Schilderung des sozialen Kriegs


Diese Tatsachen sind wahrlich mehr als hinreichend, um jeden, selbst einen Bourgeois, zur Besinnung und zum Nachdenken über die Folgen eines solchen Zustandes zu bringen. Wenn sich die Demoralisation und die Verbrechen noch zwanzig Jahre lang in diesem Maße vermehren - und wenn die englische Industrie in diesen zwanzig Jahren weniger glücklich ist als bisher, so muß die Progression des Verbrechens sich nur noch beschleunigen - was wird dann das Resultat sein? Wir sehen schon jetzt die Gesellschaft in voller Auflösung begriffen, wir können keine Zeitung in die Hand nehmen, ohne in den schlagendsten Tatsachen die Lockerung aller sozialen Bande lesen zu müssen. Ich greife aufs Geratewohl in den Haufen englischer Zeitungen, die vor mir liegen; da ist ein "Manchester Guardian" (30. Oktober 1844), der über drei Tage berichtet; er gibt sich gar nicht mehr die Mühe, über Manchester genaue Nachrichten zu geben und erzählt bloß die interessantesten Fälle, daß in einer Fabrik die Arbeiter, um höheren Lohn zu erlangen, die Arbeit eingestellt hätten und vom Friedensrichter zu ihrer Wiederaufnahme gezwungen seien; daß in Salford ein paar Knaben Diebstähle verübt und ein bankerotter Kaufmann seine Gläubiger habe betrügen wollen. Ausführlicher sind die Nachrichten aus den Nebenorten: in Ashton zwei Diebstähle, ein Einbruch, ein Selbstmord, in Bury ein Diebstahl, in Bolton zwei Diebstähle, ein Akzisebetrug, in Leigh ein Diebstahl, in Oldham Arbeitseinstellung wegen Lohn, ein Diebstahl, eine Schlägerei zwischen Irländerinnen, ein nicht zur Arbeiterverbindung gehörender Hutmacher von den Mitgliedern der Verbindung mißhandelt, eine Mutter von ihrem Sohn geschlagen, in Rochdale eine Reihe Schlägereien, ein Angriff auf die Polizei, ein Kirchenraub, in Stockport Unzufriedenheit der Arbeiter mit dem Lohn, ein Diebstahl, ein Betrug, Schlägerei, ein Mann, der seine Frau mißhandelt, in Warrington ein Diebstahl und eine Schlägerei, in Wigan ein Diebstahl und ein Kirchenraub. Die Berichte der Londoner Zeitungen sind noch viel schlimmer; Betrügereien, Diebstähle, Raubanfälle, Familienzerwürfnisse drängen eins das andere; mir fällt gerade eine "Times" (12. September 1844), die nur die Vorfälle eines Tages berichtet, in die Hand, die von einem Diebstahl, einem Angriff auf die Polizei, einem Alimentationsurteil gegen den Vater eines unehelichen Kindes, der Aussetzung eines Kindes durch seine Eltern und der Vergiftung eines Mannes durch seine Frau erzählt. Ähnliches ist in allen englischen Zeitungen zu finden. In diesem Lande ist der soziale Krieg vollständig ausgebrochen; jeder steht für sich selbst und kämpft für sich selbst gegen alle andern, und ob er allen andern, die seine erklärten Feinde sind, Schaden zufügen soll oder nicht, hängt nur von einer selbstsüchtigen Berechnung über das ab, was ihm am vorteilhaftesten ist. Es fällt keinem mehr ein, sich auf friedlichem Wege mit seinen Nebenmenschen zu verständigen; alle Differenzen werden durch Drohungen, Selbsthülfe oder die Gerichte abgemacht. Kurz, jeder sieht im andern einen Feind, den er aus dem Wege zu räumen, oder höchstens ein Mittel, das er zu seinen Zwecken auszubeuten hat. Und dieser Krieg wird, wie die Kriminaltabellen beweisen, von Jahr zu Jahr heftiger, leidenschaftlicher, unversöhnlicher; die Feindschaft teilt sich allmählich in zwei große Lager, die gegeneinander streiten: die Bourgeoisie hier und das Proletariat dort. Dieser Krieg Aller gegen Alle und des Proletariats gegen die Bourgeoisie darf uns nicht wundern, denn er ist nur die konsequente Durchführung des schon in der freien Konkurrenz enthaltenen Prinzips; aber wohl darf es uns wundern, daß die Bourgeoisie, gegen die sich tagtäglich neue und drohende Gewitterwolken zusammenziehen, bei alledem so ruhig und gelassen bleibt, wie sie diese Sachen täglich in den Zeitungen lesen kann, ohne, wir wollen nicht sagen Indignation über den sozialen Zustand, sondern nur Furcht vor seinen Folgen, vor einem allgemeinen Ausbruch dessen, was im Verbrechen einzeln zutage kommt, zu empfinden. Aber dafür ist sie gerade Bourgeoisie und kann von ihrem Standpunkte aus nicht einmal die Tatsachen, geschweige ihre Konsequenzen, wahrnehmen. Nur das ist staunenswert, daß Klassenvorurteile und eingetrommelte vorgefaßte Meinungen eine ganze Menschenklasse mit einem so hohen, ich möchte sagen so wahnsinnigen Grade von Blindheit schlagen können. Die Entwicklung der Nation geht indes ihren Gang, die Bourgeois mögen Augen für sie haben oder nicht, und wird eines schönen Morgens die besitzende Klasse mit Dingen überraschen, von denen sich ihre Weisheit nichts träumen läßt.


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Seite zuletzt aktualisiert: 11.10.2005 
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