3. Die Wanderung einer Seele durch die Leiden
Das erste Leid
Mitja saß also da und ließ seinen verstörten Blick bei allen Anwesenden herumirren, ohne zu begreifen, was zu ihm gesagt wurde. Plötzlich stand er auf, reckte die Arme in die Höhe und rief laut: »Ich bin unschuldig! An diesem Blut bin ich unschuldig! Am Blut meines Vaters bin ich unschuldig … Ich wollte ihn töten, aber ich bin unschuldig, ich habe es nicht getan!« Kaum hatte er das gerufen, stürzte Gruschenka hinter dem Vorhang hervor und warf sich wie von Sinnen dem Bezirkshauptmann zu Füßen.
»Ich bin schuld, ich Verfluchte!« schrie sie mit herzzerreißender Stimme, das Gesicht tränenüberströmt. »Meinetwegen hat er den Mord begangen! Ich habe ihn gequält und soweit gebracht. Und auch den armen ermordeten Alten habe ich aus Bosheit gequält und dahin gebracht. Ich bin schuld, ich zuallererst, ich bin schuld!«
»Jawohl, du bist die Schuldige! Du bist die Hauptverbrecherin! Du verdammtes, liederliches Frauenzimmer, du bist die Hauptschuldige!« brüllte der Bezirkshauptmann und drohte ihr mit der Faust.
Aber man brachte ihn schnell und mit aller Entschiedenheit zur Ruhe. Der Staatsanwalt umfaßte ihn sogar mit den Armen. »Das ist eine ganz unzulässige Verfahrensweise, Michail Makarowitsch!« rief er. »Sie stören geradezu die Untersuchung … Sie verderben die ganze Sache …« Er konnte kaum atmen.
»Dagegen müssen Maßnahmen ergriffen werden, dagegen müssen Maßnahmen ergriffen werden!« brauste auch Nikolai Parfjonowitsch auf. »Sonst ist positiv nichts möglich!«
»Richten Sie uns beide gemeinsam!« rief Gruschenka außer sich; sie lag noch immer auf den Knien. »Bestrafen Sie uns beide gemeinsam! Ich werde mit ihm gehen, wenn es sein muß, selbst bis aufs Schafott!«
»Gruscha, du mein Leben, mein Blut, mein Heiligstes!« rief Mitja, warf sich neben sie auf die Knie und umarmte sie fest. »Glauben Sie ihr nicht!« schrie er. »Sie trägt keine Schuld, weder an diesem Blut noch an sonst etwas!«
Er erinnerte sich später, daß ihn mehrere Männer mit Gewalt von ihr weggezogen hatten, daß man sie hinausgeführt hatte und er erst wieder zur Besinnung gekommen war, als er schon am Tisch saß. Neben und hinter ihm standen Männer mit Blechabzeichen. Ihm gegenüber auf dem Sofa, an der anderen Seite des Tisches, saß der Untersuchungsrichter Nikolai Parfjonowitsch und redete ihm zu, aus dem Glas auf dem Tisch etwas Wasser zu trinken. »Das wird Sie erfrischen, das wird Sie beruhigen! Fürchten Sie sich nicht, beunruhigen Sie sich nicht!« fügte er überaus höflich hinzu. Mitja erinnerte sich auch, daß er sich plötzlich für die großen Ringe des Untersuchungsrichters interessiert hatte; an dem einen war ein Amethyst, an dem anderen ein hellgrauer, durchsichtiger, sehr schön glänzender Stein. Und noch lange nachher erinnerte er sich mit Erstaunen, wie diese Ringe sogar während der furchtbaren Stunden des Verhörs seinen Blick unwiderstehlich angezogen hatten, so daß er außerstande war, sich von ihnen loszureißen … Links, seitwärts, auf dem Platz, wo zu Beginn des Abends Maximow gesessen hatte, saß jetzt der Staatsanwalt, und rechts von Mitja, auf Gruschenkas Platz, hatte sich ein rotbackiger junger Mann in einer abgetragenen Jagdjoppe niedergelassen, vor sich Tintenfaß und Schreibpapier. Es stellte sich heraus, daß das der Protokollführer des Untersuchungsrichters war, den dieser mitgebracht hatte. Der Bezirkshauptmann schließlich stand jetzt am Fenster, am anderen Ende des Zimmers, neben Kalganow, der sich dort ebenfalls auf einen Stuhl gesetzt hatte.
»Trinken Sie etwas Wasser!« wiederholte der Untersuchungsrichter, zum zehntenmal.
»Ich habe getrunken, meine Herren, ich habe getrunken … Aber … Nun gut, meine Herren, entscheiden Sie mein Schicksal, zerquetschen Sie mich, richten Sie mich!« rief Mitja und starrte den Untersuchungsrichter mit weitgeöffneten Augen an.
»Sie behaupten also entschieden, daß Sie am Tode Ihres Vaters Fjodor Pawlowitsch unschuldig sind?« fragte der Untersuchungsrichter sanft, aber energisch.
»Ja, ich bin daran unschuldig. Schuld bin ich an anderem Blut, am Blut eines anderen alten Mannes, aber nicht an dem meines Vaters. Und ich beweine meine Tat! Ich habe einen alten Mann totgeschlagen … Totgeschlagen und zu Boden gestreckt … Und es ist entsetzlich, daß ich nicht für dieses Blut, sondern für anderes Blut einstehen soll, an dem ich unschuldig bin … Das ist eine furchtbare Beschuldigung, meine Herren! Sie haben mich wie mit einem Keulenschlag vor die Stirn betäubt! Aber wer hat denn meinen Vater ermordet, wer hat es getan? Wer anders konnte ihn ermorden als ich? Da liegt ein Wunder vor, etwas Unbegreifliches, Unmögliches!«
»Ja, das ist es eben — wer anders konnte ihn ermorden … begann der Untersuchungsrichter, doch der Staatsanwalt Ippolit Kirillowitsch — er war eigentlich Gehilfe des Staatsanwalts, aber wir werden ihn der Kürze halber Staatsanwalt nennen — sagte zu Mitja, nachdem er mit dem Untersuchungsrichter einen Blick gewechselt hatte: »Sie beunruhigen sich ohne Grund wegen des alten Dieners Grigori Wassiljewitsch. Er lebt, ist wieder zu sich gekommen und scheint trotz der schweren Verletzung, die Sie ihm, nach seiner und nach Ihrer jetzigen Aussage beigebracht haben, am Leben zu bleiben, zumindest nach dem Urteil des Arztes.«
»Er lebt? Also er lebt?« rief Mitja und schlug die Hände zusammen. Sein ganzes Gesicht strahlte. »O Herr, ich danke dir für dieses große Wunder, das du auf mein Gebet hin für mich Sünder und Übeltäter getan hast! Ja, ja, das ist auf mein Gebet hin geschehen, ich habe die ganze Nacht darum gebetet!« Und er schlug dreimal ein Kreuz; dabei rang er mühsam nach Atem.
»Sehen Sie, und von diesem Grigori haben wir so bedeutsame Aussagen hinsichtlich, Ihrer Person erhalten, daß wir …«, fuhr der Staatsanwalt fort.
Mitja sprang plötzlich von seinem Stuhl auf.
»Einen Augenblick, meine Herren! Um Gottes willen, nur einen Augenblick! Ich will zu ihr …«
»Erlauben Sie! Jetzt geht das überhaupt nicht!« rief Nikolai Parfjonowitsch mit sich überschlagender Stimme. Die Männer mit den Blechabzeichen an der Brust hielten Mitja fest; übrigens setzte er sich auch von selbst wieder.
»Meine Herren, wie schade! Ich wollte nur einen Augenblick zu ihr … Ich wollte ihr mitteilen, daß dieses Blut, das die ganze Nacht mein Herz gemartert hat, weggewaschen, verschwunden ist, daß ich kein Mörder mehr bin! Meine Herren, sie ist doch meine Braut!« sagte er entzückt und andächtig und ließ seine Augen von einem zum anderen wandern. »Oh, ich danke Ihnen, meine Herren! Oh, Sie haben mir im Augenblick ein neues Leben geschenkt! Dieser alte Mann hat mich auf seinen Armen getragen, meine Herrn, er hat mich im Waschtrog gebadet, als sich sonst niemand um mich, ein dreijähriges Kind, kümmerte, er ist mir ein Vater gewesen!«
»Also Sie …«, begann der Untersuchungsrichter.
»Erlauben Sie, meine Herren, erlauben Sie noch einen kleinen Augenblick«, unterbrach ihn Mitja, stellte beide Ellenbogen auf den Tisch und bedeckte das Gesicht mit den Händen. »Gestatten Sie, daß ich noch ein wenig meine Gedanken sammle. Gestatten Sie mir, daß ich noch ein wenig zu mir komme, meine Herren! Das alles erschüttert einen ja furchtbar! Ein Mensch ist doch schließlich kein Trommelfell, meine Herren!«
»Sie sollten wieder ein bißchen Wasser …«, sagte Nikolai Parfjonowitsch liebenswürdig.
Mitja nahm die Hände vom Gesicht und lachte laut auf. Sein Blick war kühn und munter, der ganze Mensch schien urplötzlich verwandelt. Auch sein Ton war ein anderer geworden: Da saß nun wieder ein Mensch, der diesen Leuten, seinen früheren Bekannten, gleichgestellt war, so als wenn sie gestern, als noch nichts geschehen war, irgendwo in Gesellschaft zusammengekommen wären. Wir wollen bei dieser Gelegenheit vermerken, daß Mitja bei dem Bezirkshauptmann in der ersten Zeit sehr freundlich aufgenommen worden war, ihn jedoch später, besonders im letzten Monat, fast gar nicht mehr besucht hatte; der Bezirkshauptmann hatte von da an, wenn er ihm auf der Straße begegnete, ein finsteres Gesicht gemacht und seinen Gruß nur aus Höflichkeit erwidert, was Mitja nicht entgangen war. Mit dem Staatsanwalt war er noch oberflächlicher bekannt. Zwar hatte er seiner Gattin, einer nervösen, überspannten Dame, manchmal Besuche gemacht, jedoch nur solche von respektvollster Art, ohne selbst recht zu wissen, warum er eigentlich zu ihr ging; sie hatte ihn immer freundlich empfangen und sich aus irgendwelchem Grund bis zuletzt lebhaft für ihn interessiert. Mit dem Untersuchungsrichter bekannt zu werden, hatte er noch keine Gelegenheit gehabt; allerdings war er auch mit ihm schon in Gesellschaft zusammengekommen und hatte sich ein- oder zweimal mit ihm unterhalten, beide Male über das weibliche Geschlecht.
»Sie sind, wie ich sehe, ein außerordentlich geschickter Untersuchungsrichter, Nikolai Parfjonowitsch«, sagte Mitja auf einmal mit heiterem Lächeln. »Aber ich will Ihnen jetzt trotzdem behilflich sein. Oh, meine Herren, ich fühle mich wie neugeboren … Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich mich so geradezu an Sie wende. Außerdem bin ich ein bißchen betrunken, das sage ich Ihnen ganz offen. Ich glaube, ich hatte die Ehre und das Vergnügen, bei meinem Verwandten Miussow mit Ihnen zusammen zu sein, Nikolai Parfjonowitsch … Meine Herren, meine Herren, ich erhebe nicht den Anspruch, gleichberechtigt behandelt zu werden — ich verstehe sehr gut, wer ich jetzt für Sie bin. Auf mir ruht … Falls Grigori etwas über mich ausgesagt hat … So ruht auf mir ein furchtbarer Verdacht! Schrecklich, schrecklich, ich begreife das ja alles! Aber zur Sache, meine Herren! Ich bin bereit, und wir werden das alles in einer Sekunde erledigen … Hören Sie nur, meine Herren! Wenn ich weiß, daß ich unschuldig bin, werden wir es ja wohl in einer Sekunde erledigen! Nicht wahr?«
Mitja redete schnell, viel und nervös und so, als hielte er seine Zuhörer für seine besten Freunde.
»Also wir wollen einstweilen niederschreiben, daß Sie die gegen Sie erhobene Beschuldigung vollständig bestreiten«, sagte Nikolai Parfjonowitsch nachdrücklich und diktierte dem Schreiber halblaut, was er schreiben sollte.
»Niederschreiben? Sie wollen das niederschreiben? Nun gut, schreiben Sie es nieder, ich bin damit einverstanden, ich gebe meine völlige Einwilligung, meine Herren … Nur sehen Sie … Warten Sie, warten Sie, schreiben Sie so: ‚Der Gewalttätigkeit ist er schuldig! Der schweren Mißhandlung eines armen alten Mannes ist er schuldig!‘ Na, und in meinem Innern, in der Tiefe meines Herzens, da ist noch etwas, noch eine Schuld, aber das brauchen Sie nicht hinzuschreiben …« Er wandte sich plötzlich an den Schreiber. »Das gehört zu meinem Privatleben, meine Herren! Das geht Sie weiter nichts an, diese Tiefen des Herzens, meine ich … ‚Aber der Ermordung seines alten Vaters ist er nicht schuldig!‘ Das ist ein gemeiner Gedanke! Das ist ein ganz gemeiner Gedanke! Ich werde Ihnen das beweisen, und Sie werden sich im Nu davon überzeugen. Sie werden lachen, meine Herren! Sie werden selbst über Ihren Verdacht lachen!«
»Beruhigen Sie sich, Dmitri Fjodorowitsch!« ermahnte ihn der Untersuchungsrichter, der offenbar durch seine eigene Ruhe besänftigend auf Mitja einzuwirken wünschte. »Bevor wir mit dem Verhör fortfahren, möchte ich gern, falls Sie einwilligen, von Ihnen die Bestätigung der Tatsache hören, daß Sie den verstorbenen Fjodor Pawlowitsch offenbar nicht liebten, sondern ständig mit ihm Streit hatten … Zumindest haben Sie, glaube ich, hier vor einer Viertelstunde erklärt, daß Sie ihn töten wollten. ‚Ich habe ihn nicht getötet‘, riefen Sie, aber ich wollte ihn töten!‘«
»Habe ich das gesagt? Nun, das ist wohl möglich, meine Herren! Ja, leider habe ich ihn töten wollen, viele Male habe ich das gewollt … Leider, leider!«
»Also Sie haben es gewollt. Möchten Sie uns nun vielleicht erklären, wodurch Sie eigentlich zu diesem Haß auf Ihren Vater veranlaßt wurden?
»Was ist da zu erklären, meine Herren!« rief Mitja mit finsterem Gesicht, zuckte die Achseln und blickte zu Boden. »Ich habe ja aus meinen Gefühlen kein Hehl gemacht, die ganze Stadt weiß es, alle Leute im Restaurant wissen es. Noch vor kurzem habe ich es im Kloster, in der Zelle des Starez Sossima, offen ausgesprochen … Am Abend desselben Tages schlug ich meinen Vater, erschlug ihn beinahe und schwor, ich würde wiederkommen und ihn totschlagen, vor Zeugen tat ich das alles … Oh, tausend Zeugen sind dafür vorhanden! Einen Monat lang habe ich solche Reden geführt, und alle sind Zeugen! Die Tatsache ist offenkundig, die Tatsache spricht und schreit — aber die Gefühle, meine Herren, die Gefühle, das ist dann doch etwas anderes. Sehen Sie, meine Herren …. Mir scheint, daß Sie nicht berechtigt sind, nach meinen Gefühlen zu fragen. Sie sind zwar mit Ihrer Amtsgewalt bekleidet, ich verstehe das — doch das ist meine eigene Angelegenheit, meine innere, intime Angelegenheit! Aber da ich meine Gefühle früher auch nicht verheimlicht habe, zum Beispiel im Restaurant, sondern mit jedem darüber gesprochen habe, so werde ich auch jetzt kein Geheimnis daraus machen … Sehen Sie, meine Herren, ich verstehe ja, daß im vorliegenden Fall schreckliche Verdachtsgründe gegen mich vorhanden sind; ich habe allen Leuten gesagt, ich würde ihn töten, und nun ist er plötzlich getötet worden — wie sollte ich da nicht der Täter sein? Hahaha! Ich entschuldige Sie, meine Herren; ich entschuldige Sie vollständig. Ich bin ja selbst verblüfft, denn wer soll ihn getötet haben, wenn nicht ich? Ist das nicht richtig? Wenn ich es nicht gewesen hin, wer dann, ja wer? Meine Herren, ich will wissen und fordere das sogar von Ihnen, meine Herren: Wo ist er ermordet worden? Wie ist er ermordet worden, womit und wie? Sagen Sie mir das!« Er stellte diese Fragen hastig und ließ seinen Blick zwischen dem Staatsanwalt und dem Untersuchungsrichter hin und her gehen.
»Wir fanden ihn in seinem Zimmer, mit dem Rücken auf dem Fußboden liegend, mit zertrümmertem Schädel«, sagte der Staatsanwalt.
Das ist furchtbar, meine Herren!« rief Mitja zusammenfahrend: er stützte den rechten Ellenbogen auf den Tisch und bedeckte das Gesicht mit der Hand.
»Wir wollen fortfahren«, unterbrach ihn Nikolai Parfjonowitsch.
»Also was veranlaßte Sie damals zu Ihrem Haßgefühl? Sie haben ja wohl öffentlich erklärt, daß es Eifersucht war?«
»Nun ja, Eifersucht … aber nicht bloß Eifersucht.«
»Geldstreitigkeiten?«
»Nun ja, Geldstreitigkeiten auch.«
»Wie es scheint, handelte es sich bei dem Streit um dreitausend Rubel, die Ihnen angeblich von Ihrem Erbteil zuwenig ausgezahlt worden waren.«
»Um dreitausend? Bewahre! Um mehr, viel mehr!« rief Mitja. »Um mehr als sechstausend, vielleicht um mehr als zehntausend. Ich habe das allen Leuten gesagt, laut gesagt! Aber ich hatte mich schon entschlossen, mich in Gottes Namen auch mit dreitausend zufriedenzugeben. Ich brauchte diese dreitausend Rubel sehr dringend, so daß ich das Kuvert mit dreitausend Rubeln, das unter seinem Kopfkissen für Gruschenka bereitlag, wie ich wußte, geradezu als mein Eigentum betrachtete, meine Herren, wie etwas, das mir gestohlen worden ist.«
Der Staatsanwalt wechselte mit dem Untersuchungsrichter heimlich einen bedeutsamen Blick.
»Wir werden auf diesen Gegenstand noch zurückkommen«, sagte der Untersuchungsrichter sogleich. »Gestatten Sie uns jetzt eben diesen Punkt festzuhalten: daß Sie das Geld in jenem Kuvert gewissermaßen als Ihr Eigentum betrachteten.«
»Halten Sie das fest, meine Herren! Ich sehe ein, daß das wieder ein Verdachtsgrund gegen mich ist, aber ich fürchte keine Verdachtsgründe und spreche selbst gegen mich. Hören Sie, ich selbst tue das … Sehen Sie, meine Herren, Sie halten mich offenbar für einen anderen Menschen, als ich wirklich bin«, fügte er plötzlich mit finsterer, trauriger Miene hinzu. »Mit Ihnen spricht ein edeldenkender Mensch, ein Mensch — lassen Sie das nicht außer acht! —, der zwar eine Menge Schändlichkeiten begangen hat, jedoch immer ein edeldenkendes Wesen war und geblieben ist, ich meine, im Kern, innerlich, in der Tiefe, na kurz … Ach, ich verstehe nicht, mich auszudrücken … Gerade das hat mich mein Leben lang gequält, daß ich nach dem Edlen dürstete! Ich war sozusagen ein Märtyrer des Edlen, ich suchte mit der Laterne danach, mit der Laterne des Diogenes — und trotzdem beging ich mein ganzes Leben nichts als Gemeinheiten, so wie wir alle, meine Herren … Das heißt wie ich allein, meine Herren, ich habe mich versprochen, ich allein, ich allein! Meine Herren, der Kopf tut mir weh … Sehen Sie, meine Herren, mir mißfiel sein Äußeres und das Ehrlose an ihm, und daß er alles Heilige in den Staub trat, und seine Spottsucht und sein Unglaube, ach, das war alles so gemein, so widerlich! Aber jetzt, wo er tot ist, denke ich darüber anders.«
»Inwiefern anders?«
»Nicht eigentlich anders. Ich bedaure, daß ich ihn so gehaßt habe.«
»Empfinden Sie Reue?«
»Nein, nicht Reue. Schreiben Sie das nicht nieder! Aber ich selbst bin nicht gut, meine Herren, das ist es! Und ich bin auch nicht sehr schön. Und darum hatte ich kein Recht, ihn für widerwärtig zu halten, das ist es! Das schreiben Sie meinetwegen nieder!«
Als Mitja das gesagt hatte, wurde er auf einmal sehr traurig. Schon während er auf die Fragen des Untersuchungsrichters geantwortet hatte, war er immer finsterer geworden. Und da, in diesem Moment, geschah wieder etwas Unerwartetes.
Zwar hatte man Gruschenka vorhin entfernt, aber nicht weit genug, nur drei Zimmer weiter, in ein kleines, einfenstriges Zimmerchen gleich hinter dem großen Raum, wo es in der Nacht so hoch hergegangen war. Dort saß sie, und bei ihr war einstweilen nur Maximow, der sehr bestürzt war, sich furchtbar ängstigte und nicht von ihrer Seite wich, als ob er bei ihr Rettung suchte. An der Tür dieses Zimmerchens stand ein Bauer mit einem Blechabzeichen an der Brust. Gruschenka weinte, und dann auf einmal, als ihre Seele den Kummer nicht mehr ertragen konnte, sprang sie auf und eilte hinaus, zu ihm, zu ihrem Mitja — und das geschah so unerwartet, daß niemand sie zurückhalten konnte. Mitja fuhr zusammen, als er ihren Schrei hörte, sprang auf und stürzte ihr wie im Unterbewußtsein Hals über Kopf entgegen. Aber man ließ die beiden wiederum nicht zusammenkommen. Man packte ihn fest bei den Armen; er schlug um sich und suchte sich loszureißen, und drei oder vier Männer waren nötig, ihn festzuhalten. Man ergriff auch sie, und er sah, wie sie schreiend die Arme nach ihm ausstreckte, als sie weggezogen wurde.
Nachdem die Szene beendet war, fand er sich auf seinem früheren Platz am Tisch wieder, dem Untersuchungsrichter gegenüber; da schrie er, an alle gewandt: »Was haben Sie denn mit ihr zu tun? Warum quälen Sie sie? Sie ist unschuldig!«
Der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter redeten ihm freundlich zu. So verging einige Zeit, ungefähr zehn Minuten.
Dann kam Michail Makarowitsch, der sich eine Weile fortbegeben hatte, wieder ins Zimmer und sagte laut und aufgeregt zum Staatsanwalt: »Sie ist entfernt worden, sie ist unten. Würden Sie mir erlauben, meine Herren, diesem unglücklichen Menschen ein Wort zu sagen? In Ihrer Gegenwart, meine Herren, in Ihrer Gegenwart?«
»Bitte, Michail Makarowitsch«, antwortete der Untersuchungsrichter. »Unter diesen Umständen haben wir nichts dagegen.«
»Dmitri Fjodorowitsch, lieber Freund!« begann Michail Makarowitsch, und sein erregtes Gesicht drückte warme, beinahe väterliche Teilnahme aus. »Ich habe deine Agrafena Alexandrowna selbst nach unten gebracht und sie den Töchtern des Wirtes anvertraut, und auch dieser alte Maximow ist jetzt mit ihr unzertrennlich zusammen. Ich habe ihr gut zugeredet, hörst du? Ich habe ihr gut zugeredet und sie beruhigt. Ich habe ihr klargemacht, daß du dich rechtfertigen mußt, sie soll dich daher nicht stören und dich nicht traurig machen, sonst könntest du in Verwirrung geraten und zu deinem Nachteil falsch aussagen, verstehst du? Na, kurz, ich habe mit ihr geredet, und sie hat mich verstanden. Sie ist ein kluges Mädchen, lieber Freund, ein gutes Mädchen! Sie wollte mir altem Mann die Hände küssen! Und für dich gebeten hat sie! Sie selbst hat mich hergeschickt und mir aufgetragen, dir zu sagen, du möchtest ihretwegen ruhig sein. Und ich soll unbedingt wieder zu ihr kommen und ihr sagen, daß du ruhig und getröstet bist. Also beruhige dich! Sieh ein, daß es das beste ist! Ich habe ihr unrecht getan, sie ist eine christliche Seele. Ja, meine Herren, sie ist eine fromme Seele und hat keinerlei Schuld. Also was soll ich ihr sagen, Dmitri Fjodorowitsch? Wirst du ruhig sein oder nicht?«
Der gute Mensch hatte viel Überflüssiges geredet; doch Gruschenkas Kummer war ihm eben zu Herzen gegangen, und ihm standen sogar Tränen in den Augen. Mitja sprang auf und stürzte zu ihm hin.
»Verzeihen Sie, meine Herren! Erlauben Sie es! Erlauben Sie es!« rief er. »Sie sind ein Engel, ein Engel sind Sie, Michail Makarowitsch! Ich danke Ihnen für alles, was Sie ihr Gutes erwiesen haben! Ich werde ruhig sein, ich werde heiter sein! Bestellen Sie ihr in der grenzenlosen Güte Ihres Herzens, daß ich heiter bin, ganz heiter! Ich werde sogar gleich anfangen zu lachen, da ich weiß, daß so ein Schutzengel wie Sie bei ihr ist. Ich werde sogleich alles erledigen, und sobald ich frei bin, eile ich sofort zu ihr; sie soll nur noch ein wenig warten … Meine Herren!« wandte er sich plötzlich an den Staatsanwalt und an den Untersuchungsrichter. »Jetzt werde ich meine ganze Seele vor Ihnen aufdecken, Ihnen mein ganzes Herz ausschütten. Wir werden im Nu alles beenden, fröhlich beenden, und zuletzt werden wir alle lachen, nicht wahr? Aber, meine Herren, diese Frau ist die Königin meiner Seele! Oh, erlauben Sie, daß ich Ihnen das sage — wenigstens das will ich Ihnen enthüllen; ich sehe ja, daß ich es mit Männern von edelster Gesinnung zu tun habe! Sie ist mein Licht, mein Heiligstes! Und wenn Sie noch alles andere wüßten! Sie haben gehört, wie sie schrie:,Mit dir zusammen sogar bis aufs Schafott!‘ Aber was habe ich ihr gegeben, ich Bettler, ich Habenichts? Wofür liebt sie mich so? Verdiene ich plumpe Kreatur mit dem häßlichen Gesicht so viel Liebe, daß sie mit mir sogar zur Zwangsarbeit gehen will? Für mich hat sie sich Ihnen vorhin zu Füßen geworfen, sie, die keine Schuld trägt! Wie sollte ich sie da nicht vergöttern, nicht zu ihr hinstürzen, wie ich es soeben tat? O meine Herren, verzeihen Sie mir! Aber jetzt, jetzt bin ich getröstet!«
Er fiel auf den Stuhl zurück, bedeckte das Gesicht mit den Händen und brach laut schluchzend in Tränen aus; es waren jetzt aber Tränen der Glückseligkeit. Er kam auch gleich wieder zu sich. Der alte Bezirkshauptmann war sehr zufrieden, und die Juristen schienen es ebenfalls; sie fühlten, daß das Verhör jetzt in eine neue Phase trat. Nachdem Mitja den Bezirkshauptmann mit seinem Auftrag fortgeschickt hatte, wurde er geradezu heiter.
»Nun, meine Herren, jetzt bin ich der Ihrige, ganz der Ihrige. Und … Wenn nur nicht alle diese Kleinigkeiten wären, dann würden wir gleich einig sein. Ja, diese Kleinigkeiten! Ich bin der Ihrige, meine Herren. Aber glauben Sie mir: Es ist gegenseitiges Vertrauen nötig! Sie müssen mir vertrauen und ich Ihnen, sonst kommen wir nie zu Ende. Das sage ich in Ihrem eigenen Interesse. Zur Sache, meine Herren, zur Sache! Und vor allen Dingen, wühlen Sie nicht so in meiner Seele, quälen Sie mich nicht mit unerheblichen Nebensachen, sondern fragen Sie nur nach der Hauptsache, nach den Tatsachen — dann werde ich Sie sofort zufriedenstellen. Die Kleinigkeiten aber soll der Teufel holen!« Das sagte Mitja, und das Verhör begann von neuem.