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Gabriel d'Aubarède, Agnès. Paris: Librairie Plon (1928). 246 S.

Briefschreiben ist uns in unserem persönlichen Umgang eine zweideutige und lästige Sache geworden. Wir geben, ohne zu empfangen, denn von der Briefform empfangen wir in der Tat nichts mehr. Solch winzige Umstände sind oft Brennpunkte, in denen die Bestimmungskräfte einer Zeit sich sammeln. Und darum ist, als Vorwurf einer heutigen Liebeshandlung, die Wartezeit zweier Verlobter, die nach kurzer Begegnung sich weit voneinander entfernen und vereinbart haben, einander nicht zu schreiben, fruchtbar und deutlich. D'Aubarède kam es nun darauf an, dieses Motiv nach innen – weniger zeitkritisch als moralisch – sich entwickeln, die unbekannten Opfer und Gefahren sichtbar werden zu lassen, mit denen diese neue, strengere und reduziertere Gestalt menschlicher Verhältnisse erkauft wird. Es sind die Opfer und Gefahren der Leidenschaft in ihrer überschwenglichen Steigerung. Denn wenn alle Leidenschaft in ihrer höchsten Glut nicht nur dem Weltlauf feindlich, sondern ihrem eigenen Gegenstande tödlich ist, so ist Einsamkeit der Blasebalg dieser Gluten. Leidenschaft sucht die Nähe der Geliebten ja nicht, sich zu entfachen, sondern sich zu kühlen. Darum ist das Schweigen, das die beiden Verlobten hier einander versprochen haben, nicht nur ein zeitgemäßes, sondern ein gefährliches Experiment in der Liebe. Ein Jahr, während dessen sie an nichts sich halten können als die fixierten täglichen fünf Minuten, in denen sie ausschließlicher als sonst im Geiste beieinander sein wollen. Wie in diesem Ritus das Herz des Mädchens sich aushöhlt, ihr Tag zu diesen Minuten, ihr Leib zur Schatulle dieses Gelübde schrumpft, und die erste Regung, ins Leben zurückzufinden, ein Briefentwurf an den Freund, die Katastrophe heraufführt, das ist höchst sparsam, beherrscht und drastisch um den Mittelpunkt dieser Erzählung gruppiert, jenen so wirklichen wie unergründlichen Vorgang, der uns auf den Gedanken bringen könnte, der Mensch verhinge Lieben über sich als Strafe, und es erlösche von selber, wenn er gesühnt: daß nämlich Liebe sich am eigenen Leid ersättigt, und wenn das Opfer verbrannt ist, der Altar, auf dem es flammte, als Granit des Hochmuts zum Vorschein kommt. Als nach Jahresfrist der Geliebte sich einstellt, ist es mit Agnès soweit gekommen. Sie schickt ihn fort und treibt die Dinge in ihrem zerstörenden Hochmut dahin, wo nichts als das Erbarmen des Geliebten zwischen ihr und dem elenden Tode steht. Wie dies Erbarmen langsam und wie aus einer schonenden Verpackung von Haß sich auswickelt, wie man, noch schonender, in dem Erbarmen die Liebe durchfühlt, das gehört zu den schönsten dieser erstaunlich fein und treu erfaßten Vorgänge. Hätte nun d'Aubarède seine Helden zu Prototypen des neuen lakonischen Lebensstils und ihre Liebe exemplarischer gestalten wollen, es wäre ein merkwürdiges Gegenstück zu dem Buche entstanden, das er wirklich geschrieben hat. Denn so viel wird deutlich geworden sein, er wählte die romantische Variante des Vorwurfs. Darum darf seine Heldin einer Honoratiorenfamilie Lyons entstammen und mag den Kreisen, aus denen sie kommt, so tief und gefährlich verwandt sein, daß sie in ihren Gefühlen die Mutter verleugnen muß, um zu sich selber zu finden. Darum kann ihre Flucht sie ins Kloster und endlich hart bis an das Bett eines kümmerlichen Junggesellen jagen, den die Familie ihr antraut. Darum gehört diese schöne Erzählung in die Gattung der »Liebesgeschichten«, von denen wir Abschied nehmen müssen und in Deutschland längst Abschied genommen haben. Wir wissen, aus wie triftigen Gründen und werden dennoch ein so zartes und klangvolles Buch um so lieber haben, als unsere guten Autoren so etwas nicht mehr schreiben und die schlechten es noch immer versuchen.