9. Mitja wird abtransportiert
Nachdem das Protokoll unterschrieben war, wandte sich Nikolai Parfjonowitsch feierlich an den Angeklagten und las ihm eine »Verfügung« vor, welche besagte, daß im Jahre soundso, an dem und dem Tag, an dem und dem Ort, der Untersuchungsrichter des und des Distriktgerichts, nachdem er den und den (das heißt Mitja) als der und der Straftaten Beschuldigten (sorgfältige Aufzählung aller Beschuldigungen) verhört habe, in Anbetracht dessen, daß der Beschuldigte, der sich der ihm zur Last gelegten Verbrechen nicht schuldig bekenne, nichts zu seiner Entlastung vorgebracht habe, jedoch durch die Aussagen der Zeugen (Namen der Zeugen) und durch die Umstände (Angabe derselben) seine Schuld klar erwiesen sei, gestützt auf die und die Paragraphen des Strafgesetzbuches und so weiter, verfügt habe: Um dem und dem (Mitja) die Möglichkeit zu nehmen, sich der Untersuchung und dem Gericht zu entziehen, ihn in das und das Gefängnis zu setzen, dieses dem Angeschuldigten zu eröffnen und eine Abschrift dieser Verfügung dem Gehilfen des Staatsanwalts zuzustellen, und so weiter und so fort. Kurz, es wurde Mitja eröffnet, daß er von diesem Augenblick an verhaftet sei und sofort in die Stadt abtransportiert werde, wo er an einem sehr unangenehmen Ort eingesperrt werden solle. Mitja hörte aufmerksam zu, zuckte dann aber nur mit den Achseln.
»Nun gut, meine Herren, ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Ich bin bereit … Ich sehe ein, daß Ihnen nichts weiter übrigbleibt.«
Nikolai Parfjonowitsch teilte ihm in sanftem Ton mit, daß ihn der Landkommissar Mawriki Mawrikijewitsch, der gerade zufällig anwesend sei, sogleich wegbringen würde.
»Halt!«, unterbrach ihn Mitja plötzlich, dann wandte er sich, außerstande, seine Gefühle länger zu beherrschen, an alle Anwesenden und sagte: »Meine Herren, wir sind alle grausam, wir sind alle Unmenschen, wir alle bringen andere Menschen, Mütter und Säuglinge, zum Weinen — aber von allen bin ich das gemeinste Scheusal, dieses Urteil soll schon jetzt gefällt werden! Das sage ich selbst! An jedem Tag meines Lebens habe ich mir an die Brust geschlagen und mir vorgenommen, mich zu bessern, und an jedem Tag habe ich wieder dieselben Schändlichkeiten begangen. Ich sehe jetzt ein, daß für solche Menschen wie mich ein schwerer Schicksalsschlag vonnöten ist! Sie müssen wie mit einer Wurfschlinge gefangen und durch äußere Gewalt geknebelt werden. Niemals, niemals hätte ich mich aus eigener Kraft erhoben! Doch nun ist das Unwetter mit Blitz und Donner über mich niedergegangen. Ich nehme die Qual der Beschuldigung und der öffentlichen Schande auf mich, ich will leiden und durch das Leiden geläutert werden! Vielleicht kann ich doch noch geläutert werden, meine Herren, nicht wahr? Aber hören Sie zum letztenmal: An dem Blut meines Vaters bin ich unschuldig! Ich nehme die Strafe hin, nicht weil ich ihn getötet habe, sondern dafür, daß ich ihn töten wollte und es vielleicht auch wirklich getan hätte … Trotzdem beabsichtige ich mit Ihnen zu kämpfen und kündige Ihnen das an. Ich werde mit Ihnen kämpfen bis zum letzten Augenblick, und dann mag Gott entscheiden! Leben Sie wohl, meine Herren! Seien Sie mir nicht böse, daß ich Sie beim Verhör angeschrien habe, oh, ich war vorhin noch so dumm! Im nächsten Moment werde ich Gefangener sein, und jetzt reicht Ihnen Dmitri Karamasow zum letztenmal als freier Mensch seine Hand. Indem ich von Ihnen Abschied nehme, nehme ich von den Menschen Abschied!«
Die Stimme begann ihm zu zittern, und er streckte ihnen wirklich die Hand hin, doch Nikolai Parfjonowitsch, der ihm am nächsten stand, zog plötzlich seine Hände beinahe krampfhaft zurück und versteckte sie. Mitja bemerkte dies sofort und zuckte zusammen; er ließ seine ausgestreckte Hand sofort sinken.
»Die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen«, sagte Nikolai Parfjonowitsch etwas verlegen. »Wir werden sie in der Stadt fortsetzen, und ich meinerseits wünsche Ihnen natürlich allen Erfolg bei Ihrer Rechtfertigung … Eigentlich bin ich immer geneigt gewesen, Dmitri Fjodorowitsch, Sie sozusagen mehr für einen unglücklichen als für einen schuldbeladenen Menschen zu halten … Wir alle hier — wenn ich wagen darf, im Namen aller zu sprechen —, wir alle sind bereit anzuerkennen, daß Sie im Grunde ein edeldenkender junger Mensch sind, der sich aber leider durch gewisse Leidenschaften allzusehr hinreißen läßt …«
Nikolai Parfjonowitschs kleines Figürchen nahm bei den letzten Worten den Ausdruck größter amtlicher Würde an, dabei huschte Mitja auf einmal ein seltsamer Gedanke durch den Kopf: Dieser »Knabe« würde ihn im nächsten Augenblick unter den Arm fassen, ihn in eine andere Ecke führen und dort mit ihm das Gespräch von neulich fortsetzen, über Mädchen. Aber was für nebensächliche, abwegige Gedanken gehen manchmal sogar einem Verbrecher, der zum Richtplatz geführt wird, durch den Kopf!
»Meine Herren, Sie sind ja gut und human … Kann ich sie noch einmal sehen und ihr zum letztenmal Lebwohl sagen?« fragte Mitja.
»Gewiß, doch in Anbetracht … Kurz, es geht jetzt nur in unserer Gegenwart …«
»Meinetwegen, bleiben Sie da!«
Gruschenka wurde hereingeführt, aber der Abschied gestaltete sich kurz und wortkarg und stellte Nikolai Parfjonowitsch ganz und gar nicht zufrieden. Gruschenka verbeugte sich tief vor Mitja.
»Ich habe dir gesagt, daß ich dir gehöre, und so wird es bleiben. Ich werde mein Leben lang mit dir gehen, wohin man dich auch bringen mag. Lebe wohl, du armer Mensch, der sich unschuldig zugrunde gerichtet hat!«
Ihre Lippen zitterten, Tränen traten ihr in die Augen.
»Lebe wohl, Gruscha! Verzeih mir, daß ich durch meine Liebe auch dich zugrunde gerichtet habe!«
Mitja wollte noch etwas sagen, brach jedoch plötzlich von selbst ab und ging hinaus. Um ihn herum erschienen sogleich Männer, die ihn nicht mehr aus den Augen ließen. Unten vor der Haustür, wo er am vorigen Tag lärmend auf Andrejs Troika vorgefahren war, standen schon zwei Bauernwagen bereit. Mawriki Mawrikijewitsch, ein untersetzter, stämmiger Mensch mit aufgedunsenem Gesicht, durch irgendeine plötzlich eingetretene Störung gereizt, ärgerte sich und schrie. In recht barschem Ton forderte er Mitja auf, einzusteigen. ‚Früher, wenn ich ihn im Restaurant mit Getränken freihielt, machte dieser Mensch ein anderes Gesicht‘, dachte Mitja, während er einstieg. Auch Trifon Borissowitsch kam die Stufen vor der Haustür herunter. Am Tor drängte sich allerlei Volk, Bauern, Frauen, Fuhrleute; alle starrten Mitja an.
»Lebt wohl, liebe Leute!« rief ihnen Mitja vom Wagen aus zu.
»Verzeih auch du uns!« ließen sich zwei oder drei Stimmen vernehmen.
»Leb auch du wohl, Trifon Borissowitsch!«
Doch Trifon Borissowitsch drehte sich nicht einmal um, vielleicht hatte er zu viel zu tun. Er schrie ebenfalls etwas und war in geschäftiger Eile. An dem zweiten Wagen, auf dem zwei Dorfpolizisten Mawriki Mawrikijewitsch begleiten sollten, war nämlich noch nicht alles in Ordnung. Der Bauer, der für die zweite Troika als Kutscher beordert war, zog erst langsam seinen Kittel an und schimpfte heftig, er sei nicht an der Reihe zu fahren, sondern Akim. Aber Akim war nicht da; jemand war gelaufen, ihn zu holen, und der Bauer sträubte sich hartnäckig und bat, man möchte noch ein bißchen warten.
»Das Volk bei uns ist zu unverschämt, Mawriki Mawrikijewitsch!« rief Trifon Borissowitsch. »Akim hat dir vorgestern einen Viertelrubel gegeben, den hast du vertrunken, und nun machst du Geschrei! Ich staune nur über Ihre Geduld, Mawriki Mawrikijewitsch, weiter sage ich nichts!«
»Wozu brauchen wir denn überhaupt eine zweite Troika?« mischte sich Mitja ein. »Laß uns doch mit einer fahren, Mawriki Mawrikijewitsch. Sei unbesorgt, ich werde mich nicht widersetzen und dir nicht weglaufen. Wozu brauchst du einen ganzen Begleitschutz?«
»Lernen Sie gefälligst, wie Sie mit mir zu reden haben, mein Herr, wenn Sie das noch nicht wissen sollten. Ich bin nicht Ihr Du! Erlauben Sie sich nicht, mich zu duzen. Und auch Ihre Ratschläge können Sie für sich behalten …«, schnitt ihm Mawriki Mawrikijewitsch wütend das Wort ab, als ob er sich freute, seinen Ärger an ihm auslassen zu können.
Mitja schwieg. Er war ganz rot geworden. Einen Augenblick darauf wurde ihm auf einmal sehr kalt. Der Regen hatte aufgehört, aber der trübe Himmel war ganz mit Wolken bedeckt, und ein scharfer Wind blies Mitja ins Gesicht. ‚Ich habe wohl einen Fieberanfall‘, dachte er und schüttelte die Schultern. Endlich stieg auch Mawriki Mawrikijewitsch ein. Er setzte sich schwerfällig und breit hin und schien gar nicht zu beachten, daß er Mitja durch seinen Körper stark bedrängte. Er war schlechter Laune, denn der ihm erteilte Auftrag mißfiel ihm sehr.
»Lebe wohl, Trifon Borissowitsch!« rief Mitja noch einmal und fühlte, daß er es jetzt nicht aus Gutmütigkeit getan hatte, sondern unwillkürlich, aus Bosheit.
Doch Trifon Borissowitsch stand stolz da, beide Hände auf dem Rücken, und starrte Mitja mitten ins Gesicht. Er machte eine strenge, ärgerliche Miene und antwortete nicht.
»Leben Sie wohl, Dmitri Fjodorowitsch, leben Sie wohl!« erscholl plötzlich die Stimme Kalganows, der von irgendwo hervorsprang.
Er lief zum Wagen und reichte Mitja die Hand; er hatte keine Mütze auf dem Kopf. Mitja konnte noch seine Hand ergreifen und sie ihm drücken.
»Lebe wohl, du lieber Mensch! Ich werde deine Hochherzigkeit nicht vergessen! » rief er bewegt. Doch der Wagen fuhr an, und ihre Hände wurden auseinandergerissen. Das Glöckchen des Mittelpferdes klingelte — Mitja wurde abtransportiert.
Kalganow aber lief in den Hausflur, setzte sich in eine Ecke, ließ den Kopf sinken, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte los. Lange saß er so da und weinte, als sei er noch ein kleiner Junge und kein Mann von zwanzig Jahren. Er war von Mitjas Schuld fast vollkommen überzeugt. ‚Aber was sind das für Menschen, was soll man da von der Menschheit denken!‘ fragte er sich zutiefst betrübt und beinahe verzweifelt. Er mochte in diesem Augenblick überhaupt nicht mehr auf dieser Welt leben. »Lohnt es sich denn, lohnt es sich?« rief der junge Mann in seinem Kummer.