6. Der Staatsanwalt fängt Mitja
Es begann ein Vorgang, der für Mitja gänzlich unerwartet und erstaunlich war. Er hätte auch nur eine Minute vorher nicht geglaubt, daß jemand mit ihm, Mitja Karamasow, so umgehen könnte! Vor allem lag darin für ihn etwas Demütigendes, während auf ihrer Seite »ein gewisser Hochmut und eine Verachtung seiner Person« zutage trat. Es wäre noch zu ertragen gewesen; hätte er nur den Rock auszuziehen brauchen; aber man bat ihn, sich noch weiter zu entkleiden. Oder eigentlich bat man ihn gar nicht, sondern befahl es ihm geradezu, er merkte das sehr wohl. Aus Stolz und Verachtung fügte er sich, ohne ein Wort dagegen zu sagen. Hinter den Vorhang trat außer Nikolai Parfjonowitsch auch der Staatsanwalt; auch einige Bauern waren anwesend. ‚Natürlich um mich notfalls zwingen zu können‘, dachte Mitja. ‚Vielleicht auch zu irgendeinem anderen Zweck.‘
»Wie ist es? Soll ich auch das Hemd ausziehen?« fragte er in scharfem Ton. Nikolai Parfjonowitsch gab jedoch keine Antwort; er hatte sich zusammen mit dem Staatsanwalt in Rock Hose, Weste und Mütze vertieft, und es war offenbar, daß sich beide sehr für die Visitation interessierten. ‚Diese Menschen machen nicht die geringsten Umstände!‘ ging es Mitja durch den Kopf. ‚Sie beachten nicht einmal die notwendigen Höflichkeitsregeln.‘
»Ich frage Sie zum zweiten Male, ob ich auch das Hemd ausziehen soll«, sagte er noch schärfer und gereizter.
»Seien Sie unbesorgt, wir werden es Ihnen schon sagen!« antwortete Nikolai Parfjonowitsch in dienstlichem Ton; zumindest schien es Mitja so.
Unterdessen fand zwischen dem Untersuchungsrichter und dem Staatsanwalt halblaut eine eifrige Beratung statt. Am Rock, besonders am linken Schoß, hinten, zeigten sich gewaltige Blutflecke, die getrocknet, verhärtet und noch nicht wieder biegsam geworden waren. Dasselbe traf für die Hose zu, Nikolai Parfjonowitsch fuhr außerdem eigenhändig in Gegenwart der Zeugen mit den Fingern über den Kragen und die Aufschläge des Rockes sowie über alle Nähte des Rockes und der Hose; er schien etwas zu suchen, höchstwahrscheinlich Geld. Was das Schlimmste war: sie machten vor Mitja kein Hehl aus dem Verdacht, daß er fähig gewesen wäre, Geld in seine Kleider einzunähen! »Die behandeln mich ja geradezu wie einen Dieb und nicht wie einen Offizier!« murmelte er vor sich hin. Sie teilten sich gegenseitig ihre Gedanken vor seinen Ohren mit seltsamer Offenheit mit. So lenkte zum Beispiel der Protokollführer, der sich ebenfalls geschäftig machte und zuhörte, Nikolai Parfjonowitschs Aufmerksamkeit auf die Mütze, die dann ebenfalls befühlt wurde. »Denken Sie an den Schreiber Gridenko!« bemerkte der Protokollführer. »Der war im Sommer zur Kasse gefahren, um das Gehalt für die ganze Kanzlei in Empfang zu nehmen, und als er zurückkam, erklärte er, er hätte es in betrunkenem Zustand verloren — und wo fand man es? In der Mütze! Die Hundertrubelscheine waren zu kleinen Röhrchen zusammengerollt und in den Mützenrand eingenäht.« An die Geschichte mit Gridenko erinnerten sich auch der Untersuchungsrichter und der Staatsanwalt sehr genau, und deshalb legten sie Mitjas Mütze beiseite und beschlossen, sie später gründlich zu visitieren, ebenso den ganzen Anzug.
»Erlauben Sie«, rief Nikolai Parfjonowitsch auf einmal, als er die blutbefleckte Manschette an Mitjas rechtem Hemdsärmel bemerkte. »Erlauben Sie, was ist denn das? Ist das Blut?«
»Ja, Blut«, antwortete Mitja kurz.
»Wie kommt denn das? Und warum ist die Manschette nach innen umgeschlagen?«
Mitja erzählte, daß die Manschette blutig geworden war, als er sich mit Grigori abgegeben hatte, und daß er sie schon bei Perchotin beim Waschen nach innen umgeschlagen hatte.
»Ihr Hemd müssen wir ebenfalls nehmen. Das ist sehr wichtig, als sachliches Beweisstück.« Mitja errötete und wurde wütend.
»Soll ich etwa nackt bleiben?« rief er.
»Seien Sie unbesorgt, wir werden das schon irgendwie in Ordnung bringen. Zunächst aber haben Sie die Güte, auch die Strümpfe auszuziehen.«
»Machen, Sie Witze? Ist das wirklich notwendig?« rief Mitja mit zornfunkelnden Augen.
»Wir sind nicht zu Witzen aufgelegt!« erwiderte Nikolai Parfjonowitsch streng.
»Na gut, wenn es nötig ist, dann …«, murmelte Mitja, setzte sich aufs Bett und begann sich die Strümpfe auszuziehen. Er war in unerträglicher Verlegenheit. Alle waren angekleidet, nur er nicht, und seltsam: Jetzt, wo er entkleidet war, fühlte er sich gewissermaßen selbst vor allen schuldig und gestand sich vor allem beinahe selbst ein, daß er auf einmal wirklich geringer war als die anderen und daß diese jetzt das volle Recht hatten, ihn zu verachten. ‚Wenn alle nackt sind, braucht man sich nicht zu schämen, doch wenn man als einziger nackt ist und alle einen anstarren, ist das eine Schande!‘ ging es ihm immer wieder durch den Kopf. ‚Es ist so wie im Traum; ich habe im Traum manchmal solche Schande durchgemacht‘ Aber jetzt die Strümpfe auszuziehen, das war ihm geradezu peinlich. Sie waren sehr unsauber, und sein Unterzeug ebenso, und nun sahen das alle. Die Hauptsache aber war, er mochte selbst seine Füße nicht leiden. Er hatte sein Leben lang seine beiden großen Zehen unförmig gefunden, besonders den plumpen, platten, nach unten gekrümmten Nagel am rechten Fuß — und nun sahen das alle! Vor unerträglicher Scham wurde er noch gröber als vorher und kehrte dies absichtlich heraus. Er riß sich selbst das Hemd ab.
»Wollen Sie nicht noch wo nachsuchen, wenn Sie sich nicht schämen?«
»Nein, vorläufig ist es nicht erforderlich.«
»Soll ich denn nackt bleiben?« fügte er wütend hinzu.
»Ja, das ist vorläufig notwendig … Haben Sie die Güte, sich einstweilen hier hinzusetzen. Sie können ja die Bettdecke nehmen und sich darin einhüllen. Ich werde dies alles zunächst mitnehmen.«
Alle Gegenstände wurden den Zeugen gezeigt, und es wurde ein Protokoll über die Visitation aufgenommen. Schließlich ging Nikolai Parfjonowitsch hinaus; die Kleider wurden ihm nachgetragen. Ippolit Kirillowitsch ging ebenfalls hinaus. Bei Mitja blieben nur die Bauern zurück; sie standen schweigend da, ohne die Augen von ihm zu lassen.
Mitja hüllte sich in die Bettdecke, er fror. Seine nackten Beine ragten heraus, er konnte die Decke beim besten Willen nicht so um sich schlagen, daß sie bedeckt wurden. Nikolai Parfjonowitsch blieb lange fort. ‚Eine wahre Folter, dieses lange Warten, er behandelt mich wie einen Hund!‘ dachte Mitja zähneknirschend. ‚Dieser Jammerkerl von Staatsanwalt ist auch weggegangen, sicher aus Verachtung; es wird ihm widerwärtig geworden sein, einen nackten Menschen zu sehen.‘ Mitja vermutete freilich, daß seine Kleider nur irgendwo visitiert würden und daß man sie ihm dann zurückbringen würde. Aber wie groß war seine Entrüstung, als Nikolai Parfjonowitsch auf einmal mit ganz anderen Sachen zurückkehrte, die ihm ein Bauer hinterhertrug.
»So, da haben Sie etwas zum Anziehen!« sagte er ungeniert; er schien mit dem Erfolg der Aktion sehr zufrieden. »Diese Kleider opfert Herr Kalganow für diesen interessanten Fall, dazu auch ein reines Hemd. Er hatte das zum Glück alles in
seinem Koffer mit. Ihr Unterzeug und Ihre Strümpfe können Sie behalten.«
Mitja brauste auf.
»Ich will keine fremden Kleider!« schrie er drohend. »Geben Sie mir meine!«
»Das ist unmöglich!«
»Geben Sie mir meine! Hol' der Teufel Kalganow mitsamt seinen Kleidern!«
Man redete ihm lange zu, und schließlich beruhigte er sich ein wenig. Man erklärte ihm, daß seine blutbefleckten Kleider in die Sammlung der Beweisstücke aufgenommen werden müßten; man sei nicht berechtigt, sie ihm zu belassen — in Anbetracht des möglichen Ausganges, den die Sache nehmen könnte. Mitja begriff einigermaßen. Er verstummte und begann, sich mit finsterer Miene anzukleiden. Er äußerte dabei nur, dieser Anzug sei wertvoller als sein alter, und er habe keine Lust zu »profitieren«; außerdem sei er entsetzlich eng. »Soll ich darin etwa zu Ihrem Vergnügen den Hanswurst spielen?« Man setzte ihm erneut auseinander, daß er wiederum übertreibe. Herr Kalganow sei nur wenig größer als er, höchstens die Beinkleider seien ein bißchen lang. Der Rock war allerdings tatsächlich etwas eng in den Schultern.
»Zum Teufel, er läßt sich ja kaum zuknöpfen«, brummte Mitja. »Tun Sie mir den Gefallen und bestellen Sie Herrn Kalganow von mir, daß nicht etwa ich um seinen Anzug gebeten habe, sondern daß ich wider meinen Willen als Hanswurst kostümiert worden bin.«
»Er sieht das durchaus ein, mit Bedauern … Das heißt, das Bedauern bezieht sich nicht auf seinen Anzug, sondern mehr auf diese ganze Lage«, erwiderte Nikolai Parfjonowitsch mit eigenartigen Kaubewegungen.
»Ich spucke auf sein Bedauern! Na und, wo soll ich jetzt hingehen? Oder soll ich hier ewig sitzen?«
Man ersuchte ihn, wieder in ‚jenes Zimmer‘ zu gehen. Mitja trat hinter dem Vorhang hervor, grau vor Wut und bemüht, niemand anzusehen. In dem fremden Anzug fühlte er sich entehrt, sogar diesen Bauern und Trifon Borissowitsch gegenüber, dessen Gesicht plötzlich aus irgendeinem Grund in der Tür auftauchte und wieder verschwand. ‚Er hat mich in meinem neuen Kostüm beglotzen wollen!‘ dachte Mitja. Er setzte sich auf seinen früheren Stuhl; dabei hatte er das Gefühl, als bedrücke ihn ein sinnloser Traum: Er glaubte, seinen Verstand verloren zu haben.
»Na, was haben Sie nun vor? Wollen Sie mich auspeitschen lassen, wie? Weiter bleibt ja wohl nichts mehr«, sagte er zähneknirschend, zum Staatsanwalt gewandt.
An Nikolai Parfjonowitsch mochte er sich gar nicht mehr wenden, so als hielte er ihn nicht mehr für wert, daß er mit ihm sprach. ‚Pedantisch genau hat er meine Strümpfe betrachtet, er hat sie sogar umdrehen lassen, der Schuft! Das hat er absichtlich getan, damit alle sehen, was ich für schmutzige Wäsche trage!‘
»So, und jetzt werden wir zur Vernehmung der Zeugen übergehen müssen«, sagte Nikolai Parfjonowitsch gewissermaßen als Antwort auf Dmitri Fjodorowitschs Frage.
»Ja«, erwiderte der Staatsanwalt nachdenklich.
»Wir haben alles getan, was wir in Ihrem Interesse tun konnten, Dmitri Fjodorowitsch«, fuhr Nikolai Parfjonowitsch fort. »Aber da Sie sich so entschieden geweigert haben, uns die Herkunft der bei Ihnen vorgefundenen Geldsumme zu erklären, können wir in diesem Augenblick …«
»Was haben Sie da für einen Stein im Ring?« unterbrach ihn Mitja, als tauchte er aus tiefer Nachdenklichkeit empor, und zeigte mit dem Finger auf einen der drei großen Ringe, die Nikolai Parfjonowitschs rechte Hand schmückten.
»Was das für ein Stein ist?« fragte Nikolai Parfjonowitsch erstaunt zurück.
»Ja, der da … Am Mittelfinger, der mit den Äderchen, was ist das für ein Stein?« fragte Mitja hartnäckig und gereizt wie ein eigensinniges Kind.
»Das ist ein Rauchtopas«, erwiderte Nikolai Parfjonowitsch lächelnd. »Wenn Sie ihn ansehen wollen, kann ich ihn vom Finger ziehen …«
»Nein, nein, ziehen Sie ihn nicht vom Finger!« schrie Mitja wütend, der sich auf einmal wieder besann und über sich selbst ärgerte. »Ziehen Sie ihn nicht vom Finger, nicht nötig, zum Teufel … Meine Herren, Sie haben meine Seele besudelt! Glauben Sie wirklich, ich würde es Ihnen verheimlichen, wenn ich meinen Vater tatsächlich totgeschlagen hätte. Ich würde Winkelzüge machen, lügen, mich verstecken? O nein, das liegt nicht in Dmitri Karamasows Wesen, das würde er nicht fertigbringen. Und wenn ich schuldig wäre, dann hätte ich, das schwöre ich Ihnen, nicht bis zu Ihrer Ankunft und nicht bis zum Sonnenaufgang gewartet, wie ich das ursprünglich beabsichtigt hatte, sondern hätte schon früher ein Ende gemacht, ohne den Tagesanbruch abzuwarten! Das sagt mir mein innerstes Gefühl. Ich hätte in zwanzig Jahren meines Lebens nicht so viel lernen können wie in dieser einen verfluchten Nacht! Und wäre ich in dieser Nacht so ein Mensch gewesen, würde ich jetzt, da ich mit Ihnen zusammensitze, so ein Mensch sein, würde ich so reden und mich so benehmen, wenn ich wirklich ein Vatermörder wäre — wo mir doch schon der unbeabsichtigte Totschlag Grigoris die ganze Nacht keine Ruhe gelassen hat, nicht aus Angst, o nein, nicht aus Furcht vor Ihrer Strafe! Nein, die
Schandtat an sich hat mich so erregt! Und da wollen Sie, daß ich solchen Spöttern wie Ihnen, solchen blinden Maulwürfen und Spöttern, die nichts sehen und nichts glauben, noch eine neue Gemeinheit von mir erzählen soll, noch eine neue schmähliche Tat? Nein, und selbst wenn mich das vor Ihrer Anklage retten würde! Lieber will ich zur Zwangsarbeit! Derjenige, der diese Tür aufgemacht hat und durch sie hineingegangen ist, der hat ihn auch ermordet und beraubt. Wer es ist? Da stehe ich vor einem quälenden Rätsel — aber Dmitri Karamasow ist es nicht gewesen, das sollen Sie wissen! Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann! Und nun lassen Sie es genug sein, setzen Sie mir nicht länger zu! Schicken Sie mich nach Sibirien, richten Sie mich hin, bloß reizen Sie mich nicht länger! Ich werde nichts mehr sagen. Rufen Sie Ihre Zeugen!«
Mitja hatte seinen überraschenden Monolog so vorgetragen, als sei er schon fest entschlossen, von nun an konsequent zu schweigen. Der Staatsanwalt hatte ihn die ganze Zeit beobachtet und sagte dann mit der kühlsten und ruhigsten Miene, als handelte es sich um die gewöhnlichste Sache der Welt: »Apropos, hinsichtlich dieser offenstehenden Tür, die Sie soeben erwähnten, können wir Ihnen jetzt von einer interessanten, für Sie wie für uns höchst wichtigen Aussage des alten Grigori Wassiljewitsch berichten. Nachdem er wieder zur Besinnung gekommen war, hat er uns auf unsere Fragen mit aller Bestimmtheit erwidert, daß er zu der Zeit, als er vor die Haustür trat und im Garten ein Geräusch hörte, weshalb er sich entschloß, in den Garten zu gehen, daß er beim Eintritt in den Garten, noch bevor er Sie in der Dunkelheit laufen sah, einen Blick nach links geworfen und tatsächlich das geöffnete Fenster bemerkt habe, zugleich aber auch in weit geringerer Entfernung die offenstehende Tür. Jene Tür, von der Sie erklärt haben, sie sei die ganze Zeit, während Sie im Garten waren, geschlossen gewesen! Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß Grigori Wassiljewitsch selbst mit Bestimmtheit den Schluß zieht, Sie müßten durch die Tür gelaufen sein, obgleich er das natürlich nicht mit eigenen Augen gesehen hat, da Sie sich ja schon in einiger Entfernung befanden und auf den Zaun zuliefen, als er sie zuerst bemerkte.«
Mitja war schon während dieser Rede vom Stuhl aufgesprungen. »Unsinn!« brüllte er plötzlich empört. »Eine freche Lüge! Er konnte die Tür gar nicht offen sehen, weil sie geschlossen war! Er lügt!«
»Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen zu wiederholen, daß seine Aussage sehr bestimmt war. Er schwankte nicht. Er blieb dabei, wir haben ihn mehrere Male gefragt.«
»Gewiß, ich habe ihn mehrere Male gefragt!« bestätigte auch Nikolai Parfjonowitsch eifrig.
»Eine Lüge, eine Lüge! Das ist entweder eine Verleumdung oder die Halluzination eines Irren!« schrie Mitja weiter. »Es ist ihm einfach im Fieber, infolge des Blutverlustes, so vorgekommen! Und da redet er nun diesen Unsinn!«
»Ja, aber er hat doch die offenstehende Tür nicht erst bemerkt, als er wieder zu sich kam, sondern schon vorher, als er aus dem Seitengebäude in den Garten ging.«
»Das ist eine Lüge, das ist unmöglich! Er verleumdet mich, weil er wütend auf mich ist … Er konnte es nicht sehen … Ich bin nicht durch die Tür gelaufen«, sagte Mitja und rang mühsam nach Atem.
Der Staatsanwalt wandte sich an Nikolai Parfjonowitsch und sagte mit besonderem Nachdruck zu ihm: »Zeigen Sie es!«
»Kennen Sie diesen Gegenstand?« fragte Nikolai Parfjonowitsch, wobei er ein großes Kuvert auf den Tisch legte; aus dickem Papier im Kanzleiformat, mit drei noch wohlerhaltenen Siegeln. Das Kuvert selbst war leer und auf der einen Seite aufgerissen; Mitja starrte es mit weitgeöffneten Augen an.
»Das … muß das Kuvert des Vaters sein«, murmelte er. »Das, in dem die dreitausend Rubel lagen … Und dann die Aufschrift, erlauben Sie: ‚Für mein liebes Küken‘ … Und da: ‚Dreitausend‘!« rief er. »‚Dreitausend‘, sehen Sie?«
»Gewiß, wir sehen es, das Geld aber haben wir nicht mehr darin gefunden, das Kuvert war leer und lag auf dem Fußboden am Bett, hinter dem Wandschirm.«
Einige Sekunden stand Mitja wie betäubt da.
»Meine Herren, das ist Smerdjakow gewesen!« schrie er auf einmal aus voller Kehle. »Der hat ihn ermordet, der hat ihn beraubt! Er allein wußte, wo der Alte das Kuvert versteckt hatte … Er ist es gewesen, jetzt ist es klar!«
»Aber Sie wußten ja auch, daß das Kuvert unter dem Kopfkissen lag.«
»Niemals habe ich das gewußt, ich habe es überhaupt nie gesehen, ich erblicke es jetzt zum erstenmal, vorher habe ich nur von Smerdjakow etwas darüber gehört … Er allein wußte, wo der Alte es versteckt hatte, ich wußte es nicht …
Mitja war ganz außer Atem gekommen.
»Und doch haben Sie selbst uns vorhin gesagt, das Kuvert hätte bei Ihrem verstorbenen Vater unter dem Kopfkissen gelegen. Sie sagten ausdrücklich: ‚unter dem Kopfkissen‘ — also wußten Sie doch, wo es lag.«
»Wir haben es so auch festgehalten«, fügte Nikolai Parfjonowitsch bestätigend hinzu.
»Unsinn, reiner Unsinn! Ich wußte absolut nicht, daß es unter dem Kopfkissen lag. Und vielleicht hat es überhaupt nicht unter dem Kopfkissen gelegen … Ich habe aufs Geratewohl gesagt, es hätte unter dem Kopfkissen gelegen … Was sagt denn Smerdjakow? Haben Sie ihn gefragt, wo es gelegen hat? Was sagt Smerdjakow? Das ist die Hauptsache … Ich habe absichtlich gelogen, zu meinem Schaden … Ich habe Ihnen, ohne viel nachzudenken, vorgelogen, es hätte unter dem Kopfkissen gelegen, und das glauben Sie jetzt … Na, wissen Sie, da kommt einem so ein Wort auf die Zunge, man lügt. Aber gewußt hat es nur Smerdjakow, sonst niemand! Er hat auch mir nicht gesagt, wo es lag! Er ist es gewesen, er muß ihn totgeschlagen haben, hundertprozentig, das ist mir jetzt sonnenklar!« rief Mitja. Er geriet mehr und mehr außer sich, wiederholte sich, redete unzusammenhängend und hastig. »Begreifen Sie das doch, und verhaften Sie ihn so schnell wie möglich! Er hat ihn ermordet, als ich weglief und Grigori bewußtlos dalag, das ist jetzt klar … Er hat das Signal gegeben, und der Vater hat ihm aufgemacht … Denn er war auch der einzige, der die Signale kannte, und ohne die Signale hätte der Vater niemandem geöffnet …«
»Aber Sie vergessen wieder den Umstand«, bemerkte der Staatsanwalt, noch immer in der gleichen gemessenen Weise, nun jedoch schon fast triumphierend, »daß es nicht nötig war, Signale zu geben, wenn die Tür offenstand, schon als Sie sich im Garten befanden … »
»Die Tür, die Tür!« murmelte Mitja und starrte den Staatsanwalt schweigend an; dann sank er kraftlos auf den Stuhl zurück.
Alle schwiegen.
»Ja, die Tür! Das ist ein Phantom! Gott ist gegen mich!« rief er und blickte geistesabwesend vor sich hin.
»Sehen Sie und urteilen Sie selbst, Dmitri Fjodorowitsch«, sagte der Staatsanwalt in gewichtigem Ton. »Auf der einen Seite diese Aussage von der offenstehenden Tür, durch die Sie angeblich herausgelaufen sein sollen — eine Aussage, die Sie wie uns befremdet. Auf der anderen Seite Ihr unbegreifliches, hartnäckiges und beinahe erbittertes Schweigen über die Herkunft des Geldes, das plötzlich in Ihren Händen war, während Sie nach Ihrer eigenen Aussage noch drei Stunden vorher Ihre Pistolen versetzten, um nur zehn Rubel zu bekommen! Entscheiden Sie in Anbetracht aller dieser Umstände bitte selbst: Was sollen wir glauben, worauf sollen wir uns verlassen? Und machen Sie uns bitte keine Vorwürfe, wir seien kalte Zyniker und Spötter, außerstande, Ihren edelsten Herzensregungen zu glauben … Versetzen Sie sich vielmehr auch in unsere Lage …«
Mitja befand sich in unbeschreiblicher Erregung; er war ganz blaß geworden.
»Nun gut!« rief er plötzlich. »Ich werde Ihnen mein Geheimnis enthüllen! Ich werde Ihnen gestehen, wo ich das Geld herhatte, damit ich später weder Ihnen noch mir einen Vorwurf zu machen brauche.«
»Und Sie dürfen glauben, Dmitri Fjodorowitsch«, fiel Nikolai Parfjonowitsch mit gerührter und erfreuter Stimme ein, »daß Ihnen jedes aufrichtige, umfassende Geständnis, das Sie jetzt machen, Ihr Schicksal später außerordentlich erleichtern kann und daß außerdem …«
Doch da stieß ihn der Staatsanwalt leise unter dem Tisch an und konnte ihn noch rechtzeitig unterbrechen; Mitja allerdings hatte überhaupt nicht gehört, was eben gesagt worden war.