25. Die moderne Kolonisationstheorie

 

Wo bleibt unter solchen Käuzen das "Entsagungsfeld" für den Kapitalisten?

Die große Schönheit der kapitalistischen Produktion besteht darin, daß sie nicht nur beständig den Lohnarbeiter als Lohnarbeiter reproduziert, sondern im Verhältnis zur Akkumulation des Kapitals stets eine relative Übervölkerung von Lohnarbeitern produziert. So wird das Gesetz von Arbeitsnachfrage und Zufuhr in richtigem Gleis gehalten, die Lohnschwankung innerhalb der kapitalistischen Exploitation zusagende Schranken gebannt und endlich die so unentbehrliche soziale Abhängigkeit des Arbeiters vom Kapitalisten verbürgt, ein absolutes Abhängigkeitsverhältnis, das der politische Ökonom zu Haus, im Mutterland, breimäulig umlügen kann in ein freies Kontraktverhältnis von Käufer und Verkäufer, von gleich unabhängigen Warenbesitzern, Besitzern der Ware Kapital und der Ware Arbeit. Aber in den Kolonien reißt der schöne Wahn entzwei. Die absolute Bevölkerung wächst hier viel rascher als im Mutterland, indem viele Arbeiter erwachsen auf die Welt kommen, und dennoch ist der Arbeitsmarkt stets untervoll. Das Gesetz der Arbeitsnachfrage und Zufuhr gerät in die Brüche. Einerseits wirft die alte Welt fortwährend exploitationslustiges, entsagungebedürftiges Kapital ein; andrerseits stößt die regelmäßige Reproduktion der Lohnarbeiter als Lohnarbeiter auf die unartigsten und teilweis unüberwindliche Hindernisse. Und nun gar die Produktion von überzähligen Lohnarbeitern im Verhältnis zur Akkumulation des Kapitals! Der Lohnarbeiter von heute wird morgen unabhängiger, selbstwirtschaftender Bauer oder Handwerker. Er verschwindet vom Arbeitsmarkt, aber - nicht ins Workehouse. Diese beständige Verwandlung der Lohnarbeiter in unabhängige Produzenten, die statt für das Kapital, für sich selbst arbeiten, und statt den Herrn Kapitalisten sich selbst bereichern, wirkt ihrerseits durchaus schadhaft auf die Zustände des Arbeitsmarkts zurück. Nicht nur bleibt der Exploitationsgrad des Lohnarbeiters unanständig niedrig. Der letztre verliert obendrein mit dem Abhängigkeitsverhältnis auch das Abhängigkeitsgefühl vom entsagenden Kapitalisten. Daher alle Mißstände, die unser E. G. Wakefield so brav, so beredt und so rührend schildert.

Die Zufuhr von Lohnarbeit, klagt er, ist weder beständig noch regelmäßig, noch genügend. Sie "ist stets nicht nur zu klein, sondern unsicher"265).

"Obgleich das zwischen Arbeiter und Kapitalist zu teilende Produkt groß ist, nimmt der Arbeiter einen so großen Teil, daß er rasch ein Kapitalist wird ... Dagegen können wenige, selbst wenn sie ungewöhnlich lang leben, große Reichtumsmassen akkumulieren."266)

Die Arbeiter erlauben den Kapitalisten platterdings nicht, auf Zahlung des größten Teils ihrer Arbeit zu entsagen. Es hilft ihm nichts, wenn er so schlau ist, mit seinem eignen Kapital auch seine eignen Lohnarbeiter aus Europa zu importieren.

"Sie hören bald auf, Lohnarbeiter zu sein, sie verwandeln sich bald in unabhängige Bauern oder gar in Konkurrenten ihrer alten Meister auf dem Lohnarbeitsmarkt selbst."267)

Man begreife den Greuel! Der brave Kapitalist hat seine eignen leibhaftigen Konkurrenten selbst aus Europa für sein eignes gutes Geld importiert! Da hört denn doch alles auf! Kein Wunder, wenn Wakefield klagt über mangelndes Abhängigkeitsverhältnis und Abhängigkeitsgefühl der Lohnarbeiter in den Kolonien. Wegen der hohen Löhne, sagt sein Schüler Merivale, existiert in den Kolonien der leidenschaftliche Drang nach wohlfeilerer und unterwürfigerer Arbeit, nach einer Klasse, welcher der Kapitalist die Bedingungen diktieren kann, statt sie von ihr diktiert zu erhalten ... In altzivilisierten Ländern ist der Arbeiter, obgleich frei, naturgesetzlich abhängig vom Kapitalisten, in Kolonien muß diese Abhängigkeit durch künstliche Mittel geschaffen werden.268)

Was ist nun, nach Wakefield, die Folge dieses Mißstands in den Kolonien? Ein "barbarisches System der Zerstreuung" der Produzenten und des Nationalvermögens.269) Die Zersplitterung der Produktionsmittel unter unzählige, selbstwirtschaftende Eigentümer vernichtet mit der Zentralisation des Kapitals alle Grundlage kombinierter Arbeit. Jedes langatmige Unternehmen, das sich über Jahre erstreckt und Auslage von fixem Kapital erheischt, stößt auf Hindernisse der Ausführung. In Europa zögert das Kapital keinen Augenblick, denn die Arbeiterklasse bildet sein lebendiges Zubehör, stets im Überfluß da, stets zur Verfügung. Aber in den Kolonialländern! Wakefield erzählt eine äußerst schmerzensreiche Anekdote. Er unterhielt sich mit einigen Kapitalisten von Kanada und dem Staat New York, wo zudem die Einwanderungswogen oft stocken und einen Bodensatz "überzähliger" Arbeiter niederschlagen.

"Unser Kapital", seufzt eine der Personen des Melodramas, "unser Kapital lag bereit für viele Operationen, die eine beträchtliche Zeitperiode zu ihrer Vollendung brauchen; aber konnten wir solche Operationen beginnen mit Arbeitern, welche, wir wußten es, uns bald den Rücken wenden würden? Wären wir sicher gewesen, die Arbeit solcher Einwandrer festhalten zu können, wir hätten sie mit Freude sofort engagiert und zu hohem Preis. Ja, trotz der Sicherheit ihres Verlustes würden wir sie dennoch engagiert haben, wären wir einer frischen Zufuhr je nach unsrem Bedürfnis sicher gewesen."270)

Nachdem Wakefield die englische kapitalistische Agrikultur und ihre "kombinierte" Arbeit prunkvoll kontrastiert hat mit der zerstreuten amerikanischen Bauernwirtschaft, entschlüpft ihm auch die Kehrseite der Medaille. Er schildert die amerikanische Volksmasse als wohlhabend, unabhängig, unternehmend und relativ gebildet, während

"der englische Agrikulturarbeiter ein elender Lump (a miserable wretch) ist, ein Pauper ... In welchem Land außer Nordamerika und einigen neuen Kolonien übersteigen die Löhne der auf dem Land angewandten freien Arbeit nennenswert die unentbehrlichsten Subsistenzmittel des Arbeiters? ... Zweifelsohne, Ackerpferde in England, da sie ein wertvolles Eigentum sind, werden viel besser genährt als der englische Landbebauer."271)

Aber never mind, Nationalreichtum ist nun einmal von Natur identisch mit Volkselend.

Wie nun den antikapitalistischen Krebsschaden der Kolonien heilen? Wollte man allen Grund und Boden mit einem Schlag aus Volkseigentum in Privateigentum verwandeln, so zerstörte man zwar die Wurzel des Übels, aber auch - die Kolonie. Die Kunst ist, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Man gebe von Regierungs wegen der jungfräulichen Erde einen vom Gesetz der Nachfrage und Zufuhr unabhängigen, einen künstlichen Preis, welcher den Einwandrer zwingt, längere Zeit zu lohnarbeiten, bis er genug Geld verdienen kann, um Grund und Boden zu kaufen 272) und sich in einen unabhängigen Bauern zu verwandeln. Den Fonds, der aus dem Verkauf der Ländereien zu einem für den Lohnarbeiter relativ prohibitorischen Preis fließt, also diesen aus dem Arbeitslohn durch Verletzung des heiligen Gesetzes von Nachfrage und Zufuhr erpreßten Geldfonds, verwende die Regierung andrerseits, um im selben Maß, wie er wächst, Habenichtse aus Europa in die Kolonien zu importieren und so dem Herrn Kapitalisten seinen Lohnarbeitsmarkt vollzuhalten. Unter diesen Umständen tout sera pour le mieux dans le meilleur des mondes possibles. Dies ist das große Geheimnis der "systematischen Kolonisation".

"Nach diesem Plan", ruft Wakefield triumphierend aus, "muß die Zufuhr von Arbeit konstant und regelmäßig sein; denn erstens, da kein Arbeiter fähig ist, sich Land zu verschaffen, bevor er für Geld gearbeitet hat, würden alle einwandernden Arbeiter dadurch, daß sie für Lohn kombiniert arbeiten, ihrem Anwender Kapital zur Anwendung von mehr Arbeit produzieren; zweitens jeder, der die Lohnarbeit an den Nagel hinge und Grundeigner würde, würde grade durch den Ankauf des Landes einen Fonds zur Herüberbringung frischer Arbeit nach den Kolonien sichern."273)

Der von Staats wegen oktroyierte Bodenpreis muß natürlich "genügend" (sufficient price) sein, d.h. so hoch, "daß er die Arbeiter verhindert, unabhängige Bauern zu werden, bis andre da sind, um ihren Platz auf dem Lohnarbeitsmarkt einzunehmen"274). Dieser "genügende Bodenpreis" ist nichts als eine euphemistische Umschreibung des Lösegelds, welches der Arbeiter dem Kapitalisten zahlt für die Erlaubnis, sich vom Lohnarbeitsmarkt aufs Land zurückzuziehn. Erst muß er dem Herrn Kapitalisten "Kapital" schaffen, damit er mehr Arbeiter ausbeuten könne, und dann auf dem Arbeitsmarkt einen "Ersatzmann" stellen, den die Regierung auf seine Kosten seinem ehemaligen Herrn Kapitalisten über die See spediert.

Es ist höchst charakteristisch, daß die englische Regierung diese von Herrn Wakefield eigens zum Gebrauch in Kolonialländern verschriebene Methode der "ursprünglichen Akkumulation" jahrelang ausgeführt hat. Das Fiasko war natürlich ebenso schmählich als das des Peelschen Bankakts. Der Emigrationsstrom wurde nur von den englischen Kolonien nach den Vereinigten Staaten abgelenkt. Unterdes hat der Fortschritt der kapitalistischen Produktion in Europa, begleitet von wachsendem Regierungsdruck, Wakefields Rezept überflüssig gemacht. Einerseits läßt der ungeheure und kontinuierliche Menschenstrom, jahraus, jahrein nach Amerika getrieben, stockende Niederschläge im Osten der Vereinigten Staaten zurück, indem die Emigrationswelle von Europa die Menschen rascher dorthin auf den Arbeitsmarkt wirft, als die Emigrationswelle nach dem Westen sie abspülen kann. Andrerseits hat der Amerikanische Bürgerkrieg eine kolossale Nationalschuld in seinem Gefolge gehabt und mit ihr Steuerdruck, Erzeugung der allergemeinsten Finanzaristokratie, Verschenkung eines ungeheuren Teils der öffentlichen Ländereien an Spekulanten-Gesellschaften zur Ausbeutung von Eisenbahnen, Bergwerken etc. - kurz die rascheste Zentralisation des Kapitals. Die große Republik hat also aufgehört, das gelobte Land für auswandernde Arbeiter zu sein. Die kapitalistische Produktion geht dort mit Riesenschritten voran, wenn auch Lohnsenkung und Abhängigkeit des Lohnarbeiters noch lange nicht auf das europäische Normalniveau heruntergebracht sind. Die von Wakefield selbst so laut denunzierte, schamlose Verschleuderung des unbebauten Kolonialbodens an Aristokraten und Kapitalisten seitens der englischen Regierung hat namentlich in Australien 275), zusammen mit dem Menschenstrom, den die Gold-Diggings hinziehn, und der Konkurrenz, welche der Import englischer Waren selbst dem kleinsten Handwerker macht, eine hinreichende "relative Abeiterübervölkerung" erzeugt, so daß fast jedes Postdampfschiff die Hiobspost einer Überfüllung des australischen Arbeitsmarktes - "glut of the Australian labour-market" - bringt, und die Prostitution dort stellenweis so üppig gedeiht wie auf dem Haymarket von London.

Jedoch beschäftigt uns hier nicht der Zustand der Kolonien. Was uns allein interessiert, ist das in der neuen Welt von der politischen Ökonomie der alten Welt entdeckte und laut proklamierte Geheimnis: kapitalistische Produktions- und Akkumulationsweise, also auch kapitalistisches Privateigentum, bedingen die Vernichtung des auf eigner Arbeit beruhenden Privateigentums, d.h. die Expropriation des Arbeiters.

 


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