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Über den Begriff der Strafe

Es scheint, als wäre die Nemesis der Alten nicht sowohl um ihrer Furchtbarkeit als um ihres geheimnisvollen Ursprungs willen als eine Tochter der Nacht dargestellt worden.

Es ist das notwendige Schicksal aller Feinde der Prinzipien, dass sie mit allen ihren Behauptungen in einen Zirkel geraten. (Beweis.) Im gegenwärtigen Falle würd’ es bei ihnen lauten: Das Leiden rechtmässigen Widerstands ist die Folge böser Handlungen. Böse Handlungen sind aber solche, worauf Strafe folgt. Und Strafe folgt da, wo böse Handlungen sind. Sie könnten unmöglich ein für sich bestehendes Kriterium der bösen Handlung angeben. Denn, wenn sie konsequent sind muss nach ihnen die Folge den Werth der Tat bestimmen. Wollen sie dies vermeiden, so müssen sie vom Prinzip ausgehen. Tun sie dies nicht, und bestimmen sie den Werth der Tat nach ihren Folgen, so sind diese Folgen — moralisch betrachtet — in nichts Höherem begründet, und die Rechtmässigkeit des Widerstands ist nichts mehr, als ein Wort, Strafe ist eben Strafe, und wenn mir der Mechanism oder der Zufall oder die Willkür, wie man will, etwas Unangenehmes zufügt, so weiss ich, dass ich bös gehandelt habe, ich habe nun weiter nichts mehr zu fragen, was geschiehet, geschiehet von Rechts wegen, weil es geschiehet.

Nun scheint es zwar, als ob wirklich so etwas der Fall wäre, da wo der ursprüngliche Begriff der Strafte stattfindet, in dem moralischen Bewusstsein. Da kündet sich uns ziemlich das Sittengesetz negativ an, und kann, als unendlich, sich nicht anders uns ankündigen1. Wir sollen etwas nicht wollen, das ist seine unmittelbare Stimme an uns. Wir müssen also etwas wollen, dem das Sittengesetz sich entgegengesetzt. Was das Sittengesetz ist, wussten wir aber weder zuvor ehe es sich unserem Willen entgegensetzte, noch wissen wir es jetzt da es sich uns entgegensetzt, wir leiden nur seinen Widerstand, als die Folge von dem, dass wir etwas wollten, das dem Sittengesetz entgegen ist, wir bestimmen nach dieser Folge den Werth unseres Wollens; weil wir Widerstand litten, betrachten wir unsern Willen als böse, wir können die Rechtmäßigkeit jenes Widerstands, wie es scheint, nicht weiter untersuchen, und wenn dies der Fall ist, so kennen wir ihn nur daran, dass wir leiden; er unterscheidet sich nicht von jedem andern Leiden, und mit eben dem Rechte, womit ich vom Widerstande, den ich den Widerstand des Sittengesetzes nenne, auf einen bösen Willen schliesse, schliesse ich von jedem erlittenen Widerstande auf einen bösen Willen. Alles Leiden ist Strafe.

Es ist aber ein Unterschied zwischen dem Erkentnisgrunde und Realgrunde2. Es ist nichts weniger, als identisch, wenn ich sage, das Eine mal: ich erkenne das Gesetz an seinem Widerstande, und das andre mal: ich erkenne das Gesetz um seines Widerstandes willen an. Nur die sind den obigen Zirkel zu machen genötiget, für die der Widerstand des Gesetzes Realgrund des Gesetzes ist. Für sie findet das Gesetz gar nicht statt, wenn sie nicht seinen Widerstand erfahren, ihr Wille ist nur darum gesetzwidrig, weil sie diese Gesetzwidrigkeit bewusst empfinden; leiden sie keine Strafe, so sind sie auch nicht böse. Strafe ist, was auf das Böse folgt. Und bös ist, worauf Strafe folgt.

Es scheint dann aber doch mit der Unterscheidung zwischen dem Erkenntnisgrunde und Realgrunde wenig geholfen zu sein. Wenn der Widerstand des Gesetzes gegen meinen Willen Strafe ist und ich also an der Strafe erst das Gesetz erkenne, so fragt sich, einmal: kann ich an der Strafe das Gesetz erkennen? und dann: wie kann ich bestraft werden für die Übertretung eines Gesetzes, das ich nicht kannte?

Hierauf kann geantwortet [werden] dass man, in so fern man sich als bestraft betrachte, notwendig die Übertretung des Gesetzes in sich voraussetze, dass man in der Strafe, insofern man sie als Strafe beurteile, notwendig das ——————


  1. Im Faktum ist aber das Gesetz tätiger Wille. Denn ein Gesetz ist nicht tätig, es ist nur die vorgestellte Tätigkeit. Dieser tätige Wille muß gegen eine andre Tätigkeit des Willens gehen.
  2. ideal ohne Strafe kein Gesez, real ohne Gesetz keine Strafe.