XXX. VORLESUNG
Traum und Okkultismus
Meine Damen und Herren! Wir werden heute einen schmalen Weg gehen, aber der kann uns zu einer weiten Aussicht führen.
Die Ankündigung, daß ich über die Beziehung des Traums zum Okkultismus sprechen werde, kann Sie kaum überraschen. Der Traum ist ja oft als die Pforte zur Welt der Mystik betrachtet worden, gilt heute noch vielen selbst als ein okkultes Phänomen. Auch wir, die ihn zum Objekt wissenschaftlicher Untersuchung gemacht haben, bestreiten nicht, daß ihn ein oder mehrere Fäden mit jenen dunklen Dingen verknüpfen. Mystik, Okkultismus, was ist mit diesen Namen gemeint? Erwarten Sie keinen Versuch von mir, diese schlecht umgrenzten Gebiete durch Definitionen zu umfassen. In einer allgemeinen und unbestimmten Weise wissen wir alle, woran wir dabei zu denken haben. Es ist eine Art von Jenseits der hellen, von unerbittlichen Gesetzen beherrschten Welt, welche die Wissenschaft für uns aufgebaut hat.
Der Okkultismus behauptet die reale Existenz jener „Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen unsere Schulweisheit sich nichts träumen läßt“. Nun, wir wollen nicht an der Engherzigkeit der Schule festhalten; wir sind bereit zu glauben, was man uns glaubwürdig macht.
Wir gedenken mit diesen Dingen zu verfahren wie mit allem anderen Material der Wissenschaft, zunächst festzustellen, ob solche Vorgänge wirklich nachweisbar sind, und dann, aber erst dann, wenn sich ihre Tatsächlichkeit nicht bezweifeln läßt, uns um ihre Erklärung zu bemühen. Aber es ist nicht zu leugnen, daß schon dieser Entschluß uns schwergemacht wird durch intellektuelle, psychologische und historische Momente. Es ist nicht derselbe Fall, wie wenn wir an andere Untersuchungen herangehen.
Die intellektuelle Schwierigkeit zuerst! Gestatten Sie mir grobe, handgreifliche Verdeutlichungen. Nehmen wir an, es handle sich um die Frage nach der Beschaffenheit des Erdinnern. Bekanntlich wissen wir nichts Sicheres darüber. Wir vermuten, daß es aus schweren Metallen im glühenden Zustand besteht. Nun stelle einer die Behauptung auf, das Erdinnere sei mit Kohlensäure gesättigtes Wasser, also eine Art Sodawasser. Wir werden gewiß sagen, das ist sehr unwahrscheinlich, widerspricht allen unseren Erwartungen, nimmt keine Rücksicht auf jene Anhaltspunkte unseres Wissens, die uns zur Aufstellung der Metallhypothese geführt haben. Aber undenkbar ist es immerhin nicht; wenn uns jemand einen Weg zur Prüfung der Sodawasserhypothese zeigt, werden wir ihn ohne Widerstand gehen. Aber nun kommt ein anderer mit der ernsthaften Behauptung, der Erdkern bestehe aus Marmelade! Dagegen werden wir uns ganz anders verhalten. Wir werden uns sagen, Marmelade kommt in der Natur nicht vor, es ist ein Produkt der menschlichen Küche, die Existenz dieses Stoffes setzt außerdem das Vorhandensein von Obstbäumen und von deren Früchten voraus, und wir wüßten nicht, wie wir Vegetation und menschliche Kochkunst ins Erdinnere verlegen könnten; das Ergebnis dieser intellektuellen Einwendungen wird eine Schwenkung unseres Interesses sein, anstatt auf die Untersuchung einzugehen, ob wirklich der Erdkern aus Marmelade besteht, werden wir uns fragen, was es für ein Mensch sein muß, der auf eine solche Idee kommen kann, und höchstens noch ihn fragen, woher er das weiß. Der unglückliche Urheber der Marmeladetheorie wird schwer gekränkt sein und uns anklagen, daß wir ihm aus angeblich wissenschaftlichem Vorurteil die objektive Würdigung seiner Behauptung versagen. Aber es wird ihm nichts nützen. Wir verspüren, daß Vorurteile nicht immer verwerflich sind, daß sie manchmal berechtigt sind, zweckmäßig, um uns unnützen Aufwand zu ersparen. Sie sind ja nichts anderes als Analogieschlüsse nach anderen, gut begründeten Urteilen.
Eine ganze Anzahl der okkultistischen Behauptungen wirkt auf uns ähnlich wie die Marmeladehypothese, so daß wir uns berechtigt glauben, sie ohne Nachprüfung von vornherein abzuweisen. Aber es ist doch nicht so einfach. Ein Vergleich wie der von mir gewählte beweist nichts, beweist so wenig wie überhaupt Vergleiche. Es bleibt ja fraglich, ob er paßt, und man versteht, daß die Einstellung der verächtlichen Verwerfung bereits seine Auswahl bestimmt hat. Vorurteile sind manchmal zweckmäßig und berechtigt, andere Male aber irrtümlich und schädlich, und man weiß nie, wann sie das eine, wann sie das andere sind. Die Geschichte der Wissenschaften selbst ist überreich an Vorfällen, die vor einer voreiligen Verdammung warnen können. Lange Zeit galt es auch als eine unsinnige Annahme, daß die Steine, die wir heute Meteoriten heißen, aus dem Himmelsraum auf die Erde gelangt sein sollten oder daß das Gestein der Berge, das Muschelreste einschließt, einst den Meeresgrund gebildet hätte. Übrigens ist es auch unserer Psychoanalyse nicht viel anders ergangen, als sie mit der Erschließung der Unbewußten hervortrat. Also haben wir Analytiker besonderen Grund, mit der Verwendung des intellektuellen Motivs zur Ablehnung neuer Aufstellungen vorsichtig zu sein, und müssen zugestehen, daß es uns nicht über Abneigung, Zweifel und Unsicherheit hinaus fördert.
Das zweite Moment habe ich das psychologische genannt. Ich meine damit die allgemeine Neigung der Menschen zur Leichtgläubigkeit und Wundergläubigkeit. Von allem Anfang an, wenn das Leben uns in seine strenge Zucht nimmt, regt sich in uns ein Widerstand gegen die Unerbittlichkeit und Monotonie der Denkgesetze und gegen die Anforderungen der Realitätsprüfung. Die Vernunft wird zur Feindin, die uns soviel Lustmöglichkeit vorenthält. Man entdeckt, welche Lust es bereitet, sich ihr wenigstens zeitweilig zu entziehen und sich den Verlockungen des Unsinns hinzugeben. Der Schulknabe ergötzt sich an Wortverdrehungen, der Fachgelehrte verulkt seine Tätigkeit nach einem wissenschaftlichen Kongreß, selbst der ernsthafte Mann genießt die Spiele des Witzes. Ernsthaftere Feindseligkeit gegen „Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerbeste Kraft“ wartet ihre Gelegenheit ab, sie beeilt sich, dem Wunderdoktor oder Naturheilkünstler den Vorzug zu geben vor dem „studierten“ Arzt, sie kommt den Behauptungen des Okkultismus entgegen, solange dessen angebliche Tatsachen als Durchbrechungen von Gesetz und Regel genommen werden, sie schläfert die Kritik ein, verfälscht die Wahrnehmungen, erzwingt Bestätigungen und Zustimmungen, die nicht zu rechtfertigen sind. Wer diese Neigung der Menschen in Betracht zieht, hat allen Grund, viele Mitteilungen der okkultistischen Literatur zu entwerten.
Das dritte Bedenken nannte ich das historische und will damit aufmerksam machen, daß in der Welt des Okkultismus eigentlich nichts Neues vorgeht, daß aber in ihr alle die Zeichen, Wunder, Prophezeiungen und Geistererscheinungen neuerdings auftreten, die uns aus alten Zeiten und in alten Büchern berichtet werden und die wir längst als Ausgeburten ungezügelter Phantasie oder tendenziösen Trugs erledigt zu haben glaubten, als Produkte einer Zeit, in der die Unwissenheit der Menschheit sehr groß war und der wissenschaftliche Geist noch in seinen Kinderschuhen stak. Wenn wir als wahr annehmen, was sich nach den Mitteilungen der Okkultisten noch heute ereignet, so müssen wir auch jene Nachrichten aus dem Altertum als glaubwürdig anerkennen. Und nun besinnen wir uns, daß die Traditionen und heiligen Bücher der Völker von solchen Wundergeschichten übervoll sind und daß die Religionen ihren Anspruch auf Glaubwürdigkeit gerade auf solche außerordentliche und wunderbare Begebenheiten stützen und in ihnen die Beweise für das Wirken übermenschlicher Mächte finden. Dann wird es uns schwer, den Verdacht zu vermeiden, daß das okkultistische Interesse eigentlich ein religiöses ist, daß es zu den geheimen Motiven der okkultistischen Bewegung gehört, der durch den Fortschritt des wissenschaftlichen Denkens bedrohten Religion zu Hilfe zu kommen. Und mit der Erkenntnis eines solchen Motivs muß unser Mißtrauen wachsen und unsere Abneigung, uns in die Untersuchung der angeblichen okkulten Phänomene einzulassen.
Aber endlich muß diese Abneigung doch überwunden werden. Es handelt sich um eine Frage der Tatsächlichkeit, ob das, was die Okkultisten erzählen, wahr ist oder nicht. Das muß doch durch Beobachtung entschieden werden können. Im Grunde müssen wir den Okkultisten dankbar sein. Die Wunderberichte aus alten Zeiten sind unserer Nachprüfung entzogen. Wenn wir meinen, sie sind nicht zu beweisen, so müssen wir doch zugeben, sie sind nicht mit aller Strenge zu widerlegen. Aber was in der Gegenwart vor sich geht, wobei wir zugegen sein können, darüber müssen wir doch ein sicheres Urteil gewinnen können. Kommen wir zur Überzeugung, daß solche Wunder heute nicht vorkommen, so fürchten wir den Einwand nicht, sie könnten sich doch in alten Zeiten ereignet haben. Andere Erklärungen liegen dann viel näher. Wir haben also unsere Bedenken abgelegt und sind bereit, an der Beobachtung der okkulten Phänomene teilzunehmen.
Zum Unglück treffen wir dann auf Verhältnisse, die unserer redlichen Absicht äußerst ungünstig sind. Die Beobachtungen, von denen unser Urteil abhängen soll, werden unter Bedingungen angestellt, die unsere Sinneswahrnehmungen unsicher machen, unsere Aufmerksamkeit abstumpfen, in der Dunkelheit oder in spärlichem rotem Licht, nach langen Zeiten leerer Erwartung. Es wird uns gesagt, daß schon unsere ungläubige, also kritische Einstellung das Zustandekommen der erwarteten Phänomene zu hindern vermag. Die so hergestellte Situation ist ein wahres Zerrbild der Umstände, unter denen wir sonst wissenschaftliche Untersuchungen durchzuführen pflegen. Die Beobachtungen werden an sogenannten Medien gemacht, Personen, denen man besondere „sensitive“ Fähigkeiten zuschreibt, die sich aber keineswegs durch hervorragende Eigenschaften des Geistes oder des Charakters auszeichnen, nicht von einer großen Idee oder einer ernsthaften Absicht getragen werden wie die alten Wundertäter. Im Gegenteil, sie gelten selbst bei denen, die an ihre geheimen Kräfte glauben, als besonders unzuverlässig; die meisten von ihnen sind bereits als Betrüger entlarvt worden, es liegt uns nahe zu erwarten, daß den übrigen dasselbe bevorsteht. Was sie leisten, macht den Eindruck von mutwilligen Kinderstreichen oder Taschenspielerkunststücken. Noch niemals ist in den Sitzungen mit diesen Medien etwas Brauchbares herausgekommen, etwa eine neue Kraftquelle zugänglich gemacht worden. Freilich erwartet man auch keine Förderung der Taubenzucht von dem Kunststück des Taschenspielers, der Tauben aus seinem leeren Zylinderhut zaubert. Ich kann mich leicht in die Lage eines Menschen versetzen, der die Anforderung der Objektivität erfüllen will und darum an den okkultistischen Sitzungen teilnimmt, aber nach einer Weile ermüdet und von den an ihn gestellten Zumutungen abgestoßen sich abwendet und unbelehrt zu seinen früheren Vorurteilen zurückkehrt. Man kann einem solchen vorhalten, das sei auch nicht das richtige Benehmen, Phänomenen, die man studieren wolle, dürfe man nicht vorschreiben, wie sie sein und unter welchen Bedingungen sie auftreten sollen. Es sei vielmehr geboten, auszuharren und die Vorsichts- und Kontrollmaßregeln zu würdigen, durch die man sich neuerdings gegen die Unzuverlässigkeit der Medien zu schützen bemüht ist. Leider macht diese moderne Sicherungstechnik der leichten Zugänglichkeit okkultistischer Beobachtungen ein Ende. Das Studium des Okkultismus wird ein besonderer, schwieriger Beruf, eine Tätigkeit, die man nicht neben seinen sonstigen Interessen betreiben kann. Und bis die damit beschäftigten Forscher zu Entscheidungen gekommen sind, bleibt man dem Zweifel und seinen eigenen Vermutungen überlassen.
Unter diesen Vermutungen die wahrscheinlichste ist wohl die, daß es sich beim Okkultismus um einen realen Kern von noch nicht erkannten Tatsachen handelt, den Trug und Phantasiewirkung mit einer schwer durchdringbaren Hülle umsponnen haben. Aber wie können wir uns diesem Kern auch nur annähern, an welcher Stelle das Problem angreifen? Hier meine ich, kommt uns der Traum zu Hilfe, indem er uns den Wink gibt, aus all dem Wust das Thema der Telepathie herauszugreifen.
Sie wissen, Telepathie nennen wir die angebliche Tatsache, daß ein Ereignis, welches zu einer bestimmten Zeit vorfällt, etwa gleichzeitig einer räumlich entfernten Person zum Bewußtsein kommt, ohne daß die uns bekannten Wege der Mitteilung dabei in Betracht kämen. Stillschweigende Voraussetzung ist, daß dies Ereignis eine Person betrifft, an welcher die andere, der Empfänger der Nachricht, ein starkes emotionelles Interesse hat. Also z. B. die Person A erleidet einen Unfall, oder sie stirbt, und die Person B, eine ihr nahe verbundene, die Mutter, Tochter oder Geliebte, erfährt es ungefähr zur gleichen Zeit durch eine Gesichts- oder Gehörswahrnehmung; im letzteren Falle also so, als ob sie telephonisch verständigt worden wäre, was aber nicht der Fall gewesen ist, gewissermaßen ein psychisches Gegenstück zur drahtlosen Telegraphie. Ich brauche vor Ihnen nicht zu betonen, wie unwahrscheinlich solche Vorgänge sind. Auch darf man die meisten dieser Berichte mit guten Gründen ablehnen; einige bleiben übrig, bei denen dies nicht so leicht ist. Gestatten Sie mir nun, daß ich, für den Zweck meiner beabsichtigten Mitteilung, das vorsichtige Wörtchen „angeblich“ weglasse und so fortsetze, als glaubte ich an die objektive Realität des telepathischen Phänomens. Aber halten Sie daran fest, daß dies nicht der Fall ist, daß ich mich auf keine Überzeugung festgelegt habe.
Ich habe Ihnen eigentlich wenig mitzuteilen, nur eine unscheinbare Tatsache. Ich will Ihre Erwartung auch gleich weiter einschränken, indem ich Ihnen sage, daß der Traum im Grunde wenig mit der Telepathie zu tun hat. Weder wirft die Telepathie ein neues Licht auf das Wesen des Traums, noch legt der Traum ein direktes Zeugnis für die Realität der Telepathie ab. Das telepathische Phänomen ist auch gar nicht an den Traum gebunden, es kann sich auch während des Wachzustands ereignen. Der einzige Grund, die Beziehung zwischen Traum und Telepathie zu erörtern, liegt darin, daß der Schlafzustand zur Aufnahme der telepathischen Botschaft besonders geeignet erscheint. Man erhält dann einen sogenannt telepathischen Traum und überzeugt sich bei dessen Analyse, daß die telepathische Nachricht dieselbe Rolle gespielt hat wie ein anderer Tagesrest und wie ein solcher von der Traumarbeit verändert und ihrer Tendenz dienstbar gemacht worden ist.
In der Analyse eines solchen telepathischen Traums ereignet sich nun das, was mir interessant genug schien, um es trotz seiner Geringfügigkeit zum Ausgangspunkt für diese Vorlesung zu wählen. Als ich im Jahre 1922 die erste Mitteilung über diesen Gegenstand machte, stand mir erst nur eine Beobachtung zur Verfügung. Seither habe ich manche ähnliche gemacht, aber ich bleibe beim ersten Beispiel, weil es sich am leichtesten darstellen läßt, und werde Sie sogleich in medias res einführen.
Ein offenbar intelligenter, nach seiner Behauptung keineswegs „okkultistisch angehauchter“ Mann, schreibt mir über einen Traum, der ihm merkwürdig erscheint. Er schickt voraus, seine verheiratete, entfernt von ihm lebende Tochter erwarte Mitte Dezember ihre erste Niederkunft. Diese Tochter steht ihm sehr nahe, er weiß auch, daß sie sehr innig an ihm hängt. Nun träumt er in der Nacht vom 16. auf den 17. November, daß seine Frau Zwillinge geboren hat. Es folgen mancherlei Einzelheiten, die ich hier übergehen kann, die auch nicht alle Aufklärung gefunden haben. Die Frau, die im Traum Mutter der Zwillinge geworden ist, ist seine zweite Frau, die Stiefmutter der Tochter. Er wünscht sich keine Kinder von dieser Frau, der er die Eignung zur verständigen Kindererziehung abspricht, hatte auch zur Zeit des Traums den Geschlechtsverkehr mit ihr lange ausgesetzt. Was ihn veranlaßt, mir zu schreiben, ist nicht ein Zweifel an der Traumlehre, zu dem ihn der manifeste Trauminhalt berechtigt hätte, denn warum läßt der Traum im vollen Gegensatz zu seinen Wünschen diese Frau Kinder gebären? Auch zu einer Befürchtung, daß dies unerwünschte Ereignis eintreffen könnte, lag nach seiner Auskunft kein Anlaß vor. Was ihn bewog, mir von diesem Traum zu berichten, war der Umstand, daß er am 18. November früh die telegraphische Nachricht erhielt, die Tochter sei mit Zwillingen niedergekommen. Das Telegramm war tags vorher aufgegeben worden, die Geburt in der Nacht vom 16. auf den 17. erfolgt, ungefähr zur gleichen Stunde, als er von der Zwillingsgeburt seiner Frau träumte. Der Träumer fragt mich, ob ich das Zusammentreffen von Traum und Ereignis für zufällig halte. Er getraut sich nicht, den Traum einen telepathischen zu nennen, denn der Unterschied zwischen Trauminhalt und Ereignis betrifft gerade das, was ihm das Wesentliche scheint, die Person der Gebärenden. Aber aus einer seiner Bemerkungen geht hervor, daß er sich über einen richtigen telepathischen Traum nicht verwundert hätte. Die Tochter, meint er, habe in ihrer schweren Stunde sicher „besonders an ihn gedacht“.
Meine Damen und Herren! Ich bin sicher, Sie können sich diesen Traum bereits erklären und verstehen auch, warum ich ihn Ihnen erzählt habe. Da ist ein Mann, mit seiner zweiten Frau unzufrieden, er möchte lieber eine Frau haben wie seine Tochter aus erster Ehe. Fürs Unbewußte entfällt natürlich dieses: wie. Nun trifft ihn nächtlicherweile die telepathische Botschaft, die Tochter hat Zwillinge geboren. Die Traumarbeit bemächtigt sich dieser Nachricht, läßt den unbewußten Wunsch auf sie einwirken, der die Tochter an die Stelle der zweiten Frau setzen möchte, und so entsteht der befremdende manifeste Traum, der den Wunsch verhüllt und die Botschaft entstellt. Wir müssen sagen, erst die Traumdeutung hat uns gezeigt, daß es ein telepathischer Traum ist, die Psychoanalyse hat einen telepathischen Tatbestand aufgedeckt, den wir sonst nicht erkannt hätten.
Aber lassen Sie sich ja nicht irreführen! Trotzdem hat die Traumdeutung nichts über die objektive Wahrheit des telepathischen Tatbestands ausgesagt. Es kann auch ein Anschein sein, der sich auf andere Weise aufklären läßt. Es ist möglich, daß die latenten Traumgedanken des Mannes gelautet haben: Heute ist ja der Tag, an dem die Entbindung erfolgen müßte, wenn die Tochter, wie ich eigentlich glaube, sich um einen Monat verrechnet hat. Und ihr Aussehen war schon damals, als ich sie zuletzt sah, so, als ob sie Zwillinge haben würde. Und meine verstorbene Frau war so kinderlieb, wie würde die sich über Zwillinge gefreut haben! (Letzteres Moment setze ich nach noch nicht erwähnten Assoziationen des Träumers ein.) In diesem Fall wären gut begründete Vermutungen des Träumers, nicht eine telepathische Botschaft der Anreiz zum Traum gewesen, der Erfolg bliebe der nämliche. Sie sehen, auch diese Traumdeutung hat nichts über die Frage ausgesagt, ob man der Telepathie objektive Realität zugestehen darf. Das ließe sich nur durch eingehende Erkundigung nach allen Verhältnissen des Vorfalles entscheiden, was leider bei diesem Beispiel ebensowenig möglich war wie bei den anderen meiner Erfahrung. Zugegeben, daß die Annahme der Telepathie die bei weitem einfachste Erklärung gibt, aber damit ist nicht viel gewonnen. Die einfachste Erklärung ist nicht immer die richtige, die Wahrheit ist sehr oft nicht einfach, und ehe man sich zu einer so weittragenden Annahme entschließt, will man alle Vorsichten eingehalten haben.
Das Thema: Traum und Telepathie können wir jetzt verlassen, ich habe Ihnen nichts mehr darüber zu sagen. Aber beachten Sie wohl, nicht der Traum schien uns etwas über die Telepathie zu lehren, sondern die Deutung des Traumes, die psychoanalytische Bearbeitung. Somit können wir im folgenden vom Traum ganz absehen und wollen der Erwartung nachgehen, daß die Anwendung der Psychoanalyse einiges Licht auf andere, okkult geheißene Tatbestände werfen kann. Da ist z. B. das Phänomen der Induktion oder Gedankenübertragung, das der Telepathie sehr nahesteht, eigentlich ohne viel Zwang mit ihr vereinigt werden kann. Es besagt, daß seelische Vorgänge in einer Person, Vorstellungen, Erregungszustände, Willensimpulse sich durch den freien Raum auf eine andere Person übertragen können, ohne die bekannten Wege der Mitteilung durch Worte und Zeichen zu gebrauchen. Sie verstehen, wie merkwürdig, vielleicht auch praktisch bedeutsam es wäre, wenn dergleichen wirklich vorkäme. Nebenbei gesagt, es ist verwunderlich, daß gerade von diesem Phänomen in den alten Wunderberichten am wenigsten die Rede ist.
Während der psychoanalytischen Behandlung von Patienten habe ich den Eindruck bekommen, daß das Treiben der berufsmäßigen Wahrsager eine günstige Gelegenheit verbirgt, um besonders einwandfreie Beobachtungen über Gedankenübertragung anzustellen. Das sind unbedeutende oder selbst minderwertige Personen, die sich irgendeiner Hantierung hingeben, Karten aufschlagen, Schriften und Handlinien studieren, astrologische Berechnungen anstellen und dabei ihren Besuchern die Zukunft vorhersagen, nachdem sie sich mit Stücken von deren vergangenen oder gegenwärtigen Schicksalen vertraut gezeigt haben. Ihre Klienten zeigen sich meistens recht befriedigt durch diese Leistungen und sind ihnen auch nicht gram, wenn die Prophezeiungen späterhin nicht eintreffen. Ich bin mehrerer solcher Fälle habhaft geworden, konnte sie analytisch studieren und werde Ihnen gleich das merkwürdigste dieser Beispiele erzählen. Leider wird die Beweiskraft dieser Mitteilungen durch die zahlreichen Verschweigungen beeinträchtigt, zu denen mich die Pflicht der ärztlichen Diskretion nötigt. Entstellungen habe ich aber mit strengem Vorsatz vermieden. Hören Sie also die Geschichte einer meiner Patientinnen, die ein solches Erlebnis mit einem Wahrsager gehabt hat.
Sie war die älteste einer Reihe von Geschwistern gewesen, in einer außerordentlich starken Vaterbindung aufgewachsen, hatte jung geheiratet, in der Ehe volle Befriedigung gefunden. Zu ihrem Glück fehlte nur eines, daß sie kinderlos geblieben war, ihren geliebten Mann also nicht völlig an die Stelle des Vaters rücken konnte. Als sie nach langen Jahren der Enttäuschung sich zu einer gynäkologischen Operation entschließen wollte, machte ihr der Mann die Eröffnung, daß die Schuld an ihm liege, er sei durch eine Erkrankung vor der Ehe unfähig zur Kinderzeugung geworden. Diese Enttäuschung vertrug sie schlecht, wurde neurotisch, litt offenbar an Versuchungsängsten. Um sie aufzuheitern, nahm sie der Mann auf eine Geschäftsreise nach Paris mit. Dort saßen sie eines Tages in der Halle des Hotels, als ihr eine gewisse Geschäftigkeit unter den Angestellten auffiel. Sie fragte, was es gäbe, und erfuhr, Monsieur le professeur sei gekommen und erteile Konsultationen in jenem Kabinett. Sie äußerte ihren Wunsch, auch einen Versuch zu machen. Der Mann schlug es ab, aber in einem unbewachten Moment war sie in den Konsultationsraum geschlüpft und stand vor dem Wahrsager. Sie war 27 Jahre alt, sah viel jünger aus, hatte den Ehering abgelegt. Monsieur le professeur ließ sie die Hand auf eine Tasse legen, die mit Asche gefüllt war, studierte sorgfältig den Abdruck, erzählte ihr dann allerlei von schweren Kämpfen, die ihr bevorstünden, und schloß mit der tröstlichen Versicherung, sie werde doch noch heiraten und mit 32 Jahren zwei Kinder haben. Als sie mir diese Geschichte erzählte, war sie 43 Jahre alt, schwer krank und ohne jede Aussicht, jemals ein Kind zu bekommen. Die Prophezeiung war also nicht eingetroffen, doch sprach sie von ihr keineswegs mit Bitterkeit, sondern mit dem unverkennbaren Ausdruck der Befriedigung, als ob sie ein erfreuliches Erlebnis erinnern würde. Es war leicht festzustellen, daß sie nicht die leiseste Ahnung hatte, was die beiden Zahlen der Prophezeiung bedeuten könnten und ob sie überhaupt etwas bedeuteten.
Sie werden sagen, das ist eine dumme und unverständliche Geschichte, und fragen, wozu ich sie Ihnen erzählt habe. Nun, ich wäre ganz Ihrer Meinung, wenn nicht — und das ist jetzt der springende Punkt — die Analyse uns eine Deutung jener Prophezeiung ermöglichte, die gerade durch die Aufklärung der Details zwingend wirkt. Die beiden Zahlen finden nämlich ihren Platz im Leben der Mutter meiner Patientin. Diese hatte spät geheiratet, nach dreißig, und man hatte in der Familie oft dabei verweilt, daß sie sich so erfolgreich beeilt hatte, das Versäumte nachzuholen. Die beiden ersten Kinder, unsere Patientin voran, wurden mit dem kleinsten möglichen Intervall in dem gleichen Kalenderjahr geboren, und mit 32 Jahren hatte sie wirklich schon zwei Kinder. Was Monsieur le professeur meiner Patientin gesagt hatte, hieß also: Trösten Sie sich, Sie sind noch so jung. Sie werden noch dasselbe Schicksal haben wie Ihre Mutter, die auch lange auf Kinder warten mußte, werden zwei Kinder haben mit 32 Jahren. Aber, dasselbe Schicksal zu haben wie die Mutter, sich an ihre Stelle zu setzen, ihren Platz beim Vater einzunehmen, das war ja der stärkste Wunsch ihrer Jugend gewesen, der Wunsch, an dessen Nichterfüllung sie jetzt zu erkranken begann. Die Prophezeiung versprach ihr, daß er doch noch zur Erfüllung kommen werde; wie sollte sie gegen den Propheten anders als freundlich fühlen können? Aber halten Sie es für möglich, daß Monsieur le professeur mit den Daten der intimen Familiengeschichte seiner zufälligen Klientin vertraut war? Unmöglich; woher kam ihm also die Kenntnis, die ihn befähigte, den stärksten und geheimsten Wunsch der Patientin durch die Aufnahme der beiden Zahlen in seine Prophezeiung auszudrücken? Ich sehe nur zwei Möglichkeiten der Erklärung. Entweder ist die Geschichte, so wie sie mir erzählt wurde, nicht wahr, hat sich anders zugetragen, oder es ist anzuerkennen, daß eine Gedankenübertragung als reales Phänomen besteht. Man kann freilich die Annahme machen, daß die Patientin nach einem Intervall von 16 Jahren die beiden Zahlen, auf die es ankommt, aus ihrem Unbewußten in jene Erinnerung eingesetzt hat. Ich habe keinen Anhaltspunkt für diese Vermutung, aber ich kann sie nicht ausschließen, und ich stelle mir vor, daß Sie eher bereit sein werden, an eine solche Auskunft zu glauben als an die Realität der Gedankenübertragung. Wenn Sie sich zu letzterem entschließen, vergessen Sie nicht daran, daß erst die Analyse den okkulten Tatbestand geschaffen, ihn aufgedeckt hat, wo er bis zur Unkenntlichkeit entstellt war.
Handelte es sich nur um einen solchen Fall wie der meiner Patientin, so würde man achselzuckend über ihn hinweggehen. Niemand fällt es ein, einen Glauben, der eine so entscheidende Wendung bedeutet, auf einer vereinzelten Beobachtung aufzubauen. Aber glauben Sie meiner Versicherung, es ist nicht der einzige Fall in meiner Erfahrung. Ich habe eine ganze Reihe von solchen Prophezeiungen gesammelt und von allen den Eindruck gewonnen, daß der Wahrsager nur die Gedanken der ihn befragenden Personen und ganz besonders ihre geheimen Wünsche zum Ausdruck gebracht hatte, daß man also berechtigt war, solche Prophezeiungen zu analysieren, als wären es subjektive Produktionen, Phantasien oder Träume der Betreffenden. Natürlich sind nicht alle Fälle gleich beweiskräftig und nicht in allen ist es gleich möglich, rationellere Erklärungen auszuschließen, aber es bleibt doch vom Ganzen ein starker Überschuß von Wahrscheinlichkeit zu Gunsten einer tatsächlichen Gedankenübertragung übrig. Die Wichtigkeit des Gegenstandes würde es rechtfertigen, daß ich Ihnen alle meine Fälle vorführe, aber das kann ich nicht, wegen der Weitläufigkeit der dazu nötigen Darstellung und der dabei unvermeidlichen Verletzung der schuldigen Diskretion. Ich versuche es, mein Gewissen möglichst zu beschwichtigen, wenn ich Ihnen noch einige Beispiele gebe.
Eines Tages sucht mich ein hochintelligenter junger Mann auf, ein Student vor seinen letzten Doktorprüfungen, aber nicht imstande, sie abzulegen, denn, wie er klagt, hat er alle Interessen, Konzentrationsfähigkeit, selbst die Möglichkeit geordneter Erinnerung verloren. Die Vorgeschichte dieses lähmungsartigen Zustandes ist bald aufgedeckt, er ist nach einer Leistung großer Selbstüberwindung erkrankt. Er hat eine Schwester, an der er mit intensiver, aber stets verhaltener Liebe hing, wie sie an ihm. Wie schade, daß wir beide uns nicht heiraten können, hieß es oft genug unter ihnen. Ein würdiger Mann verliebte sich in diese Schwester, sie erwiderte die Neigung, aber die Eltern gaben die Verbindung nicht zu. In dieser Notlage wandte sich das Paar an den Bruder, der ihnen auch seine Hilfe nicht versagte. Er vermittelte die Korrespondenz zwischen ihnen, seinem Einfluß gelang es auch, die Eltern endlich zur Zustimmung zu bewegen. In der Verlobungszeit ereignete sich allerdings ein Zufall, dessen Bedeutung leicht zu erraten ist. Er unternahm eine schwierige Bergpartie mit dem zukünftigen Schwager führerlos, die beiden verloren den Weg und gerieten in die Gefahr, nicht mehr heil zurückzukommen. Kurz nach der Heirat der Schwester geriet er in jenen Zustand seelischer Erschöpfung.
Durch den Einfluß der Psychoanalyse arbeitsfähig geworden, verließ er mich, um seine Prüfungen zu machen, kam aber nach deren glücklicher Erledigung im Herbst desselben Jahres für kurze Zeit zu mir zurück. Er berichtete mir dann über ein merkwürdiges Erlebnis, das er vor dem Sommer gehabt hatte. In seiner Universitätsstadt gab es eine Wahrsagerin, die sich eines großen Zulaufs erfreute. Auch die Prinzen des Herrscherhauses pflegten sie vor wichtigen Unternehmungen regelmäßig zu konsultieren. Die Art, wie sie arbeitete, war sehr einfach. Sie ließ sich die Geburtsdaten einer bestimmten Person geben, verlangte nichts anderes von ihr zu wissen, auch nicht den Namen, dann schlug sie in astrologischen Büchern nach, machte lange Berechnungen und am Ende gab sie eine Prophezeiung über die betreffende Person von sich. Mein Patient beschloß, ihre Geheimkunst für seinen Schwager in Anspruch zu nehmen. Er besuchte sie und nannte ihr die verlangten Daten von seinem Schwager. Nachdem sie ihre Rechnungen angestellt hatte, tat sie die Prophezeiung: Diese Person wird im Juli oder August dieses Jahres an einer Krebs- oder Austernvergiftung sterben. Mein Patient schloß dann seine Erzählung mit den Worten: „Und das war ganz großartig!“
Ich hatte von Anfang an unwillig zugehört. Nach diesem Ausruf gestattete ich mir die Frage. Was finden Sie an dieser Prophezeiung so großartig? Wir sind jetzt im Spätherbst, Ihr Schwager ist nicht gestorben, das hätten Sie mir längst erzählt. Also ist die Prophezeiung nicht eingetroffen. Das allerdings nicht, meinte er, aber das Merkwürdige ist folgendes. Mein Schwager ist ein leidenschaftlicher Liebhaber von Krebsen und Austern und hat sich im vorigen Sommer — also vor dem Besuch bei der Wahrsagerin — eine Austernvergiftung zugezogen, an der er fast gestorben wäre. Was sollte ich darauf sagen? Ich konnte mich nur ärgern, daß der hochgebildete Mann, der überdies eine erfolgreiche Analyse hinter sich hatte, den Zusammenhang nicht besser durchschaute. Ich für meinen Teil, ehe ich daran glaube, daß man aus astrologischen Tafeln den Eintritt einer Krebs- oder Austernvergiftung berechnen kann, will lieber annehmen, daß mein Patient den Haß gegen den Rivalen noch immer nicht überwunden hatte, an dessen Verdrängung er seinerzeit erkrankt war, und daß die Astrologin einfach seine eigene Erwartung aussprach: solche Liebhabereien gibt man nicht auf und eines Tages wird er doch daran zugrunde gehen. Ich gestehe, daß ich für diesen Fall keine andere Erklärung weiß außer vielleicht, daß mein Patient sich einen Scherz mit mir erlaubt hat. Aber er gab mir weder damals noch später Grund zu diesem Verdacht und schien, was er sagte, ernsthaft zu meinen.
Ein anderer Fall. Ein junger Mann in angesehener Stellung unterhält ein Verhältnis mit einer Lebedame, in dem sich ein merkwürdiger Zwang durchsetzt. Von Zeit zu Zeit muß er die Geliebte durch spottende und höhnende Reden kränken, bis sie in helle Verzweiflung gerät. Hat er sie so weit gebracht, so ist er erleichtert, er versöhnt sich mit ihr und beschenkt sie. Aber er möchte jetzt frei von ihr werden, der Zwang ist ihm unheimlich, er merkt, daß sein eigener Ruf unter diesem Verhältnis leidet, er will eine eigene Frau haben, eine Familie gründen. Nur daß er mit eigener Kraft nicht von der Lebedame loskommt, er nimmt dazu die Hilfe der Analyse in Anspruch. Nach einer solchen Beschimpfungsszene, schon während der Analyse, läßt er sich von ihr ein Kärtchen schreiben, das er einem Schriftkundigen vorlegt. Die Auskunft, die er von ihm erhält, lautet: Das ist die Schrift eines Menschen in äußerster Verzweiflung, die Person wird sich gewiß in den allernächsten Tagen umbringen. Das geschieht zwar nicht, die Dame bleibt am Leben, aber der Analyse gelingt es, seine Fesseln zu lockern; er verläßt die Dame und wendet sich einem jungen Mädchen zu, von dem er erwartet, daß es eine brave Frau für ihn werden kann. Bald nachher erscheint ein Traum, der nur auf einen beginnenden Zweifel an dem Wert dieses Mädchens gedeutet werden kann. Er nimmt auch von ihr eine Schriftprobe, die er derselben Autorität vorlegt, und hört ein Urteil über ihre Schrift, das seine Besorgnisse bestätigt. Er gibt also die Absicht, sie zu seiner Frau zu machen, auf.
Um die Gutachten des Schriftkundigen, zumal das erste, zu würdigen, muß man etwas von der Geheimgeschichte unseres Mannes wissen. Im frühen Jünglingsalter hatte er sich, seiner leidenschaftlichen Natur entsprechend, bis zur Raserei in eine junge Frau verliebt, die immerhin älter war als er. Von ihr abgewiesen, machte er einen Selbstmordversuch, an dessen ernster Absicht man nicht zweifeln kann. Nur durch ein Ungefähr entging er dem Tode und erst nach langer Pflege war er hergestellt. Aber diese wilde Tat machte auf die geliebte Frau einen tiefen Eindruck, sie schenkte ihm ihre Gunst, er wurde ihr Liebhaber, blieb ihr von da an heimlich verbunden und diente ihr in echt ritterlicher Weise. Nach mehr als zwei Dezennien, als sie beide gealtert waren, die Frau natürlich mehr als er, erwachte in ihm das Bedürfnis, sich von ihr abzulösen, frei zu werden, ein eigenes Leben zu führen, selbst ein Haus und eine Familie zu gründen. Und gleichzeitig mit diesem Überdruß stellte sich bei ihm das lange unterdrückte Bedürfnis nach Rache an der Geliebten ein. Hatte er sich einst umbringen wollen, weil sie ihn verschmäht hatte, so wollte er jetzt die Genugtuung haben, daß sie den Tod suchte, weil er sie verließ. Aber seine Liebe war noch immer zu stark, als daß dieser Wunsch ihm bewußt werden konnte; auch war er nicht imstande, ihr genug Böses anzutun, um sie in den Tod zu treiben. In dieser Gemütslage nahm er die Lebedame gewissermaßen als Prügelknaben auf, um in corpore vili seinen Rachedurst zu befriedigen, und gestattete sich an ihr alle Quälereien, von denen er erwarten konnte, sie würden bei ihr den Erfolg haben, den er bei der geliebten Frau erwünschte. Daß die Rache eigentlich dieser letzteren galt, verriet sich nur durch den Umstand, daß er die Frau zur Mitwisserin und Ratgeberin in seinem Liebesverhältnis machte, anstatt ihr seinen Abfall zu verbergen. Die Arme, die längst von der Geberin zur Empfängerin herabgesunken war, litt unter seiner Vertraulichkeit wahrscheinlich mehr als die Lebedame unter seiner Brutalität. Der Zwang, über den er sich bei der Ersatzperson beklagte und der ihn in die Analyse trieb, war natürlich von der alten Geliebten her auf sie übertragen; diese letztere war es, von der er sich frei machen wollte und nicht konnte. Ich bin kein Schriftenkenner und halte nicht viel von der Kunst, aus der Schrift den Charakter zu erraten, noch weniger glaube ich an die Möglichkeit, auf diesem Wege die Zukunft des Schreibers vorherzusagen. Sie sehen aber, wie immer man über den Wert der Graphologie denken mag, es ist unverkennbar, daß der Sachverständige, wenn er versprach, daß der Schreiber der ihm vorgelegten Probe sich in den nächsten Tagen umbringen werde, wiederum nur einen starken geheimen Wunsch der ihn befragenden Person ans Licht gezogen hatte. Etwas Ähnliches geschah dann auch beim zweiten Gutachten, nur daß hier nicht ein unbewußter Wunsch in Betracht kam, sondern daß die keimenden Zweifel und Besorgnisse des Befragenden durch den Mund des Schriftkundigen einen klaren Ausdruck fanden. Meinem Patienten gelang es übrigens, mit Hilfe der Analyse eine Liebeswahl zu treffen außerhalb des Zauberkreises, in den er gebannt gewesen war.
Meine Damen und Herren! Sie haben nun gehört, was die Traumdeutung und die Psychoanalyse überhaupt für den Okkultismus leistet. Sie haben an Beispielen gesehen, daß durch ihre Anwendung okkulte Tatbestände klargemacht werden, die sonst unkenntlich geblieben wären. Die Frage, die Sie gewiß am meisten interessiert, ob man an die objektive Realität dieser Befunde glauben darf, kann die Psychoanalyse nicht direkt beantworten, aber das mit ihrer Hilfe zutage geförderte Material macht wenigstens einen der Bejahung günstigen Eindruck. Dabei wird Ihr Interesse nicht haltmachen. Sie werden wissen wollen, zu welchen Schlüssen jenes ungleich reichere Material berechtigt, an dem die Psychoanalyse keinen Anteil hat. Dahin kann ich Ihnen aber nicht folgen, es ist nicht mehr mein Gebiet. Das einzige, was ich noch tun kann, wäre, daß ich Ihnen von Beobachtungen erzähle, die wenigstens die eine Beziehung zur Analyse haben, daß sie während der analytischen Behandlung gemacht, vielleicht auch durch ihren Einfluß ermöglicht wurden. Ich werde Ihnen ein solches Beispiel mitteilen, dasjenige, welches mir den stärksten Eindruck hinterlassen hat, werde sehr ausführlich sein, Ihre Aufmerksamkeit für eine Menge von Einzelheiten in Anspruch nehmen und dabei doch vieles unterdrücken müssen, was die überzeugende Kraft der Beobachtung sehr gesteigert hätte. Es ist ein Beispiel, in dem der Tatbestand klar zutage tritt und nicht durch die Analyse entwickelt zu werden braucht. Bei seiner Diskussion werden wir die Hilfe der Analyse aber nicht entbehren können. Ich sage es Ihnen aber vorher, auch dieses Beispiel von anscheinender Gedankenübertragung in der analytischen Situation ist nicht gegen alle Bedenken gefeit, gestattet keine unbedingte Parteinahme für die Realität des okkulten Phänomens.
Also hören Sie: An einem Herbsttag des Jahres 1919, etwa um ¾11 Uhr a. m., gibt der eben aus London eingetroffene Dr. David Forsyth eine Karte für mich ab, während ich mit einem Patienten arbeite. (Mein geehrter Kollege von der London University wird es sicherlich nicht als Indiskretion auffassen, wenn ich so verrate, daß er sich von mir durch einige Monate in die Künste der psychoanalytischen Technik einführen ließ.) Ich habe nur Zeit, ihn zu begrüßen und für später zu bestellen. Dr. Forsyth hat Anspruch auf mein besonderes Interesse; er ist der erste Ausländer, der nach der Absperrung der Kriegsjahre zu mir kommt, der eine bessere Zeit eröffnen soll. Bald nachher, um 11 Uhr, kommt einer meiner Patienten, Herr P., ein geistreicher und liebenswürdiger Mann, im Alter zwischen 40 und 50, der mich seinerzeit wegen Schwierigkeiten beim Weibe aufgesucht hatte. Sein Fall versprach keinen therapeutischen Erfolg; ich hatte ihm längst vorgeschlagen, die Behandlung einzustellen, aber er hatte deren Fortsetzung gewünscht, offenbar weil er sich in einer wohltemperierten Vater-Übertragung auf mich behaglich fühlte. Geld spielte um diese Zeit keine Rolle, da zu wenig davon vorhanden war; die Stunden, die ich mit ihm verbrachte, waren auch für mich Anregung und Erholung, und so wurde, mit Hinwegsetzung über die strengen Regeln des ärztlichen Betriebs, die analytische Bemühung bis zu einem in Aussicht genommenen Termin weitergeführt.
An diesem Tag kam P. auf seine Versuche zurück, die Liebesbeziehungen zu Frauen aufzunehmen, und erwähnte wieder einmal das schöne, pikante, arme Mädchen, bei dem er Erfolg haben könnte, wenn nicht schon die Tatsache ihrer Virginität ihn von jedem ernsthaften Unternehmen abschrecken würde. Er hatte schon oft von ihr gesprochen, heute erzählte er zum ersten Mal, daß sie, die natürlich von den wirklichen Gründen seiner Verhinderung keine Ahnung hat, ihn den Herrn von Vorsicht zu nennen pflegt. Diese Mitteilung frappiert mich, die Karte des Dr. Forsyth ist mir zur Hand, ich zeige sie ihm.
Dies der Tatbestand. Ich erwarte, er wird Ihnen armselig erscheinen, aber hören Sie nur weiter zu, es steckt mehr dahinter.
P. hatte einige seiner jungen Jahre in England verlebt und daher ein dauerndes Interesse für englische Literatur bewahrt. Er besitzt eine reiche englische Bibliothek, pflegte mir Bücher aus ihr zu bringen, und ich verdanke ihm die Bekanntschaft mit Autoren wie Bennett und Galsworthy, von denen ich bis dahin wenig gelesen hatte. Eines Tages lieh er mir einen Roman von Galsworthy mit dem Titel The Man of Property, der im Schoß einer vom Dichter erfundenen Familie Forsyte spielt. Galsworthy ist offenbar von dieser seiner Schöpfung selbst gefangengenommen worden, denn er hat in späteren Erzählungen wiederholt auf Personen dieser Familie zurückgegriffen und endlich alle auf sie bezüglichen Erdichtungen unter dem Namen The Forsyte Saga gesammelt. Erst wenige Tage vor der Begebenheit, die ich erzähle, hatte mir P. einen neuen Band aus dieser Reihe gebracht. Der Name Forsyte und alles Typische, was der Dichter in ihm verkörpern wollte, hatte auch in meinen Unterhaltungen mit P. eine Rolle gespielt, er war zu einem Stück der Geheimsprache geworden, die sich bei regelmäßigem Verkehr so leicht zwischen zwei Personen ausbildet. Nun ist der Name Forsyte in jenen Romanen von dem meines Besuchers Forsyth wenig verschieden, für deutsche Aussprache kaum zu unterscheiden, und das sinnvolle englische Wort, das wir ebenso aussprechen würden, wäre foresight, zu übersetzen: Voraussicht oder Vorsicht. P. hatte also tatsächlich aus seinen persönlichen Beziehungen den gleichen Namen herausgeholt, der zur selben Zeit infolge eines ihm unbekannten Ereignisses mich beschäftigte.
Nicht wahr, das sieht schon besser aus. Aber ich meine, wir werden einen stärkeren Eindruck von dem auffälligen Phänomen und sogar etwas wie einen Einblick in die Bedingungen seiner Entstehung gewinnen, wenn wir zwei andere Assoziationen analytisch beleuchten, die P. in der nämlichen Stunde vorbrachte.
Erstens: An einem Tag der vorigen Woche hatte ich Herrn P. um 11 Uhr vergeblich erwartet und war dann ausgegangen, um Dr. Anton von Freund in seiner Pension zu besuchen. Ich war überrascht zu finden, daß Herr P. in einem anderen Stockwerk des Hauses wohnte, das die Pension beherbergte. Mit Beziehung darauf hatte ich P. später erzählt, daß ich ihm sozusagen einen Besuch in seinem Hause gemacht hatte; ich weiß aber mit Bestimmtheit, daß ich den Namen der Person, die ich in der Pension besuchte, nicht genannt habe. Und nun stellt er bald nach der Erwähnung des Herrn v. Vorsicht an mich die Frage: Ist die Freud-Ottorego, die an der Volksuniversität englische Kurse abhält, vielleicht Ihre Tochter? Und zum ersten Male in unserem langen Verkehr läßt er meinem Namen die Entstellung widerfahren, an die mich Behörden, Ämter und Schriftsetzer allerdings gewöhnt haben; er sagt anstatt Freud — Freund.
Zweitens: Am Ende derselben Stunde erzählt er einen Traum, aus dem er mit Angst erwacht ist, einen richtigen Alptraum, meint er. Er fügt hinzu, daß er unlängst das englische Wort dafür vergessen und einem Fragenden die Auskunft gegeben, Alptraum heiße im Englischen „a mare's nest“. Das sei natürlich ein Unsinn, a mare's nest bedeute eine unglaubliche, eine Räubergeschichte, die Übersetzung von Alptraum laute „night-mare“. Dieser Einfall scheint mit dem Früheren nichts anderes gemein zu haben als das Element: englisch; mich muß er aber an einen kleinen Vorfall etwa einen Monat vorher erinnern. P. saß bei mir im Zimmer, als unvermutet ein anderer lieber Gast aus London, Dr. Ernest Jones, nach langer Trennung bei mir eintrat. Ich winkte ihm, ins andere Zimmer zu gehen, bis ich mit P. abgeredet hatte. Der erkannte ihn aber sofort nach seiner im Wartezimmer hängenden Photographie und sprach sogar den Wunsch aus, ihm vorgestellt zu werden. Nun ist Jones der Verfasser einer Monographie über den Alptraum — night-mare; ich wußte nicht, ob sie P. bekannt geworden war. Er vermied es, analytische Bücher zu lesen.
Ich möchte vor Ihnen zunächst untersuchen, welches analytische Verständnis sich für den Zusammenhang von P.'s Einfällen und für ihre Motivierung gewinnen läßt. P. war auf den Namen Forsyte oder Forsyth ähnlich wie ich eingestellt, er bedeutete ihm dasselbe, ich verdankte ihm überhaupt die Bekanntschaft mit diesem Namen. Der merkwürdige Tatbestand war, daß er diesen Namen unvermittelt in die Analyse brachte, die kürzeste Zeit, nachdem er mir durch ein neues Ereignis, die Ankunft des Londoner Arztes, in einem anderen Sinne bedeutungsvoll geworden war. Aber vielleicht nicht minder interessant als die Tatsache selbst ist die Art, wie der Name in seiner Analysenstunde auftrat. Er sagte nicht etwa: Jetzt fällt mir der Name Forsyte aus den Ihnen bekannten Romanen ein, sondern er wußte ihn ohne jede bewußte Beziehung zu dieser Quelle mit seinen eigenen Erlebnissen zu verflechten und brachte ihn von daher zum Vorschein, was längst hätte geschehen können und bisher nicht geschehen war. Dann aber sagte er: Ich bin auch ein Forsyth, das Mädchen nennt mich ja so. Es ist schwer, die Mischung von eifersüchtigem Anspruch und wehmütiger Selbstherabsetzung zu verkennen, die sich in dieser Äußerung Ausdruck schafft. Man wird nicht irregehen, wenn man sie etwa so vervollständigt: Es kränkt mich, daß Ihre Gedanken sich so intensiv mit dem Ankömmling beschäftigen. Kehren Sie doch zu mir zurück, ich bin ja auch ein Forsyth — allerdings nur ein Herr von Vorsicht, wie das Mädchen sagt. Und nun greift sein Gedankengang am Assoziationsfaden des Elements: englisch auf zwei frühere Gelegenheiten zurück, die die gleiche Eifersucht rege machen konnten. „Vor einigen Tagen haben Sie einen Besuch in meinem Haus gemacht, aber leider nicht bei mir, bei einem Herrn v. Freund.“ Dieser Gedanke läßt ihn den Namen Freud in Freund verfälschen. Die Freud-Ottorego im Vorlesungsverzeichnis muß herhalten, weil sie als Lehrerin des Englischen die manifeste Assoziation vermittelt. Und dann schließt sich die Erinnerung an einen anderen Besucher einige Wochen vorher an, auf den er gewiß ebenso eifersüchtig war, dem er sich aber gleichfalls nicht gewachsen fühlen konnte, denn der Dr. Jones verstand es, eine Abhandlung über den Alptraum zu schreiben, während er solche Träume höchstens selbst produzierte. Auch die Erwähnung seines Irrtums in der Bedeutung von „a mare's nest“ gehört in denselben Zusammenhang, sie kann nur sagen wollen: Ich bin ja doch kein richtiger Engländer, so wenig wie ich ein richtiger Forsyth bin.
Ich kann nun seine Eifersuchtsregungen weder als unangemessen noch als unverständlich bezeichnen. Er war darauf vorbereitet worden, daß seine Analyse und damit unser Verkehr ein Ende finden werden, sobald wieder fremde Schüler und Patienten nach Wien kämen, und so geschah es auch wirklich bald hernach. Aber was wir bisher geleistet haben, war ein Stück analytischer Arbeit, die Aufklärung von drei in derselben Stunde vorgebrachten, von demselben Motiv gespeisten Einfällen, und es hat nicht viel mit der anderen Frage zu tun, ob diese Einfälle ohne Gedankenübertragung ableitbar sind oder nicht. Letztere stellt sich zu jedem der drei Einfälle ein und zerlegt sich somit in drei Einzelfragen: Konnte P. wissen, daß Dr. Forsyth eben seinen ersten Besuch bei mir gemacht hatte? Konnte er wissen, welches der Name der Person war, die ich in seinem Hause besucht hatte? Wußte er, daß Dr. Jones eine Abhandlung über den Alptraum geschrieben hatte? Oder war es nur mein Wissen um diese Dinge, das sich in seinen Einfällen verriet? Von der Beantwortung dieser drei Einzelfragen wird es abhängen, ob meine Beobachtung einen Schluß zu Gunsten der Gedankenübertragung erlaubt. Lassen wir die erste Frage noch eine Weile beiseite, die beiden anderen sind leichter zu behandeln. Der Fall des Besuchs in der Pension macht auf den ersten Blick einen besonders zuverlässigen Eindruck. Ich bin sicher, daß ich in meiner kurzen, scherzenden Erwähnung des Besuchs in seinem Haus keinen Namen genannt habe; ich halte es für sehr unwahrscheinlich, daß P. sich in der Pension nach dem Namen der betreffenden Person erkundigt hat, ich glaube eher, daß ihm die Existenz derselben völlig unbekannt geblieben ist. Aber die Beweiskraft dieses Falles wird durch eine Zufälligkeit gründlich zerstört. Der Mann, den ich in der Pension besucht hatte, hieß nicht nur Freund, er war auch uns allen ein wahrer Freund. Es war Dr. Anton v. Freund, dessen Spende die Gründung unseres Verlags ermöglicht hatte. Sein früher Tod wie der unseres Karl Abraham einige Jahre später waren die schwersten Unglücksfälle, die die Entwicklung der Psychoanalyse betroffen haben. Ich mag also Herrn P. damals gesagt haben: Ich habe in Ihrem Hause einen Freund besucht, und mit dieser Möglichkeit entfällt das okkultistische Interesse an seiner zweiten Assoziation.
Auch der Eindruck des dritten Einfalles verflüchtigt sich bald. Konnte P. wissen, daß Jones eine Abhandlung über den Alptraum veröffentlicht hat, da er nie analytische Literatur las? Ja, er konnte es wissen. Er besaß Bücher aus unserem Verlag, konnte immerhin die Titel der auf den Umschlägen angekündigten Neuerscheinungen gesehen haben. Es ist nicht zu erweisen, aber auch nicht abzuweisen. Auf diesem Weg werden wir also zu keiner Entscheidung kommen. Ich muß bedauern, daß meine Beobachtung an dem nämlichen Fehler leidet wie so viele ähnliche. Sie ist zu spät niedergeschrieben und ist diskutiert worden zu einer Zeit, da ich Herrn P. nicht mehr sah und ihn nicht weiter befragen konnte.
Kehren wir also zum ersten Vorfall zurück, der den scheinbaren Tatbestand der Gedankenübertragung auch isoliert aufrechthält. Konnte P. wissen, daß Doktor Forsyth eine Viertelstunde vor ihm bei mir gewesen war? Konnte er überhaupt von seiner Existenz oder Anwesenheit in Wien wissen? Der Neigung, beides glatt zu verneinen, darf man nicht nachgeben. Ich sehe doch einen Weg, der zu einer teilweisen Bejahung führt. Ich könnte doch Herrn P. die Mitteilung gemacht haben, daß ich einen Arzt aus England zum Unterricht in der Analyse erwarte, als erste Taube nach der Sintflut. Das könnte im Sommer 1919 gewesen sein; Dr. Forsyth hatte sich Monate vor seinem Eintreffen brieflich mit mir verständigt. Ich mag sogar seinen Namen genannt haben, obwohl mir das sehr unwahrscheinlich ist. Bei der anderweitigen Bedeutung dieses Namens für uns beide hätte sich an die Namensnennung eine Unterhaltung knüpfen müssen, von der mir etwas im Gedächtnis geblieben wäre. Immerhin mag es geschehen sein und ich es dann gründlich vergessen haben, so daß mich der Herr von Vorsicht in der Analysenstunde wie ein Wunder berühren konnte. Wenn man sich für einen Skeptiker hält, tut man gut daran, gelegentlich auch an seiner Skepsis zu zweifeln. Vielleicht gibt es auch bei mir die geheime Neigung zum Wunderbaren, die der Schaffung okkulter Tatbestände so entgegenkommt.
Ist so ein Stück des Wunderbaren aus dem Weg geräumt, so harrt unser noch ein anderes Stück, das schwierigste von allen. Angenommen, Herr P. habe gewußt, es gebe einen Dr. Forsyth und er werde im Herbst in Wien erwartet, wie erklärt es sich, daß er für ihn gerade am Tage seiner Ankunft und unmittelbar nach seinem ersten Besuch empfänglich wird? Man kann sagen, das ist Zufall, d. h. man läßt es unerklärt — aber ich habe jene zwei anderen Einfälle von P. gerade darum erörtert, um den Zufall auszuschließen, um Ihnen zu zeigen, daß er wirklich mit eifersüchtigen Gedanken über Leute, die mich besuchen und die ich besuche, beschäftigt war; oder man kann, um das Äußerste des Möglichen nicht zu vernachlässigen, die Annahme versuchen, P. habe eine besondere Erregung an mir gemerkt, von der ich freilich nichts weiß, und aus ihr seinen Schluß gezogen. Oder Herr P., der ja nur eine Viertelstunde nach dem Engländer ankam, sei ihm auf dem kleinen Stück des beiden gemeinsamen Weges begegnet, habe ihn nach seinem charakteristisch englischen Aussehen erkannt und, beständig auf seine eifersüchtige Erwartung eingestellt, gedacht: Also das ist der Dr. Forsyth, mit dessen Ankunft meine Analyse zu Ende kommen soll. Und wahrscheinlich kommt er gerade jetzt vom Professor. Weiter kann ich mit diesen rationalistischen Mutmaßungen nicht gehen. Es bleibt wiederum bei einem non liquet, aber ich muß es bekennen, nach meiner Empfindung neigt sich die Waagschale auch hier zu Gunsten der Gedankenübertragung. Übrigens bin ich gewiß nicht der Einzige, der in die Lage gekommen ist, solche „okkulte“ Vorkommnisse in der analytischen Situation zu erleben. Helene Deutsch hat 1926 ähnliche Beobachtungen bekannt gemacht und deren Bedingtheit durch die Beziehungen der Übertragung zwischen Patienten und Analytiker studiert.
Ich bin überzeugt, Sie werden mit meiner Einstellung zu diesem Problem: nicht völlig überzeugt und doch zur Überzeugung bereit, nicht sehr zufrieden sein. Vielleicht sagen Sie sich: Das ist wieder so ein Fall, daß ein Mensch, der sein Leben lang rechtschaffen als Naturforscher gearbeitet hat, im Alter schwachsinnig, fromm und leichtgläubig wird. Ich weiß, einige große Namen gehören in diese Reihe, aber mich sollen Sie nicht dazu rechnen. Fromm wenigstens bin ich nicht geworden, ich hoffe, auch nicht leichtgläubig. Nur, wenn man sich sein Leben lang gebückt gehalten hat, um einem schmerzhaften Zusammenstoß mit den Tatsachen auszuweichen, so behält man auch im Alter den krummen Rücken, der sich vor neuen Tatsächlichkeiten beugt. Ihnen wäre es gewiß lieber, ich hielte an einem gemäßigten Theismus fest und zeigte mich unerbittlich in der Ablehnung alles Okkulten. Aber ich bin unfähig, um Gunst zu werben, ich muß Ihnen nahelegen, über die objektive Möglichkeit der Gedankenübertragung und damit auch der Telepathie freundlicher zu denken.
Sie vergessen nicht, daß ich diese Probleme hier nur insoweit behandelt habe, als man sich ihnen von der Psychoanalyse her annähern kann. Als sie vor länger als zehn Jahren zuerst in meinen Gesichtskreis traten, verspürte auch ich die Angst vor einer Bedrohung unserer wissenschaftlichen Weltanschauung, die im Falle, als sich Stücke des Okkultismus bewahrheiten, dem Spiritismus oder der Mystik den Platz räumen müßte. Ich denke heute anders; ich meine, es zeugt von keiner großen Zuversicht zur Wissenschaft, wenn man ihr nicht zutraut, daß sie auch aufnehmen und verarbeiten kann, was sich etwa an den okkulten Behauptungen als wahr herausstellt. Und was besonders die Gedankenübertragung betrifft, so scheint sie die Ausdehnung der wissenschaftlichen — Gegner sagen: mechanistischen — Denkweise auf das so schwer faßbare Geistige geradezu zu begünstigen. Der telepathische Vorgang soll ja darin bestehen, daß ein seelischer Akt der einen Person den nämlichen seelischen Akt bei einer anderen Person anregt. Was zwischen den beiden seelischen Akten liegt, kann leicht ein physikalischer Vorgang sein, in den sich das Psychische an einem Ende umsetzt und der sich am anderen Ende wieder in das gleiche Psychische umsetzt. Die Analogie mit anderen Umsetzungen wie beim Sprechen und Hören am Telephon wäre dann unverkennbar. Und denken Sie, wenn man dieses physikalischen Äquivalents des psychischen Akts habhaft werden könnte! Ich möchte sagen, durch die Einschiebung des Unbewußten zwischen das Physikalische und das bis dahin „psychisch“ Genannte hat uns die Psychoanalyse für die Annahme solcher Vorgänge wie die Telepathie vorbereitet. Gewöhnt man sich erst an die Vorstellung der Telepathie, so kann man mit ihr viel ausrichten, allerdings vorläufig nur in der Phantasie. Man weiß bekanntlich nicht, wie der Gesamtwille in den großen Insektenstaaten zustande kommt. Möglicherweise geschieht es auf dem Wege solch direkter psychischer Übertragung. Man wird auf die Vermutung geführt, daß dies der ursprüngliche, archaische Weg der Verständigung unter den Einzelwesen ist, der im Lauf der phylogenetischen Entwicklung durch die bessere Methode der Mitteilung mit Hilfe von Zeichen zurückgedrängt wird, die man mit den Sinnesorganen aufnimmt. Aber die ältere Methode könnte im Hintergrund erhalten bleiben und sich unter gewissen Bedingungen noch durchsetzen, z. B. auch in leidenschaftlich erregten Massen. Das ist alles noch unsicher und voll von ungelösten Rätseln, aber es ist kein Grund zum Erschrecken.
Wenn es eine Telepathie als realen Vorgang gibt, so kann man trotz ihrer schweren Erweisbarkeit vermuten, daß sie ein recht häufiges Phänomen ist. Es würde unseren Erwartungen entsprechen, wenn wir sie gerade im Seelenleben des Kindes aufzeigen könnten. Man wird da an die häufige Angstvorstellung der Kinder erinnert, daß die Eltern alle ihre Gedanken kennen, ohne daß sie sie ihnen mitgeteilt hätten, das volle Gegenstück und vielleicht die Quelle des Glaubens Erwachsener an die Allwissenheit Gottes. Vor kurzem hat eine vertrauenswürdige Frau, Dorothy Burlingham, in einem Aufsatz „Kinderanalyse und Mutter“ Beobachtungen mitgeteilt, die, wenn sie sich bestätigen lassen, dem restlichen Zweifel an der Realität der Gedankenübertragung ein Ende machen müssen. Sie machte sich die nicht mehr seltene Situation zunutze, daß sich Mutter und Kind gleichzeitig in Analyse befinden, und berichtet aus derselben merkwürdige Vorfälle wie den folgenden: Eines Tages erzählt die Mutter in ihrer Analysenstunde von einem Goldstück, das in einer ihrer Kinderszenen eine bestimmte Rolle spielt. Gleich darauf, nachdem sie nach Hause gekommen ist, kommt ihr kleiner, etwa zehnjähriger Junge zu ihr ins Zimmer und bringt ihr ein Goldstück, das sie für ihn aufbewahren soll. Sie fragt ihn erstaunt, woher er es hat. Er hat es zu seinem Geburtstag bekommen, aber der Geburtstag des Kindes liegt mehrere Monate zurück und es ist kein Anlaß, warum sich das Kind gerade jetzt an das Goldstück erinnert haben sollte. Die Mutter verständigt die Analytikerin des Kindes von dem Zusammentreffen und bittet sie, beim Kind nach der Begründung jener Handlung zu forschen. Aber die Analyse des Kindes bringt keinen Aufschluß, die Handlung hatte sich wie ein Fremdkörper in das Leben des Kindes an jenem Tage eingedrängt. Einige Wochen später sitzt die Mutter am Schreibtisch, um sich, wozu man sie gemahnt hatte, eine Notiz über das geschilderte Erlebnis zu machen. Da kommt der Knabe herein und verlangt das Goldstück zurück, er möchte es in seine analytische Stunde mitnehmen, um es zu zeigen. Wiederum kann die Analyse des Kindes keinen Zugang zu diesem Wunsch auffinden.
Und damit wären wir zur Psychoanalyse zurückgekommen, von der wir ausgegangen sind.