienst reizte die Schnitzer; sie suchten sich andere Verkaufsmöglichkeiten als nur die gelegentlichen, packten ihre Ware in Kiepen und verhandelten sie, im Lande umherziehend. Sodann aber begannen Unternehmer, dies Spielzeug aufzukaufen und ihrerseits in der ganzen Welt abzusetzen. So kamen diese Püppchen bis Astrachan und Archangelsk, bis Petersburg und Cadiz, ja, bis nach Afrika und Westindien. Denn die Matrosen nahmen sie gerne mit, um im Tausch gegen die bunten Männchen von den Negern wertvolle Steine, Perlen, Bronzen und ähnliches einzuhandeln.
Das ist schon eine sonderbare Spielzeugwanderung, werdet ihr denken; da sind wir bald zu Ende, und er hat noch kein Wort weder von Puppen noch von Soldaten gesagt. Da habt ihr auch recht. Aber heut ist er nun schon einmal bei den merkwürdigen und schrulligen Sachen, und dabei wird er bis zum Schluß fein bleiben. Er wird euch verraten, was ihn auf dieser Wanderung am allermeisten überrascht hat, nicht weil es ihm neu war, sondern nur weil er etwas wiederfand, woran er schrecklich lange nicht gedacht hatte: auf einem weichen Wattegrund diese schuppigen Badetiere, Enten, Goldfische und in der Mitte ein Schiff, ebenso schuppig, mit bunten Metallsegeln, und dabei der kleine Magnetstab, mit dem das Kind die Schiffe zu lenken sucht, während ihm die Mutter den Kopf wäscht. Es war aber über dem Ganzen ein Überzug von Zelluloid, und Fische, Schiffe und Enten sahen aus wie in Eis vergraben. Das hat mich an die kleinste und aufregendste Spielzeugwelt erinnert, die man nicht anfassen kann, weil sie in Glas steckt. An die Schiffe, Kreuzigungen, Bergwerke in der versiegelten Flasche. Habt ihr je solche Flaschen gesehen? Euch je den Kopf zerbrochen, wie die Dinge da hineinkommen? Ich ja, jahrelang. Jahrelang hat es gedauert, bis ich erfuhr, wie es zugeht, wie die Schiffer, die das von ihren langen Reisen heimbringen, es anstellen. Es ist keine Hexerei dabei, nur Geduld. Aber soviel, wie nur ein Schiffer in der Einöde des Wassers haben kann, der nichts zu versäumen hat. Alle Teile so eines Schiffes, so einer Kreuzigung sind mit Fäden verbunden, beweglich und so schmal aneinandergelegt, daß sie durch den Flaschenhals eingehen. Sind sie dann einmal im Innern der Flasche, so werden alle Glieder und Gelenke mit langen Spitzen und Pinzetten ausgezogen, bis das Schiff, das Kreuz oder was es sonst ist seine natürliche Form hat. Sodann wird bunter Siegellack hineingetropft, der die Wellen oder die Felsen macht und auf dem bunte Häuschen oder Figuren festgeklebt werden. In diesen Flaschen sieht es aus wie in dem Wunderländchen Vadutz, von dem der Dichter Clemens Brentano sagt: »Alle Wundergebirge der Geschichte, Fabel- und Märchenwelt, Himmalaya, Meru, Albordi, Kaf, Ida, Olymp und der gläserne Berg lagen mir im Ländchen Vadutz.« Dieser Brentano hat sich nämlich alle Spielsachen, die er liebte, in einem Lande zusammen gedacht, das er Vadutz nannte. Davon erzählt er in der Einleitung zu seinem schönsten Märchen: »Gockel, Hinkel und Gackeleia«. Ihr könnt euch zum Schluß unserer Spielzeugwanderung etwas zum nächsten Geburtstag wünschen. Ich aber wünsche mir von euch, daß ihr euch an unsere Wanderung erinnert, wenn ihr später einmal das Märchen vom Gockel, Hinkel und Gackeleia lest.