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5. An Iljuschas Bett

In der uns bereits bekannten Stube, in der die Familie des Stabskapitäns a. D. Snegirjow wohnte, war es in diesem Augenblick infolge des zahlreichen Besuchs schwül und eng. Eine ganze Anzahl Jungen saßen diesmal bei Iljuscha, und obgleich sie alle sowie Smurow bestritten hätten, daß Aljoscha sie hergebracht und mit Iljuscha versöhnt habe, war es doch so. Seine ganze Kunst hatte in diesem Fall darin bestanden, daß er sie nacheinander zu Iljuscha geführt hatte, ohne »kalbrige Zärtlichkeiten« und anscheinend ganz unabsichtlich und zufällig. Dem Kranken hatte dies eine große Erleichterung gebracht. Er war gerührt, als er die beinahe zärtliche Teilnahme und Freundschaft aller dieser seiner früheren »Feinde« sah. Nur Krassotkin fehlte noch, und das lag ihm wie eine schwere Last auf dem Herzen. Wenn in Iljuschetschkas Erinnerungen etwas besonders Bitteres war, so dieser Vorfall mit Krassotkin, seinem früheren einzigen Freund und Beschützer, auf den er sich mit dem Messer gestürzt hatte. So dachte auch der kluge Knabe Smurow; er war als erster zu Iljuscha gekommen, um sich mit ihm zu versöhnen. Krassotkin selbst hatte allerdings, als Smurow ihm andeutete, Aljoscha wolle »in einer gewissen Angelegenheit« zu ihm kommen, sogleich kurz abgebrochen und den Plan zunichte gemacht, indem er Karamasow bestellen ließ, er, Krassotkin, wisse selber, was er zu tun habe; er bitte niemanden um Rat und werde schon selber den richtigen Zeitpunkt wählen, wenn er zu dem Kranken gehen wolle: er habe »seinen eigenen Plan«. Das war etwa zwei Wochen vor diesem Sonntag. Hierin war auch der Grund zu suchen, weshalb Aljoscha nicht selbst zu ihm gegangen war, wie er anfänglich beabsichtigt hatte. Statt dessen hatte er den kleinen Smurow noch einmal und dann noch einmal zu Krassotkin geschickt. Aber diese beiden Male hatte Krassotkin schon mit einer sehr schroffen Absage geantwortet und Aljoscha bestellen lassen, sollte er ihn persönlich abholen kommen, würde das bewirken, daß er dann überhaupt nie zu Iljuscha gehen würde; man möge ihn also nicht weiter belästigen. Sogar kurz vorher hatte Smurow noch nicht gewußt, daß Kolja sich entschlossen hatte, an diesem Vormittag zu Iljuscha zu gehen. Erst am Abend zuvor hatte Kolja, als er sich von Smurow verabschiedete, auf einmal in barschem Ton gesagt, er solle am nächsten Vormittag zu Hause auf ihn warten, da er mit ihm zusammen zu Snegirjows gehen wolle; er solle sich aber nicht unterstehen, jemand von seinem bevorstehenden Besuch zu benachrichtigen; denn er wolle überraschend kommen. Smurow hatte gehorcht. Die Hoffnung, daß Kolja den verschollenen Shutschka mitbringen würde, hegte Smurow auf Grund einiger flüchtig hingeworfener Bemerkungen Koljas: »Sie sind sämtlich Esel, wenn sie einen Hund nicht auffinden können, falls er überhaupt noch am Leben ist!« Als jedoch Smurow bei einer passenden Gelegenheit seine Vermutung wegen des Hundes Krassotkin gegenüber schüchtern angedeutet hätte, war dieser plötzlich furchtbar ärgerlich geworden: »Wie werde ich denn so ein Esel sein, fremde Hunde in der ganzen Stadt zu suchen, wenn ich meinen Pereswon habe? Kann man denn überhaupt glauben, daß ein Hund, der eine Stecknadel verschluckt hat, am Leben geblieben ist? Eine rührselige Idee, weiter nichts!«

Iljuscha hatte inzwischen sein Bett in der Ecke bei den Heiligenbildern schon zwei Wochen fast nicht mehr verlassen. Zur Schule war er seit jenem Tag nicht mehr gegangen, da er Aljoscha in den Finger gebissen hatte. Von da an hatte er gekränkelt, wenn er auch noch etwa einen Monat lang ab und zu aufstehen und ein wenig in der Stube und auf dem Flur umhergehen konnte. Zuletzt war er ganz kraftlos geworden, so daß er sich ohne Hilfe des Vaters nicht mehr bewegen konnte. Der Vater zitterte um ihn, hatte sogar aufgehört zu trinken und war beinahe wahnsinnig vor Angst, daß sein Sohn sterben könnte. Wenn er ihn manchmal am Arm in der Stube umhergeführt und dann wieder aufs Bett gelegt hatte, lief er plötzlich auf den Flur hinaus, stellte sich in eine dunkle Ecke, lehnte sich mit der Stirn gegen die Wand, weinte und schluchzte in eigentümlich hohen Tönen, wobei er sich jedoch Mühe gab, seine Stimme zu unterdrücken, damit Iljuschetschka sein Schluchzen nicht hörte.

Wenn er dann in die Stube zurückkehrte, versuchte er gewöhnlich, seinen lieben Jungen irgendwie zu zerstreuen und zu trösten, er erzählte ihm Märchen und komische Anekdoten oder stellte allerlei lächerliche Menschen dar, mit denen er einmal zusammengetroffen war, ja er ahmte sogar Tiere nach, wie sie heulten oder schrien. Aber Iljuscha hatte es nicht gern, wenn sein Vater Grimassen schnitt und sich zum Hanswurst machte. Der Junge suchte zwar zu verbergen, daß ihm das unangenehm war; aber er war sich schmerzlich dessen bewußt, daß sein Vater in der Gesellschaft degradiert war, und mußte immer unwillkürlich an den »Bastwisch« und jenen schrecklichen Tag denken. Ninotschka, Iljuschetschkas gelähmte, sanfte Schwester, mochte es ebenfalls nicht, wenn der Vater Possen trieb; Warwara NikoIajewna war schon längst wieder nach Petersburg zurückgekehrt, um weiterzustudieren; die schwachsinnige Mama dagegen amüsierte sich sehr und lachte von ganzem Herzen, wenn ihr Mann anfing, irgend etwas vorzuspielen oder irgendwelche komischen Gebärden zu machen. Das war das einzige, wodurch sie sich aufheitern ließ; die ganze übrige Zeit weinte und klagte sie, alle Menschen hätten sie jetzt vergessen, niemand achte sie, man beleidige sie, und so weiter und so fort. Doch in den allerletzten Tagen schien auch mit ihr plötzlich eine Veränderung vorgegangen zu sein. Sie schaute häufig in die Ecke nach Iljuscha und war nachdenklich geworden. Sie war jetzt viel stiller, und wenn sie weinte, dann leise, um nicht gehört zu werden. Der Stabskapitän hatte traurig und verwundert diese Veränderung wahrgenommen. Die Besuche der Kameraden hatten ihr anfangs mißfallen und sie nur geärgert; aber dann zerstreuten sie das lustige Geschrei und die Erzählungen der Kinder und gefielen ihr jetzt so sehr, daß sie sich schrecklich gegrämt hätte, wären die Jungen nicht mehr gekommen. Wenn die Kinder etwas erzählten oder spielten, lachte sie und klatschte in die Hände. Manche von ihnen rief sie zu sich heran und küßte sie. Den kleinen Smurow hatte sie besonders liebgewonnen. Den Stabskapitän hatten die Besuche der Kinder gleich von Anfang an froh und glücklich gestimmt, er hatte sogar Hoffnung geschöpft, Iljuscha könnte nun aufhören, traurig zu sein, und infolgedessen vielleicht schneller wieder gesund werden. Trotz aller Angst um Iljuscha hatte er bis zuletzt keinen Augenblick daran gezweifelt, daß sein Sohn plötzlich genesen würde. Er empfing die kleinen Besucher ehrerbietig, war ihnen gegenüber betulich und diensteifrig und ließ sie auf seinem Rücken reiten; Iljuscha gefielen diese Spiele jedoch nicht, und so wurden sie wieder aufgegeben. Er kaufte für sie allerlei Leckereien wie Pfefferkuchen und Nüsse, bewirtete sie mit Tee und strich ihnen Butterbrote. Er litt in dieser Zeit übrigens keinen Mangel an Geld. Die zweihundert Rubel von Katerina Iwanowna hatte er angenommen, wie es Aljoscha vorausgesagt hatte. Und als Katerina Iwanowna schließlich Näheres über die Lage der Familie und über Iljuschas Krankheit erfahren hatte, war sie selbst zu einem Besuch in die Wohnung gekommen, hatte sich mit der ganzen Familie bekannt gemacht und sogar die schwachsinnige Mutter zu bezaubern vermocht. Seitdem hatte sie mit Unterstützungen nicht gegeizt, und der Stabskapitän selbst, bedrückt durch den schrecklichen Gedanken, sein Sohn könnte sterben, hatte seine früheren Bedenken über eine mögliche Verletzung seiner Ehre vergessen und nahm die Gaben willig an. Die ganze Zeit hatte Doktor Herzenstube auf Katerina Iwanownas Veranlassung den Kranken ständig besucht, und zwar pünktlich jeden Tag. Nutzen brachten seine Besuche allerdings nur wenig, obgleich er den Patienten mit Arzneien vollstopfte. Dafür wurde an diesem Sonntagvormittag beim Stabskapitän ein neuer Arzt erwartet, der aus Moskau gekommen war, wo er als Kapazität galt. Katerina Iwanowna hatte ihn für eine große Summe extra aus Moskau kommen lassen — nicht um Iljuschas willen, sondern zu einem anderen Zweck, von dem später noch die Rede sein wird; da er aber nun einmal da war, hatte sie ihn gebeten, auch Iljuschetschka zu besuchen, und den Stabskapitän im voraus davon benachrichtigt. Von Kolja Krassotkins Kommen hingegen hatte der Stabskapitän nicht die geringste Ahnung, obgleich er schon lange wünschte, daß dieser Junge, der eine Ursache für Iljuschetschkas Kummer war, endlich kam. In dem Augenblick, als Krassotkin die Tür öffnete und in der Stube erschien, standen alle dicht gedrängt um das Bett des Kranken und betrachteten einen winzig kleinen jungen Bullenbeißer, den der Vater soeben mitgebracht hatte; er war erst am vorigen Tag geboren, doch der Stabskapitän hatte ihn schon vor einer Woche bestellt, um Iljuschetschka zu zerstreuen und zu trösten, der dauernd dem verschwundenen und sicherlich schon toten Shutschka nachtrauerte. Iljuscha, der schon vor drei Tagen gehört hatte, daß er ein kleines Hündchen geschenkt bekommen würde, und zwar kein gewöhnliches, sondern einen echten Bullenbeißer, zeigte zwar aus Zartgefühl, daß er sich über das Geschenk freute, aber alle spürten deutlich, daß das neue Hündchen vielleicht nur noch stärker die Erinnerung an den unglücklichen Shutschka wachrief. Das Hündchen lag neben ihm auf dem Bett und krabbelte herum, und er streichelte es, schmerzlich lächelnd, mit seinen blassen, abgemagerten Händchen; man konnte sogar sehen, daß ihm das Hündchen gefiel, aber … Shutschka war es doch nicht, es war doch nicht Shutschka! Ja, wenn Shutschka und das Hündchen zusammen … Dann wäre das Glück vollkommen gewesen.«

»Krassotkin!« rief plötzlich einer, der den eintretenden Kolja zuerst erblickt hatte. Es entstand eine merkliche Erregung; die Jungen traten auseinander und stellten sich an beide Seiten des Bettes, so daß Iljuschetschka auf einmal frei zu sehen war.

Der Stabskapitän stürzte dem Ankömmling eifrig entgegen.

»Treten Sie näher, treten Sie näher … teurer Gast!« stammelte er. »Iljuschetschka, Herr Krassotkin ist zu dir gekommen …«

Doch Krassotkin bewies, nachdem er dem Stabskapitän rasch die Hand gegeben hatte, unverzüglich seine Kenntnis der Umgangsformen. Er wandte sich mit einer korrekten Verbeugung zuerst an die Gattin des Stabskapitäns, die auf ihrem Lehnstuhl saß und gerade in diesem Augenblick sehr unzufrieden war und darüber murrte, daß die Jungen Iljuschas Bett umlagerten und sie hinderten, das neue Hündchen zu sehen. Dann verbeugte er sich auch vor Ninotschka wie vor einer Dame. Dieses höfliche Benehmen machte auf die kranke Dame einen außerordentlich angenehmen Eindruck.

»Da sieht man doch gleich, daß es ein gut erzogener junger Mann ist«, sagte sie laut. »Aber unsere übrigen Gäste, die kommen einer auf dem anderen herein.«

»Wieso denn einer auf dem anderen, Mamachen, wie meinst du das?« fragte der Stabskapitän zwar freundlich, aber doch ein bißchen besorgt um »Mamachen«.

»Ja, so kommen sie hereingeritten. Auf dem Flur setzt sich einer dem anderen auf die Schulter und reitet so zu einer anständigen Familie herein. Wie kann ein Gast sich so benehmen?«

»Wer ist denn so hereingeritten, Mamachen?«

»Dieser hier ist heute auf diesem hereingeritten und jener auf jenem …«

Aber Kolja stand schon an Iljuschas Bett. Der Kranke war sichtlich blaß geworden. Er richtete sich auf und blickte starr und unverwandt Kolja an. Dieser hatte seinen früheren kleinen Freund etwa zwei Monate nicht gesehen und stand nun ganz bestürzt vor ihm; er hatte nicht geahnt, daß er so ein abgemagertes, gelb gewordenes Gesicht, so fieberhaft brennende und schrecklich groß scheinende Augen, so ausgemergelte Hände zu sehen bekommen würde. Mit traurigem Staunen bemerkte er, daß Iljuscha tief und hastig atmete und ganz trockene Lippen hatte. Er reichte ihm die Hand und sagte beinahe fassungslos: »Nun, Alter … Wie geht es dir?«

Die Stimme versagte ihm, er vermochte den ungezwungenen Ton nicht beizubehalten, sein Gesicht verzog sich plötzlich, und um seine Lippen zuckte es. Iljuscha lächelte ihm schmerzlich zu; er war noch immer nicht imstande, ein Wort zu sagen. Kolja hob plötzlich die Hand und strich mit der Handfläche über Iljuschas Haar.

»Na, das … macht … nichts!« flüsterte er ihm zu, teils, um ihn zu ermutigen, teils, ohne selbst recht zu wissen, warum er das sagte. Ein Weilchen schwiegen beide.

»Was ist denn das? Du hast ja einen neuen kleinen Hund?« fragte Kolja plötzlich in völlig teilnahmslosem Ton.

»Ja-a-a!« antwortete Iljuscha gedehnt und flüsternd; er konnte kaum atmen.

»Er hat eine schwarze Nase, also gehört er zu den bösen Hunden, zu den Kettenhunden«, bemerkte Kolja wichtig mit fester Stimme, als ging es jetzt um nichts anderes als um den kleinen Hund und seine schwarze Nase. Aber die Hauptsache war, daß er sich immer noch bemühte, seine Rührung zu unterdrücken, um nicht wie ein »kleiner Junge« loszuweinen, ihrer aber immer noch nicht Herr werden konnte. »Wenn er heranwächst, wird er an die Kette müssen, ich verstehe mich darauf.«

»Er wird riesengroß!« rief einer aus dem Schwarm.

»Das ist bekannt. Ein Bullenbeißer, das ist ein riesiges Tier, so groß wie ein Kalb!« riefen mehrere durcheinander.

»So groß wie ein Kalb, wie ein richtiges Kalb!« fiel der Stabskapitän ein, der schnell hinzugesprungen war. »Ich habe absichtlich so einen ausgesucht, einen recht bösen, und auch seine Eltern sind riesige, böse Tiere, so hoch vom Fußboden … Aber setzen Sie sich doch bitte. Hier, auf das Bett zu Iljuscha oder auch hier auf die Bank! Bitte schön, Sie teurer, lang erwarteter Gast … Sind Sie mit Alexej Fjodorowitsch zusammen gekommen?«

Krassotkin setzte sich auf Iljuschas Bett, an das Fußende. Obgleich er sich unterwegs gewiß überlegt hatte, wie er das Gespräch ungezwungen beginnen könnte, hatte er jetzt gänzlich den Faden verloren.

»Nein … Ich bin mit Pereswon gekommen … Ich habe jetzt so einen Hund, Pereswon. Das ist ein altslawischer Name. Er wartet draußen … Wenn ich pfeife, kommt er hereingelaufen … Ich bin auch mit einem Hund gekommen«, wandte er sich auf einmal an Iljuscha, »denkst du noch an Shutschka, Alter?« Die Frage wirkte auf Iljuscha wie ein Schlag auf den Kopf. Sein Gesicht verzerrte sich; er blickte mit einem Ausdruck tiefen Schmerzes Kolja an. Aljoscha, der an der Tür stand, machte ein finsteres Gesicht und winkte Kolja verstohlen, er möchte nicht von Shutschka reden, doch der bemerkte es nicht oder wollte es nicht bemerken.

»Wo ist denn … Shutschka?« fragte Iljuscha mit versagender Stimme.

»Na, Bruder, dein Shutschka ist flötengegangen! Dein Shutschka ist krepiert!«

Iljuscha schwieg, sah aber Kolja noch einmal eindringlich an.

Aljoscha fing einen Blick Koljas auf und winkte ihm wieder aus Leibeskräften, der aber tat, als ob er es nicht bemerkt hätte.

»Der ist weggelaufen und krepiert. Wie sollte er auch nach so einem Bissen nicht krepieren«, fuhr Kolja erbarmungslos fort, atmete jedoch dabei selbst aus irgendeinem Grund mühsam. »Ich habe dafür Pereswon … Das ist ein altslawischer Name … Ich habe ihn dir mitgebracht …«

»Ich möchte ihn nicht sehen«, sagte Iljuschetschka plötzlich.

»Doch, doch, du sollst ihn sehen, du mußt ihn unbedingt sehen … Er wird dir Freude machen. Ich habe ihn absichtlich mitgebracht … Er ist genauso struppig wie der andere … Erlauben Sie, gnädige Frau, daß ich meinen Hund rufe?« wandte er sich an Frau Snegirjowa; er befand sich jetzt in unbegreiflicher Erregung.

»Ich möchte ihn nicht sehen, ich möchte ihn nicht sehen!« rief Iljuscha schmerzerfüllt. Seine brennenden Augen blickten, vorwurfsvoll.

»Möchten Sie nicht …«, rief plötzlich der Stabskapitän und sprang auf, »möchten Sie nicht … zu anderer Zeit …«

Aber Kolja bestand hartnäckig auf seinem Willen, rief eilig Smurow zu: »Smurow, mach die Tür auf!« und pfiff dann laut auf seiner Pfeife. Pereswon stürmte hastig herein.

»Spring, Pereswon! Steh!« schrie Kolja, und der Hund stellte sich auf die Hinterfüße und machte vor Iljuschas Bett Männchen. Da geschah etwas, was niemand erwartet hatte; Iljuscha fuhr zusammen, beugte plötzlich heftig den ganzen Oberkörper nach vorn zu Pereswon und blickte ihn, starr vor Staunen, an.

»Das … ist Shutschka« schrie er auf einmal; und die Stimme zitterte ihm vor Schmerz und Glückseligkeit.

»Wer soll es denn sonst sein?«schrie Krassotkin aus voller Kehle mit heller Stimme; dann bückte er sich zu dem Hund hinunter, packte ihn und hob ihn zu Iljuscha hinauf.

»Sieh nur, Alter, sieh her! Das eine Auge ist ausgelaufen, und das linke Ohr ist eingerissen! Genau die Merkmale, die du mir angegeben hast. Nach diesen Merkmalen habe ich ihn auch gefunden. Ich habe ihn gleich damals gefunden, sehr bald. Er gehörte ja niemandem!« fügte er zur Erläuterung hinzu, wobei er sich schnell zu dem Stabskapitän, zu dessen Gattin, zu Aljoscha und dann wieder zu Iljuscha wandte. »Er lebte bei Fedotows auf dem Hinterhof, wollte sich da heimisch machen. Aber die gaben ihm nichts zu fressen, er war ja aus irgendeinem Dorf weggelaufen … So machte ich ihn also ausfindig … Siehst du, Alter, er hat deinen Bissen damals offenbar gar nicht hintergeschlungen. Hätte er ihn hintergeschlungen, wäre er natürlich gestorben, das ist sicher. Da er jetzt noch lebt, hat er ihn offenbar noch rechtzeitig ausgespuckt. Du hast es bloß nicht bemerkt, daß er ihn ausgespuckt hat. Er hat ihn ausgespuckt und sich dabei in die Zunge gestochen, darum hat er damals gewinselt. Er lief davon und winselte, und du dachtest, er hätte den Bissen verschluckt. Er mußte so sehr winseln, denn ein Hund hat eine zarte Haut im Mund … zarter als der Mensch, viel zarter!« rief Kolja in höchster Erregung, und sein Gesicht glühte und strahlte nur so.

Iljuscha konnte gar nicht reden. Mit großen Augen und offenem Mund sah er Kolja an; er war bleich wie Leinen. Wenn der ahnungslose Krassotkin gewußt hätte, welche Qual dieser Augenblick dem kranken Kameraden bereitete, ja daß er ihm tödlich werden konnte, hätte er sich um keinen Preis entschlossen, ein Stückchen wie dieses auszuführen. Doch von den Anwesenden war Aljoscha vielleicht der einzige, der das begriff. Der Stabskapitän schien sich förmlich in einen kleinen Jungen verwandelt zu haben.

»Shutschka! Also das ist Shutschka!« schrie er ganz selig. »Iljuschetschka, das ist Shutschka, dein Shutschka! Mamachen, das ist Shutschka!«

Er fing beinahe zu weinen an.

»Und ich bin nicht darauf gekommen!« rief Smurow betrübt. »Nein, dieser Krassotkin! Ich habe es gleich gesagt, daß er Shutschka findet — und er hat ihn auch wirklich gefunden!«

»Er hat ihn wirklich gefunden!« wiederholte einer der Jungen fröhlich.

»Ein Prachtkerl, der Krassotkin!« rief ein dritter.

»Ein Prachtkerl, ein Prachtkerl! »riefen alle und klatschten Beifall.

»Wartet mal, wartet mal!« bemühte sich Krassotkin alle zu überschreien. »Ich will euch erzählen, wie es zugegangen ist — nur darin liegt ja der Witz, wie es zugegangen ist! Also als ich ihn gefunden hatte, schleppte ich ihn zu mir nach Hause, versteckte ihn hinter Schloß und Riegel und zeigte ihn bis zum letzten Tag niemandem. Nur Smurow erfuhr vor zwei Wochen von ihm; aber ich redete ihm ein, es sei Pereswon, und er erriet die Wahrheit nicht. Und in der Zwischenzeit hatte ich dem Hund allerlei Kunststücke beigebracht, seht nur, was er alles kann! Meine Absicht war, Alter, ihn dir wohldressiert und gut genährt zu bringen und zu sagen: ‚Sieh mal, Alter, wie sich dein Shutschka jetzt macht!‘ Habt ihr hier nicht ein Stückchen Fleisch? Dann wird er euch gleich ein Kunststück vormachen, daß ihr vor Lachen umfallt … Ein Stückchen Fleisch! Na, ist denn keins da?«

Der Stabskapitän lief eilfertig über den Flur in die Stube der Wirtsleute, wo auch für seine Familie das Essen gekocht wurde. Kolja aber rief, um keine kostbare Zeit zu verlieren, inzwischen dem Hund in aller Eile zu: »Stirb!« Und dieser drehte sich plötzlich um, legte sich auf den Rücken und lag wie tot da, alle vier Pfoten nach oben. Die Jungen lachten; Iljuscha sah mit seinem schmerzlichen Lächeln zu, und am meisten amüsierte sich »Mamachen«, daß Pereswon gestorben war. Sie lachte laut und rief: »Pereswon, Pereswon!«

»Um keinen Preis wird er aufstehen, um keinen Preis!« rief Kolja triumphierend. »Die ganze Welt könnte ihn rufen! Nur wenn ich ihn rufe, springt er auf! Ici, Pereswon!«

Der Hund sprang auf und vollführte, vor Freude winselnd, die tollsten Sprünge. Der Stabskapitän kam mit einem Stück Fleisch herein.

»Ist es auch nicht zu heiß?« fragte Kolja, als er den gekochten Bissen in Empfang nahm. »Nein, es ist nicht zu heiß. Die Hunde mögen nämlich nichts Heißes. Jetzt seht alle her! Iljuschetschka, so sieh doch her, sieh her, Alter! Warum siehst du denn nicht her? Nun habe ich ihm den Hund mitgebracht, und er sieht nicht her!«

Das neue Kunststück bestand darin, daß dem Hund das appetitliche Stückchen Fleisch auf die Nase gelegt wurde. Der unglückliche Köter mußte so lange bewegungslos mit dem Bissen auf der Nase dastehen, wie sein Herr befahl; er durfte sich nicht rühren, selbst wenn es eine halbe Stunde dauerte. Aber Pereswon brauchte diesmal nur eine knappe Minute auszuhalten.

»Faß!« rief Kolja, und sofort flog der Bissen von der Nase in Pereswons Schnauze.

Das Publikum drückte selbstverständlich sein begeistertes Staunen aus.

»Und Sie sind wirklich die ganze Zeit nicht hergekommen, nur um den Hund abzurichten?« rief Aljoscha mit unwillkürlichem Vorwurf.

»Genau deswegen!« rief Kolja harmlos. »Ich wollte ihn in seinem ganzen Glanz präsentieren.«

»Pereswon! Pereswon!« lockte Iljuscha und schnipste dabei mit seinen mageren Fingern.

»Du brauchst ihn nicht erst zu locken. Er soll von selbst zu dir aufs Bett springen. Ici, Pereswon!« rief Kolja und klopfte mit der flachen Hand auf das Bett.

Und Pereswon flog wie ein Pfeil zu Iljuscha hinauf. Dieser umschlang hastig seinen Kopf, und Pereswon leckte ihm zum Dank die Backe. Iljuschetschka schmiegte sich an ihn, streckte sich wieder auf seinem Bett aus und verbarg sein Gesicht in dem struppigen Fell des Tieres.

»O Gott, o Gott!« rief der Stabskapitän.

Kolja setzte sich wieder zu Iljuscha aufs Bett.

»Iljuscha, ich kann dir noch ein Kunststück zeigen. Ich habe dir eine kleine Kanone mitgebracht. Erinnerst du dich, ich habe dir schon damals von ihr erzählt, und du hast gesagt: ‚Ach, die möchte ich gern mal sehen!‘ Na, da habe ich sie eben mitgebracht!«

Und Kolja holte die kleine Bronzekanone aus seiner Büchertasche. Er beeilte sich, weil er selbst schon sehr glücklich war; zu anderer Zeit hätte er gewartet, bis der erste Eindruck über Pereswon vorüber war, doch jetzt verschmähte er jeden Aufschub und sagte sich: ‚Wenn ihr schon durch das Bisherige so glücklich seid, sollt ihr noch glücklicher werden!‘ Er selbst war schon geradezu berauscht.

»Ich hatte dieses Ding schon vor längerer Zeit bei dem Beamten Morosow gesehen und für dich in Aussicht genommen, Alter. Bei ihm stand es nutzlos herum, er hatte es von seinem Bruder geerbt. Ich erwarb es durch Tausch, indem ich ihm dafür ein Buch aus Papas Bücherschrank gab: ‚Der Verwandte Mahomeds‘ oder ‚Die heilsame Dummheit‘. Die Schwarte ist hundert Jahre alt und taugt nichts, sie ist in Moskau erschienen, als es noch keine Zensur gab, Morosow ist ein Liebhaber solcher Dinge. Er bedankte sich noch dafür …«

Kolja hielt die kleine Kanone so in der Hand, daß alle sie sehen und sich daran erfreuen konnten. Iljuscha, den rechten Arm noch immer um Pereswon, richtete sich auf und betrachtete voll Entzücken das kleine Spielzeug. Der Effekt erreichte den Höhepunkt, als Kolja erklärte, er habe auch Pulver und man könne sogleich aus der Kanone einen Schuß abfeuern, »falls das die Damen nicht beunruhigt«. »Mamachen« bat sogleich, ihr das Spielzeug aus der Nähe zu zeigen, was ihr auch sofort erfüllt wurde. Die kleine Kanone mit ihren Rädern gefiel ihr ausnehmend, und sie begann sie auf ihren Knien hin und her zu rollen. Der Bitte, damit schießen zu dürfen, stimmte sie bereitwilligst zu, allerdings ohne zu verstehen, um was sie gebeten worden war. Kolja zeigte das Pulver und das Schrot. Der Stabskapitän übernahm selbst das Laden, indem er eine ganze kleine Portion Pulver hineinschüttete; das Schießen mit Schrot bat er auf ein andermal zu verschieben. Die Kanone wurde auf den Fußboden gestellt, mit der Mündung nach einer Seite, wo niemand stand; in das Zündloch wurden drei Pulverkörnchen gesteckt und mit einem Streichholz angezündet. Es erfolgte ein glänzender Schuß. »Mamachen« fuhr zwar zusammen lachte jedoch sogleich vor Freude auf. Die Jungen hatten mit schweigsamem Triumphgefühl zugesehen, am glücklichsten war — mit Blick auf Iljuscha — der Stabskapitän. Kolja hob die kleine Kanone auf … und schenkte sie Iljuscha mitsamt Schrot und Pulver.

»Die ist für dich! Das hatte ich mir schon lange vorgenommen!« wiederholte er noch einmal ganz glückselig.

»Ach, schenkt sie mir! Nein, schenkt die kleine Kanone lieber mir!« begann »Mamachen« auf einmal wie ein kleines Kind zu bitten. Auf ihrem Gesicht malte sich die ängstliche Besorgnis, man könnte ihr das Geschenk verweigern; Kolja wurde verlegen. Der Stabskapitän geriet in Unruhe und sprang zu ihr hin.

»Mamachen, Mamachen«, rief er, »die Kanone gehört dir. Erlaube jedoch, daß sie bei Iljuscha bleibt, weil er sie geschenkt bekommen hat. Aber sie gehört trotzdem dir, Iljuschetschka wird sie dir immer zum Spielen geben; ihr sollt sie beide gemeinsam besitzen, gemeinsam …«

»Nein, ich will nicht, daß wir sie gemeinsam besitzen! Nein, sie soll ganz mir gehören und nicht Iljuscha«, fuhr »Mamachen« fort und machte Anstalten loszuweinen.

»Mama, nimm sie für dich, da, nimm sie für dich«, rief Iljuscha. »Krassotkin, darf ich sie meiner Mama schenken?« wandte er sich bittend an Krassotkin, als fürchtete er, dieser könnte sich gekränkt fühlen, wenn er sein Geschenk einem anderen gab.

»Natürlich darfst du das«, erwiderte Krassotkin sogleich. Er nahm die kleine Kanone aus Iljuschas Händen und überreichte sie mit einer höflichen Verbeugung dem »Mamachen«.

Diese brach vor Rührung in Tränen aus.

»Lieber Iljuschetschka, da sieht man, wer sein Mamachen liebhat!« rief sie gerührt und rollte die kleine Kanone sofort wieder auf ihren Knien hin und her.

»Mamachen, erlaube, daß ich dir die Hand küsse«, sagte ihr Gatte, eilte zu ihr und führte seine Absicht sogleich aus.

»Und auch noch der liebenswürdigste junge Mensch ist dieser nette Junge hier!« sagte die dankbare Frau, auf Krassotkin deutend.

»Und Pulver werde ich dir bringen, Iljuscha, soviel wie du nur haben willst. Wir fabrizieren jetzt selber welches. Borowikow hat die Zusammensetzung erfahren: vierundzwanzig Teile Salpeter, zehn Teile Schwefel und sechs Teile Birkenkohle. Das muß man alles zusammenreiben, dann Wasser zugießen, es zu einem Brei mischen und ihn durch ein Trommelfell reiben — dann ist das Pulver fertig.«

»Mir hat schon Smurow von eurem Pulver erzählt. Nur sagt Papa, daß das kein richtiges Pulver ist«, versetzte Iljuscha.

»Wieso kein richtiges Pulver?« erwiderte Kolja; er war ganz rot geworden. »Es brennt bei uns. Ich weiß übrigens nicht …«

»Nein, ich sage nichts dagegen«, fiel der Stabskapitän mit einem entschuldigenden Gesicht ein. »Ich habe allerdings gesagt, daß das richtige Pulver anders hergestellt wird. Aber das widerspricht dem nicht, man kann es auch so machen.«

»Ich verstehe davon nichts, Sie wissen das besser. Wir haben es in einer Steingutkruke angezündet, und es hat prächtig gebrannt, ganz verbrannt ist es, nur ein ganz klein wenig Ruß ist übriggeblieben. Aber das war nur der Pulverbrei, und wenn man den noch durch ein Fell reibt … Aber Sie wissen das besser, ich verstehe davon ja nichts … Bulkin hat jedenfalls von seinem Vater wegen unseres Pulvers Prügel bekommen, hast du das gehört?« wandte er sich auf einmal an Iljuscha.

»Ja, ich habe es gehört«, antwortete Iljuscha. Er hörte seinem Freund mit grenzenlosem Interesse und Genuß zu.

»Wir hatten eine ganze Flasche Pulver hergestellt, und er bewahrte sie unter seinem Bett auf. Der Vater bekam sie zu sehen. Er sagte, das könnte explodieren. Und dann hat er ihn auch gleich durchgehauen. Er wollte sich im Gymnasium über mich beschweren. Seinem Sohn hat er den Umgang mit mir verboten; und das haben jetzt alle Eltern mit ihren Söhnen gemacht … Auch dem kleinen Smurow haben es die Eltern verboten. Sie sagen, ich sei allgemein als tollkühner Bursche berüchtigt«, fügte Kolja mit einem verächtlichen Lächeln hinzu. »Das kommt alles von der Geschichte mit der Eisenbahn.«

»Ja, wir haben auch von diesem Abenteuer gehört!« rief der Stabskapitän. »Wie haben Sie es nur fertiggebracht, so still zu liegen? Haben Sie sich wirklich gar nicht gefürchtet, als Sie unter dem Zug lagen? War ihnen nicht bange?«

»Nicht sonderlich!« erwiderte Kolja lässig. »Am meisten hat meinen Ruf die Geschichte mit der verfluchten Gans verdorben«, sagte er, wieder an Iljuscha gewandt. Und obgleich er sich beim Erzählen Mühe gab, ein gleichgültiges Gesicht zu machen, hatte er sich doch nicht in der Gewalt und fiel fortwährend aus dem Ton.

»Ach ja, von der Gans habe ich auch gehört!« sagte Iljuscha, über das ganze Gesicht strahlend. »Die Geschichte ist mir erzählt worden, aber ich habe sie nicht ganz verstanden. Hast du wirklich vor den Friedensrichter gemußt?«

»Es ist eine ganz sinnlose Geschichte, eine Bagatelle! Man hat wie gewöhnlich aus einer Mücke einen Elefanten gemacht«, begann Kolja ungezwungen. »Ich ging einmal über den Marktplatz, als gerade Gänse aufgetrieben wurden. Ich blieb stehen und besah mir die Gänse. Plötzlich musterte mich ein Kerl aus unserer Stadt, Wischnjakow, ein Laufbursche im Laden von Plotnikow, und sagte zu mir: ‚Was siehst du dir die Gänse an?‘ ich blickte ihn an: eine dumme, runde Fratze, ein Bursche von zwanzig Jahren. Wissen Sie, ich verschmähe eigentlich nie den Verkehr mit dem einfachen Volk, ich mag den Umgang mit ihm … Wir sind nämlich in einen Abstand vom Volk geraten, das ist eine Tatsache … Sie lachen, Karamasow?«

»Nicht doch, Gott bewahre! Ich höre ihnen aufmerksam zu«, antwortete Aljoscha mit der harmlosesten Miene, und der mißtrauische Kolja beruhigte sich sofort wieder.

»Meine Theorie, Karamasow, ist klar und einfach«, beeilte er sich fortzufahren. »Ich glaube an das einfache Volk und freue mich immer, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Aber ich verwöhne es nicht, das ist die Conditio sine qua non … Ach so, ich wollte ja von der Gans erzählen. Ich drehte mich also zu diesem Dummkopf um und antwortete ihm: ‚Ich denke eben darüber nach, woran wohl so eine Gans denkt.‘ Er sah mich blöde an. ‚Woran denkt denn so eine Gans?‘ fragte er. ‚Siehst du‘, sagte ich, ‚da steht ein Wagen mit Hafer. Aus dem einen Sack läuft Hafer heraus, und eine Gans hat den Hals direkt unterm Rad vorgestreckt und pickt die Körner auf, siehst du das?‘ — ‚Das sehe ich sehr gut‘, antwortete er. ‚Na also‘, sagte ich, ‚wenn man diesen Wagen jetzt ein bißchen nach vorn schiebt, wird er dann der Gans mit dem Rad den Hals durchschneiden oder nicht?‘ — ‚Ganz sicher‘, sagte er und schmunzelte schon breit und war ganz entzückt. ‚Na, dann komm, Bursche‘, sagte ich. ‚Los!‘ — ‚Los‘, sagte er. Wir brauchten uns nicht lange zu bemühen. Er trat unauffällig an den Zaum des Pferdes, und ich stellte mich seitwärts, um die Gans zu dirigieren. Der Bauer hielt gerade Maulaffen feil und redete mit jemandem, so daß ich überhaupt nichts zu arrangieren hatte. Die Gans streckte ganz von selbst den Hals nach dem Hafer unter dem Wagen aus. Ich blinzelte dem Burschen zu, er zog am Zaum, und k-krach! schnitt das Rad der Gans den Hals quer durch! Und ausgerechnet in diesem Augenblick mußten alle Bauern zu uns herübersehen, und nun brüllten sie alle: ‚Das hast du mit Absicht getan.‘ — ‚Nein, nicht mit Absicht!‘ — ‚Doch, mit Absicht! Zum Friedensrichter!‘ Auch mich packten sie. Du bist auch dabeigewesen‘, schrien sie, ‚du bist ein Helfershelfer, dich kennt ja der ganze Markt!‘ Und wirklich kennt mich merkwürdigerweise der ganze Markt«, füge Kolja stolz hinzu. »Wir zogen nun alle zum Friedensrichter, auch die Gans wurde hingetragen. Ich sah, der Bursche hatte Angst bekommen und fing an zu heulen wie ein altes Weib. Und der Gänsehändler schrie: ‚Auf die Art kann man ja wer weiß wie viele Gänse zu Tode bringen!‘ Selbstverständlich wurden die Zeugen vernommen. Der Friedensrichter erledigte die Sache im Handumdrehen. Für die Gans mußte der Bursche dem Gemüsehändler einen Rubel zahlen und konnte dann die Gans behalten; künftig sollte er sich solche Streiche jedoch nicht wieder erlauben. Der Bursche heulte wie ein altes Weib: ‚Ich habe es nicht von selber getan!‘ sagte er. ‚Der hier hat mich angestiftet!‘ Und dabei zeigte er auf mich. Ich antwortete kaltblütig, ich hätte ihn durchaus nicht angestiftet, sondern nur die Grundidee zum Ausdruck gebracht und von einem bloßen Projekt gesprochen. Der Friedensrichter Nefedow lächelte und ärgerte sich dann gleich, daß er gelächelt hatte. ‚Ich werde Sie‘, sagte er, ‚sogleich bei ihrem Direkter anzeigen, damit Sie sich künftig nicht auf solche Projekte einlassen, statt bei den Büchern zu sitzen und ihre Aufgaben zu lernen!‘ Na, beim Direktor hat er mich nicht angezeigt, das war nur Scherz von ihm; doch die Geschichte sprach sich tatsächlich herum und kam auch den Lehrern und dem Direktor zu Ohren — diese Herren haben ja lange Ohren! Besonders entrüstet war der Altsprachler Kolbasnikow, aber Dardanelow trat wieder für mich ein. Kolbasnikow ist sowieso auf uns alle wütend wie ein grüner Esel. Hast du das gehört, Iljuscha, er hat geheiratet! Er hat von den Michailows tausend Rubel Mitgift erhalten, und die junge Frau hat dafür einen Rüssel erster Güte, prima Qualität! Die aus seiner Klasse haben gleich ein Gedicht verfaßt:

Die Heirat des Ekels Kolbasnikow
gibt der Klasse zum Lachen Stoff …

Na und so weiter, es ist sehr komisch, ich werde es dir später einmal mitbringen. Über Dardanelow sage ich nichts, er ist ein Mann, der Kenntnisse besitzt, gediegene Kenntnisse. Solche Männer schätze ich, und nicht etwa, weil er für mich eingetreten ist …«

»Trotzdem hast du ihn mit der Frage, wer Troja gegründet hat, in Verlegenheit gebracht!« mischte sich Smurow ein, der in diesem Augenblick sehr stolz auf Krassotkin war. Die Geschichte von der Gans hatte ihm außerordentlich gefallen.

»Haben Sie ihn damit wirklich in Verlegenheit gebracht?« fiel der Stabskapitän schmeichlerisch ein. »Mit der Frage, wer Troja gegründet hat? Ja, davon haben wir schon gehört. Iljuschetschka hat es mir damals gleich erzählt …«

»Er weiß alles, Papa! Er weiß bei uns alles am besten!« ergriff Iljuschetschka, hingerissen das Wort. »Er tut nur so, als ob er nichts Besonderes wäre. In Wirklichkeit ist er bei uns der beste Schüler, in allen Fächern …«

Iljuscha blickte seinen Freund grenzenlos glücklich an.

»Na, das von Troja ist dummes Zeug, eine Lappalie. Ich selbst halte diese Frage für ganz unerheblich«, erwiderte Kolja mit stolzer Bescheidenheit.

Es war ihm jetzt gelungen, in den beabsichtigten Tonfall hineinzukommen. Dennoch befand er sich in einer gewissen Unruhe: Er fühlte, daß er sehr erregt war und zum Beispiel die Geschichte von der Gans zu hingerissen erzählt hatte. Aljoscha hatte während der ganzen Erzählung geschwiegen und seine ernste Miene beibehalten, und den ehrgeizigen Jungen quälte nun schon allmählich der Gedanke: ‚Schweigt er etwa, weil er mich verachtet und meint, ich wäre scharf auf sein Lob? Wenn er wagen sollte, so etwas zu denken, dann würde ich …‘

»Ich halte diese Frage entschieden für unerheblich«, bemerkte er noch einmal kurz und stolz.

»Aber ich weiß, wer Troja gegründet hat«, sagte auf einmal ganz unerwartet ein Junge, der bis dahin kaum ein Wort gesprochen hatte. Es war Kartaschow, ein schweigsames und offenbar schüchternes Bürschchen, ziemlich hübsch und etwa elf Jahre alt; er saß dicht an der Tür.

Kolja sah ihn erstaunt und würdevoll an. Die Frage: »Wer hat eigentlich Troja gegründet?« war nämlich in allen Klassen geradezu eine Preisfrage geworden, zu deren Lösung man in Smaragdows Weltgeschichte nachlesen mußte. Diese Weltgeschichte besaß aber niemand außer Kolja. Und nun hatte der kleine Kartaschow einmal, als Kolja nicht hinsah, flink und verstohlen zwischen dessen Büchern den Smaragdow aufgeschlagen und sofort die Stelle von den Gründern Trojas gefunden. Das war schon vor ziemlich langer Zeit geschehen; doch er war immer ängstlich gewesen und hatte nicht gewagt, öffentlich auszusprechen, daß auch er wisse, wer Troja gegründet hatte; er hatte gefürchtet, das könnte für ihn unangenehme Folgen haben, Kolja könnte ihn zur Strafe irgendwie in Verlegenheit bringen. Jetzt kannte er es aber auf einmal nicht mehr aushalten und sagte es: Er hatte es schon längst gewollt.

»Na, wer hat es denn gegründet?« fragte Kolja von oben herab; er hatte schon am Gesicht des anderen erkannt, daß der es tatsächlich wußte, und sich selbstverständlich sofort auf alle Folgen vorbereitet. In der allgemeinen Stimmung trat, wie man das so nennt, eine Dissonanz ein.

»Troja gründeten Teukros, Dardannos, Ilus und Tros«, sagte der Junge klar und deutlich und wurde dann plötzlich so rot, daß er einem leid tun konnte. Die anderen blickten ihn lange starr an, dann wandten sich alle zu Kolja um. Kolja maß den Kleinen noch immer mit seinem geringschätzigen Blick.

»Und wie haben sie es denn gegründet?« ließ er sich endlich herab zu fragen. »Und was bedeutet das überhaupt: eine Stadt oder einen Staat gründen? Was haben sie denn gemacht? Sind sie hingekommen und haben jeder einen Ziegelstein hingelegt, ja?«

Es erscholl Gelächter. Die Röte des Jungen steigerte sich zu dunklem Purpur; er schwieg und war nahe daran loszuweinen.

Kolja ließ ihn noch ungefähr eine Minute lang in dieser unangenehmen Situation.

»Wenn man von solchen historischen Ereignissen sprechen will, wie es die Gründung von Nationen ist, muß man vor allen Dingen verstehen, was das bedeutet«, sagte er streng und gemessen in belehrendem Ton. »Ich messe übrigens allen diesen Altweibergeschichten keinen Wert bei und schätze überhaupt die Weltgeschichte nicht sehr hoch ein«, fügte er dann, an alle gewandt, lässig hinzu.

»Die Weltgeschichte, sagten Sie?« fragte der Stabskapitän, der einen richtigen Schreck bekommen hatte.

»Jawohl, die Weltgeschichte. Sie ist die wissenschaftliche Erforschung einer Reihe menschlicher Dummheiten, weiter nichts. Ich schätze nur die Mathematik und die Naturwissenschaften«, verkündete Kolja und warf einen flüchtigen Blick auf Aljoscha; der war hier der einzige, dessen Urteil er fürchtete.

Doch Aljoscha blieb ernst und stumm wie vorher. Hätte Aljoscha jetzt gleich etwas gesagt, hätte die Sache damit ihren Abschluß finden können; aber Aljoscha schwieg, und sein Schweigen konnte geringschätzig sein. So wurde denn Kolja ganz nervös.

»Und dann diese klassischen Sprachen! Der reine Blödsinn, weiter nichts … Sie scheinen wieder nicht meiner Meinung zu sein, Karamasow?«

»Nein, ich bin nicht ihrer Meinung«, erwiderte Aljoscha zurückhaltend und lächelte.

»Wenn Sie meine ganze Meinung über die klassischen Sprachen hören wollen, so muß ich sagen: Sie sind eine Polizeimaßregel. Das ist der einzige Zweck, zu dem sie eingeführt worden sind!« sagte Kolja, dem allmählich wieder das Atmen schwer wurde. »Sie sind eingeführt worden, weil sie langweilig sind und die Fähigkeiten abstumpfen. Es war ohnehin schon langweilig, und da überlegten die Regierenden: Was sollen wir tun, damit es noch langweiliger wird? Es war schon sinnlos, und da überlegten sie: Was sollen wir tun, damit es noch sinnloser wird? So verfielen sie auf die klassischen Sprachen. Das ist meine ganze Meinung darüber, und ich hoffe, daß ich sie nie ändern werde«, schloß Kolja scharf.

Auf seinen Backen waren rote Flecke erschienen.

»Das ist wahr«, stimmte ihm Smurow, der eifrig zugehört hatte, mit seiner hellen Stimme überzeugt zu.

»Und dabei ist er selber der beste in Latein!« rief einer aus der Gruppe.

»Ja, Papa, das sagt er so. Aber er ist in seiner Klasse der beste in Latein«, fiel auch Iljuscha ein.

»Was hat das damit zu tun?« erwiderte Kolja, der es für nötig hielt, sich zu verteidigen, obgleich ihm auch dieses Lob sehr angenehm war. »Ich ochse Latein, weil es notwendig ist und weil ich meiner Mutter versprochen habe, das Gymnasium zu absolvieren, und meiner Ansicht nach muß man das, was man sich einmal vorgenommen hat, auch gut machen. Aber im Grunde meines Herzens verachte ich das klassische Altertum und diese ganze Gemeinheit … Sie sind nicht meiner Meinung, Karamasow?«

»Nun, warum soll das eine Gemeinheit sein?« fragte Aljoscha und lächelte wieder.

»Ich bitte Sie, die Klassiker sind sämtlich in alle Sprachen übersetzt, also brauchten die Regierenden das Latein gar nicht zum Studium der Klassiker, sondern einzig und allein als Polizeimaßregel und zur Abstumpfung der Fähigkeiten. Unter diesen Umständen verdient es doch wohl eindeutig den Namen ‚Gemeinheit‘?«

»Wer hat Sie das alles bloß gelehrt?« rief Aljoscha erstaunt.

»Erstens bin ich selbst imstande, das zu begreifen, ohne daß es mich jemand lehrt, und zweitens hat das, was ich eben über die übersetzten Klassiker sagte, der Lehrer Kolbasnikow selber laut vor der ganzen Klasse gesagt …«

»Der Doktor ist gekommen!« rief auf einmal Ninotschka, welche die ganze Zeit geschwiegen hatte.

In der Tat war Frau Chochlakowas Equipage vorgefahren. Der Stabskapitän, der den ganzen Vormittag auf den Doktor gewartet hatte, lief Hals über Kopf zum Tor, um ihn zu empfangen. »Mamachen« machte sich zurecht und nahm eine würdevolle Miene an. Aljoscha trat zu Iljuscha und brachte ihm sein Kopfkissen in Ordnung. Ninotschka verfolgte es

von ihrem Lehnstuhl aus mit unruhigem Blick. Die Jungen verabschiedeten sich eilig; einige von ihnen versprachen, am Abend wiederzukommen. Kolja rief Pereswon, und der sprang vom Bett herunter.

»Ich gehe nicht weg«, sagte Kolja hastig zu Iljuscha. »Ich werde auf dem Flur warten und wieder hereinkommen, sobald der Doktor weg ist. Ich werde auch Pereswon wieder mitbringen.«

Aber schon trat der Arzt ein — eine würdevolle Gestalt in einem Bärenpelz, mit langem, dunklem Backenbart und glänzend ausrasiertem Kinn. Als er über die Schwelle getreten war, blieb er auf einmal verdutzt stehen. »Was ist das? Wo bin ich?« murmelte er, ohne den Bärenpelz von den Schultern zu werfen und ohne die Schirmmütze aus Seehundsfell vom Kopf zu nehmen. Die vielen Menschen, die Ärmlichkeit der Stube, die an einem Strick aufgehängte Wäsche verblüfften ihn. Der Stabskapitän konnte sich an tiefen Verbeugungen vor ihm gar nicht genugtun.

»Sie sind gekommen«, murmelte er in knechtischer Untertänigkeit. »Sie sind zu mir gekommen, Sie haben die Güte, zu mir …«

»Herr Sne-gi-riow?« fragte der Doktor würdevoll. »Sind Sie das?«

»Ich bin es.«

»Ah!«

Der Doktor blickte sich noch einmal geringschätzig im Zimmer um und warf den Pelz ab. Allen blitzte der hohe Orden entgegen, den er um den Hals trug. Der Stabskapitän fing den Pelz im Fallen auf, und der Doktor nahm die Mütze ab. »Wo ist denn der Patient?« fragte er laut und energisch.