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Der Gesichtspunkt, aus dem wir das Altertum anzusehen haben

Wir träumen von Bildung, Frömmigkeit pp. und haben gar keine, sie ist angenommen — wir träumen von Originalität und Selbstständigkeit, wir glauben lauter Neues zu sagen, und alles dies ist doch Reaktion, gleichsam eine milde Rache gegen die Knechtschaft, womit [wir] uns verhalten haben gegen das Altertum. Es scheint wirklich fast keine andere Wahl offen zu sein, [als] erdrückt zu werden von Angenommenem und Positivem, oder mit gewaltsamer Anmassung sich gegen alles Erlernte, Gegebene, Positive als lebendige Kraft entgegenzusetzen. Das Schwerste dabei scheint, dass das Altertum ganz unserem ursprünglichen Triebe entgegenzusein scheint, der darauf geht, das Ungebildete zu bilden, das Ursprüngliche, Natürliche zu vervollkommnen, so dass der zur Kunst geborene Mensch natürlicher weise und überall sich lieber mehr das Rohe, Ungelehrte, Kindliche holt, als einen gebildeten Stoff, wo ihm, der bilden will, schon vorgearbeitet ist. Und was allgemeiner Grund vom Untergang aller Völker war, nämlich, dass ihre Originalität, ihre eigene lebendige Natur erlag unter den positiven Formen, unter dem Luxus, den ihre Väter hervorgebracht hatten1, das scheint auch unser Schicksal zu sein, nur in grösserem Masse, indem eine fast grenzenlose Vorwelt, die wir entweder durch Unterricht [oder] durch Erfahrung innewerden, auf uns wirkt und drückt2. Von der andern Seite scheint nichts günstiger zu sein, als gerade diese Umstände, in denen wir uns befinden.

Es ist nämlich ein Unterschied, ob jener Bildungstrieb blind wirkt, oder mit Bewusstsein, ob er weiss, woraus er hervorging und wohin er strebt. Denn dies ist der einzige Fehler der Menschen, dass ihr Bildungstrieb sich verirrt, eine falsche, überhaupt unwürdige Richtung nimmt, oder doch seine eigentümliche Stelle verfehlt, oder, wenn er diese gefunden hat, auf halbem Wege, bei den Mitteln, die ihn zu seinem Zwecke führen sollten, stehen bleibt3. Dass dieses in hohem Grade weniger geschehe4, wird dadurch gesichert, dass wir wissen, wovon und worauf jener Bildungstrieb überhaupt ausgehe, dass wir die wesentlichsten Richtungen kennen, in denen er seinem Ziele entgegengeht, dass uns auch die Umwege oder Abwege, die er nehmen kann, nicht unbekannt sind, dass wir alles, was vor und um uns aus jenem Triebe hervorgegangen ist, betrachten als aus dem gemeinschaftlichen ursprünglichen Grunde hervorgegangen, woraus er mit seinen Produkten überall hervorgeht, dass wir die wesentlichsten Richtungen, die er vor und um uns nahm, auch seine Verirrungen um uns her erkennen, und nun, aus demselben Grunde, den wir, lebendig und überall gleich, als den Ursprung alles Bildungstrieb[s] annehmen, unsere eigene Richtung uns vorsetzen, die bestimmt wird durch die vorhergegangenen reinen und unreinen Richtungen, die wir aus Einsicht nicht wiederholen5, so dass wir im Urgrunde aller Werke und Taten der Menschen uns gleich und einig fühlen mit allen, sie seien so gross oder so klein, aber in der besonderen Richtung6, die wir nehmen ———
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  1. Beispiele lebhaft dargestellt.
  2. Ausführung.
  3. Beispiele lebhaft.
  4. Vorzüglich ins Auge zu fassen!
  5. Die reinen Richtungen wiederholen wir nicht, weil ———
  6. Unsere besondere Richtung: Handeln. Reaktion gegen positives Beleben des Toten durch reelle Wechselvereinigung desselben.