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7. Iljuscha

Der Doktor, bereits wieder in seinen Pelz gehüllt und mit der Mütze auf dem Kopf, trat aus der Stube. Sein Gesicht drückte einen beinahe zornigen Ekel aus, als befürchtete er immerzu, sich an etwas zu beschmutzen. Er erfaßte mit einem schnellen, flüchtigen Blick den Flur und sah dabei Aljoscha und Kolja streng an. Aljoscha gab dem Kutscher einen Wink, und die Equipage, die den Doktor hergebracht hatte, fuhr vor. Der Stabskapitän kam nach dem Arzt aus der Stube und versuchte ihn unter tiefen, entschuldigenden Verbeugungen zurückzuhalten und noch ein letztes Wort von ihm zu hören. Sein Gesicht wirkte sehr niedergeschlagen, sein Blick war voller Angst.

»Exzellenz, Exzellenz … Ist es denn wirklich …«, begann er; doch er sprach nicht aus, sondern rang nur verzweifelt die Hände und richtete einen letzten flehenden Blick auf den Doktor, als könnte das Todesurteil über den Sohn tatsächlich durch ein Wort des Doktors noch umgeändert werden.

»Was ist da zu machen? Ich bin nicht Gott«, antwortete der Doktor lässig und zugleich gewohnheitsgemäß energisch. »Doktor! Exzellenz! Und wird er bald, sehr bald … ?«

»Sei-en Sie auf al-les ge-faßt!« erwiderte der Doktor bestimmt und mit überdeutlicher Aussprache und schickte sich an, zum Wagen zu gehen.

»Exzellenz, um Christi willen!« hielt ihn der Stabskapitän noch einmal in seiner Angst zurück. »Exzellenz, kann ihn denn nichts mehr retten, wirklich nichts, gar nichts? …«

»Das hängt jetzt nicht von mir ab«, sagte der Doktor ungeduldig. »Indes, hm …?« überlegte er plötzlich. »Wenn Sie ihren Patienten zum Beispiel sofort und ohne die geringste Verzögerung nach Sy-ra-kus bringen könnten, dann wäre es … Infolge der neuen gün-sti-gen kli-ma-ti-schen Ver-hält-nis-se … vielleicht möglich, daß …« Die Worte »sofort« und »ohne die geringste Verzögerung« sprach der Doktor nicht nur streng, sondern fast zornig aus.

»Nach Syrakus!« rief der Stabskapitän, als ob er gar nichts verstanden hätte.

»Syrakus, das liegt in Sizilien«, warf Kolja erklärend dazwischen.

Der Doktor sah ihn an.

»Nach Sizilien! Väterchen, Exzellenz!« rief der Stabskapitän ganz fassungslos. »Aber Sie haben ja doch gesehen!« Und er deutete heftig gestikulierend auf alles, was ihn umgab. »Und die Mama, und die Tochter?«

»N-nein, ihre Familie gehört nicht nach Sizilien, sondern in den Kaukasus. Zu Beginn des Frühjahrs muß ihre Tochter in den Kaukasus. Ihre Gattin muß zuerst ebenfalls im Kaukasus eine Badekur gegen ihren Rheumatismus durchstehen und dann unverzüglich nach Paris in die Heilanstalt des Psychiaters Lepelletier gebracht werden. Ich könnte ihnen einen Brief an ihn mitgeben, und dann … Möglicherweise … »

»Doktor, Doktor! Aber Sie sehen ja doch!« rief der Stabskapitän, fuchtelte wieder mit den Armen umher und deutete auf die kahlen Balkenwände des Flurs.

»Ja, das ist nun nicht meine Sache«, versetzte der Doktor lächelnd. »Ich habe nur gesagt, was die Wis-sen-schaft auf ihre Frage nach den letzten möglichen Mitteln antworten kann. Das übrige jedoch … Zu meinem Bedauern …«

»Seien Sie unbesorgt, Arzt! Mein Hund wird Sie nicht beißen«, unterbrach ihn Kolja laut, da er bemerkte, wie der Doktor beunruhigt nach Pereswon schielte. Er sagte, wie er später erklärte, absichtlich »Arzt« statt »Doktor«, um »den Betreffenden zu ärgern«.

»Was soll das heißen?« fragte der Doktor, warf den Kopf zurück und sah Kolja erstaunt an. »Wer ist das?« wandte er sich dann auf einmal an Aljoscha, als wollte er diesen zur Rechenschaft ziehen.

»Das ist der Herr des Hundes Pereswon, Arzt. Beunruhigen Sie sich nicht um meine Persönlichkeit!« sagte Kolja wieder dreist. »Leben Sie wohl, Arzt! In Syrakus sehen wir uns wieder!« fügte er hinzu.

»Wer ist das? Wer ist das?« fragte der Doktor aufbrausend.

»Ein Schüler von hier, Doktor. Er ist ungezogen, beachten Sie ihn nicht weiter!« sagte Aljoscha eilig mit finsterer Miene. »Schweigen Sie, Kolja!« rief er diesem zu. »Sie sollten ihn wirklich nicht weiter beachten, Doktor!« sagte er noch einmal, in etwas heftigerem Ton.

»Durchprügeln müßte man ihn, durchprügeln!« rief der Doktor und stampfte wütend mit den Füßen.

»Wissen Sie, Arzt, mein Pereswon beißt am Ende doch!« sagte Kolja mit bebender Stimme; er war ganz blaß geworden, und seine Augen funkelten. »Ici, Pereswon!«

»Kolja, wenn Sie noch ein einziges Wort sagen, sind wir für immer geschiedene Leute!« rief Aljoscha gebieterisch.

»Arzt, es gibt nur ein Wesen auf der ganzen Welt, von dem sich Nikolai Krassotkin etwas befehlen läßt!« Kolja wies auf Aljoscha. »Dieser Mensch hier. Ihm gehorche ich. Leben Sie wohl!«

Er ging schnell zurück ins Zimmer, Pereswon stürzte ihm hinterher. Der Doktor stand noch etwa fünf Sekunden wie erstarrt da und blickte Aljoscha an; dann spuckte er aus und eilte zum Wagen, wobei er laut vor sich hin sagte: »Das, ich verstehe nicht, was das …«

Der Stabskapitän lief ihm nach, um ihm beim Einsteigen behilflich zu sein. Aljoscha folgte Kolja ins Zimmer. Kolja stand schon an Iljuschas Bett. Iljuscha hielt seine Hand und rief nach dem Vater. Kurz darauf kehrte auch der Stabskapitän zurück.

»Papa, Papa, komm … Wir …«, stammelte Iljuscha in höchster Erregung; da er aber offenbar nicht imstande war fortzufahren, streckte er plötzlich seine mageren Ärmchen aus und umschlang Kolja und seinen Vater, so fest er nur konnte, und schmiegte sich an sie.

Der Stabskapitän bebte plötzlich von stummem Schluchzen, und auch Koljas Lippen und Kinn zuckten.

»Papa, Papa! Wie leid du mir tust, Papa!« stöhnte Iljuscha traurig.

»Iljuschetschka … Täubchen … Der Doktor hat gesagt, du wirst gesund … Wir werden glücklich sein … Der Doktor …

stammelte der Stabskapitän.

»Ach, Papa! Ich weiß doch, was der neue Doktor über mich gesagt hat … Ich habe es ja gesehen!« rief Iljuscha, drückte sie wieder beide an sich und verbarg das Gesicht an der Schulter seines Vaters. »Papa, weine nicht … Und wenn ich gestorben bin, nimm dir einen guten Jungen, einen anderen … Such dir selbst einen aus, nenn ihn Iljuscha und hab ihn an meiner Statt lieb …«

»Sei still, Alter! Du wirst wieder gesund!« rief Krassotkin und tat, als ob er böse würde.

»Aber du darfst mich nicht vergessen, Papa, niemals!« fuhr Iljuscha fort. »Komm an mein Grab! Weißt du was, Papa? Begrabt mich an unserem großen Stein, zu dem wir beide so oft spazierengegangen sind, und komm dann mit Krassotkin zu mir, am Abend … Auch mit Pereswon … Ich werde euch erwarten … Papa, Papa!«

Die Stimme versagte ihm; alle drei hielten sich umarmt und schwiegen. Auch Ninotschka weinte still in ihrem Lehnstuhl, und auch die Mama brach plötzlich in Tränen aus, als sie alle weinen sah.

»Iljuschetschka Iljuschetschka!« rief sie.

Krassotkin machte sich auf einmal aus Iljuschas Armen los.

»Lebe wohl, Alter! Meine Mutter erwartet mich zum Mittagessen«, sagte er hastig. »Schade, daß ich sie nicht vorher benachrichtigt habe! Sie wird sich sehr beunruhigen … Aber nach dem Mittagessen komme ich gleich wieder zu dir, den ganzen Tag! Ich werde dir so viel erzählen! Auch Pereswon werde ich mitbringen, aber jetzt muß ich ihn mitnehmen, denn er würde in meiner Abwesenheit zu heulen anfangen und dich stören! Auf Wiedersehen!«

Er lief auf den Flur hinaus. Er hatte nicht weinen wollen, aber auf dem Flur brach er doch in Tränen aus. In diesem Zustand fand ihn Aljoscha.

»Kolja, Sie müssen unbedingt Wort halten und wiederkommen, sonst wird er furchtbar traurig sein«, sagte Aljoscha eindringlich.

»Unbedingt! Oh, wie ich mich selbst verfluche, daß ich nicht früher gekommen bin!« murmelte Kolja, ohne sich seiner Tränen zu schämen.

In diesem Augenblick kam der Stabskapitän aus dem Zimmer gestürzt und machte die Tür hinter sich zu. Sein Gesicht war verzerrt, die Lippen zuckten. Er blieb vor den beiden stehen und warf die Arme in die Höhe. »Ich will keinen anderen guten Jungen!« flüsterte er gepreßt. »Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde …«

Er sprach nicht zu Ende und sank kraftlos vor einer hölzernen Bank auf die Knie. Mit beiden Fäusten seinen Kopf pressend, begann er zu schluchzen und absonderlich zu kreischen, versuchte sich jedoch mit aller Gewalt zu beherrschen, damit sein Kreischen in der Stube nicht zu hören war. Kolja lief auf die Straße hinaus.

»Leben Sie wohl, Karamasow! Kommen Sie auch wieder?« rief er Aljoscha in scharfem Ton zu.

»Am Abend bin ich unter allen Umständen wieder hier.«

»Was hat er da von Jerusalem gesagt? Was bedeutet das?«

»Das ist aus der Bibel. ‚Vergesse ich dein, Jerusalem‘ — das bedeutet: Wenn ich vergesse, was mir das Allerteuerste ist, es für etwas anderes hingebe, dann soll mich der Blitz treffen.«

»Ich verstehe … Daß Sie aber auch wiederkommen! Ici, Pereswon!« schrie er dem Hund beinahe wütend zu und ging mit großen, schnellen Schritten nach Hause.