iii
Wie geht es denn zum Beispiel bei Menschen zu, die es verstehen, sich zu rächen und überhaupt sich ihrer Haut zu wehren? Sobald sie das Rachegefühl erfaßt, bleibt in ihrem ganzen Wesen außer diesem Gefühle nichts übrig. Ein solcher Herr stürmt geradeaus auf das Ziel los, wie ein wütender Stier mit gesenkten Hörnern, und höchstens etwa eine Mauer kann ihn aufhalten. (Apropos: Vor der Mauer üben solche Herren, das heißt die Männer des unmittelbaren praktischen Handelns, eine aufrichtig gemeinte Resignation, wie wenn jemand beim Kartenspiele „paßt“. Für sie ist die Mauer nicht ein Hemmnis, wie zum Beispiel für uns denkende Menschen, die wir infolge des Denkens nichts tun; auch nicht ein Vorwand, um auf dem Wege umzukehren, ein Vorwand, an den unsereiner gewöhnlich selbst nicht glaubt, über den er sich aber immer sehr freut. Nein, sie „passen“ in aller Aufrichtigkeit. Die Mauer hat für sie etwas Beruhigendes; sie gibt für sie in sittlicher Hinsicht den endgültigen Ausschlag; ja, sie legen ihr wohl gar eine Art von mystischer Bedeutung bei … Aber auf die Mauer komme ich später noch zurück.) Nun also, sehen Sie, einen solchen Menschen des unmittelbaren Handelns halte ich für den wahren Normalmenschen, wie ihn die zärtliche Mutter Natur selbst haben wollte, als sie ihn liebevoll auf der Erde erzeugte. Ich beneide einen solchen Menschen so heftig, daß ich grün und gelb werde. Er ist dumm; darüber streite ich mit Ihnen nicht; aber vielleicht muß der Normalmensch auch dumm sein; woher soll man das wissen? Vielleicht ist das sogar sehr hübsch. Und ich bin von der Richtigkeit dieses sozusagen Verdachtes aus einem bestimmten Grunde um so mehr überzeugt; denn wenn man zum Beispiel den Gegensatz des Normalmenschen nimmt, das heißt den Menschen mit der gesteigerten Erkenntnis, der selbstverständlich nicht aus dem Schoße der Natur, sondern aus der Retorte hervorgegangen ist (das streift schon an Mystizismus, meine Herren; aber das gehört mit zu meinem Verdachte), dann „paßt“ dieser Retortenmensch manchmal dermaßen vor seinem Gegensatze, daß er trotz all seiner gesteigerten Erkenntnis sich selbst ganz ehrlich für eine Maus und nicht für einen Menschen hält. Mag er auch eine Maus mit gesteigerter Erkenntnis sein; aber er ist doch eben nur eine Maus, und dort ist ein Mensch, folglich und so weiter. Und was die Hauptsache ist: Er hält sich ja von selbst für eine Maus, von selbst; niemand hat ihn darum ersucht; das ist ein wichtiger Punkt. Betrachten wir jetzt die Maus in ihrem Handeln! Setzen wir zum Beispiel den Fall, daß sie ebenfalls beleidigt ist (und sie wird fast immer beleidigt) und ebenfalls den Wunsch hat, sich zu rächen. Ingrimm sammelt sich in ihr vielleicht noch mehr an als in dem homme de la nature et de la vérité. Der häßliche, gemeine Wunsch, dem Beleidiger Böses mit Bösem zu vergelten, kann sie vielleicht noch heftiger peinigen als den homme de la nature et de la vérité, weil der letztere nach seiner angeborenen Dummheit seine Rache ganz einfach für eine Handlung der Gerechtigkeit hält, während die Maus infolge ihrer gesteigerten Erkenntnis der Ansicht ist, daß von Gerechtigkeit dabei nicht die Rede sei. Es kommt nun schließlich zum Handeln selbst, zum eigentlichen Racheakte. Die unglückliche Maus hat außer der einen ursprünglichen Garstigkeit schon in Gestalt von Fragen und Zweifeln so viele andere Garstigkeiten um sich herum zusammengebracht und an die eine Frage so viele unlösbare Fragen angeknüpft, daß sich ganz von selbst um sie herum eine Art von verhängnisvoller Jauche ansammelt, eine Art von stinkendem Schmutz, bestehend aus ihren Zweifeln und Gemütserregungen und schließlich auch aus dem Speichel, der auf sie von den Männern des unmittelbaren praktischen Handelns herniederregnet, welche als Richter und Diktatoren feierlich um sie herumstehen und sie aus vollem Halse auslachen. Selbstverständlich hat sie noch die Möglichkeit, mit einer geringschätzigen Bewegung ihres Pfötchens die ganze Sache auf sich beruhen zu lassen und mit dem Lächeln einer fingierten Verachtung, an die sie selbst nicht glaubt, schimpflich in ihr Mauseloch zu schlüpfen. Dort in ihrer häßlichen, übelriechenden, unterirdischen Behausung vergräbt sich unsere beleidigte, mißhandelte, ausgelachte Maus sofort in einen kalten, boshaften und vor allen Dingen lebenslänglichen Groll. Vierzig Jahre lang wird sie sich ununterbrochen der ihr angetanen Beleidigung bis auf die geringsten, schmählichsten Einzelheiten erinnern, dabei jedesmal aus ihrem Eigenen noch schmählichere Einzelheiten hinzufügen und auf diese Weise sich mit den Erfindungen ihrer eigenen Phantasie aufreizen und höhnen. Sie wird sich ihrer Erinnerung und ihrer Phantasie selbst schämen, dennoch aber sich alles ins Gedächtnis zurückrufen, alles durchmustern, sich Nichtgeschehenes ausdenken mit der Begründung, das hätte sich doch auch noch zutragen können, und wird nichts verzeihen. Vielleicht wird sie auch anfangen sich zu rächen, aber nur so bei einzelnen Gelegenheiten, in kleinlicher Weise, hinter dem Ofen hervor, inkognito, ohne selbst an ihr Recht zur Rache oder an den Erfolg ihrer Rache zu glauben, und vorherwissend, daß sie selbst von all ihren Racheversuchen hundertmal mehr zu leiden haben wird als derjenige, an dem sie sich rächt, dieser aber sich an der Bißstelle vielleicht nicht einmal kratzen wird. Auf ihrem Sterbebette wird sie sich wieder an alles erinnern, nebst den Zinsen, die sich in der ganzen Zeit angesammelt haben, und … Aber gerade in dieser kalten, widerwärtigen halben Verzweiflung, in diesem halben Glauben, in diesem Verfahren, sich selbst mit Bewußtsein vor Leid auf vierzig Jahre in einer elenden Höhle lebendig zu begraben, in dieser mittels der gesteigerten Erkenntniskraft wahrgenommenen und dennoch zum Teil zweifelhaft bleibenden Rettungslosigkeit der Lage, in diesem ganzen Gifte unbefriedigter, in die Seele eingedrungener Wünsche, in diesem ganzen Fieber des Hin- und Herschwankens, der für alle Zeit gefaßten Entschlüsse und der einen Augenblick darauf sich wieder einstellenden Reue — darin liegt ja eben die Quelle dieses seltsamen Genusses, von dem ich sprach. Er ist von einer solchen Subtilität und manchmal dermaßen schwer zu erkennen, daß einigermaßen beschränkte Leute oder sogar einfach Leute mit starken Nerven von ihm nicht die Spur verstehen. „Vielleicht verstehen auch diejenigen nichts davon“, fügen Sie Ihrerseits schmunzelnd hinzu, „die niemals Ohrfeigen bekommen haben“, und Sie deuten mir auf diese Art in höflicher Form an, daß ich in meinem Leben vielleicht ebenfalls eine Ohrfeige aus Erfahrung kennengelernt habe und daher als Sachverständiger spreche. Ich möchte darauf wetten, daß Sie das meinen. Aber beruhigen Sie sich, meine Herren, ich habe keine Ohrfeigen bekommen, wiewohl es mir völlig gleichgültig ist, wie Sie darüber denken. Vielleicht bedauere ich sogar selbst, daß ich in meinem Leben nur wenig Ohrfeigen ausgeteilt habe. Aber genug; kein Wort mehr von diesem Thema, das Sie so außerordentlich interessiert.
Ich fahre ruhig fort, von den Leuten mit starken Nerven zu sprechen, die für eine gewisse Feinheit des Genusses kein Verständnis haben. Diese Herren brüllen zwar in manchen Fällen wie die Stiere aus vollem Halse, und das trägt ihnen allerdings sogar die größte Ehre ein; aber, wie ich schon gesagt habe, angesichts der Unmöglichkeit beruhigen sie sich sofort. Denn die Unmöglichkeit, das ist eine steinerne Mauer! Was ist das für eine steinerne Mauer? Nun, selbstverständlich die Naturgesetze, die Resultate der Naturwissenschaften, die Mathematik. Wenn man dir zum Beispiel beweist, daß du vom Affen abstammst, dann hat es keinen Zweck, die Stirn zu runzeln; nimm die Sache hin, wie sie ist. Und wenn man dir beweist, daß ein einziges Gramm deines eigenen Fettes dir in Wahrheit teurer sein muß als hunderttausend dir ähnliche Wesen und daß dieses Resultat mit allen sogenannten Tugenden und Pflichten und anderen Albernheiten und vorgefaßten Meinungen endgültig aufräumt, so nimm auch das hin; da ist weiter nichts zu machen; denn zweimal zwei ist vier, lehrt die Mathematik. Versuche es einmal, diesen Satz zu widerlegen!
„Erlauben Sie!“ ruft man uns zu; „dagegen kann man sich nicht auflehnen: Das ist so sicher wie zweimal zwei ist vier! Die Natur fragt Sie nicht; sie kümmert sich nicht darum, ob Ihnen ihre Gesetze gefallen oder nicht. Sie müssen die Natur so nehmen, wie sie ist, und folglich auch alles, was aus ihr resultiert. Eine Mauer ist eben eine Mauer …“ und so weiter, und so weiter. Herr Gott, aber was scheren mich die Gesetze der Natur und der Mathematik, wenn mir diese Gesetze und der Satz: „Zweimal zwei ist vier“ aus irgendwelchem Grunde mißfallen? Selbstverständlich werde ich gegen eine solche Mauer nicht mit der Stirn anrennen, wenn ich tatsächlich nicht die Kraft habe, sie einzurennen; aber ich werde mich mit ihr auch nicht einzig und allein deswegen versöhnen, weil sie von Stein ist und meine Kraft ihr gegenüber nicht ausreicht.
Als ob eine solche Steinmauer wirklich eine Beruhigung wäre und wirklich etwas auch nur einigermaßen Versöhnliches enthielte, einzig und allein deshalb, weil sie eine Art von „Zweimal zwei ist vier“ ist. O Absurdität der Absurditäten! Etwas ganz anderes ist es, alles zu verstehen, alles zu erkennen, alle Unmöglichkeiten und steinernen Mauern; sich mit keiner dieser Unmöglichkeiten und steinernen Mauern auszusöhnen, wenn einem eine solche Aussöhnung widersteht; in betreff jenes ewigen Themas auf dem Wege der zwingendsten logischen Kombinationen zu der widerwärtigen Schlußfolgerung zu gelangen, daß man sogar an der steinernen Mauer gewissermaßen selbst schuld sei, obgleich es hinwiederum bis zur Evidenz klar ist, daß man überhaupt nicht daran schuld ist; und infolgedessen schweigend und mit ohnmächtigem Zähneknirschen wollüstig in Untätigkeit zu erstarren, indem man den Gedanken ausspinnt, daß man somit nicht einmal Grund habe, auf jemanden böse zu sein, und daß kein Objekt zu finden sei und vielleicht nie zu finden sein werde und daß hier Unterschiebung, betrügerisches Kartenmischen, Falschspielerei stattfinde und daß hier einfach ein ekelhafter Zustand vorliege — man weiß nicht, was es eigentlich ist und wer die Schuld trägt, aber trotz all dieser Unklarheiten und Betrügereien schmerzt es einen doch, und je unklarer es einem ist, um so mehr schmerzt es!