3. Progressive Produktion einer relativen Übervölkerung oder industriellen Reservearmee

 

Die Akkumulation des Kapitals, welche ursprünglich nur als seine quantitative Erweiterung erschien, vollzieht sich, wie wir gesehn, in fortwährendem qualitativen Wechsel seiner Zusammensetzung, in beständiger Zunahme seines konstanten auf Kosten seines variablen Bestandteils.80)

Die spezifisch kapitalistische Produktionsweise, die ihr entsprechende Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit, der dadurch verursachte Wechsel in der organischen Zusammensetzung des Kapitals halten nicht nur Schritt mit dem Fortschritt der Akkumulation oder dem Wachstum des gesellschaftlichen Reichtums. Sie schreiten ungleich schneller, weil die einfache Akkumulation oder die absolute Ausdehnung des Gesamtkapitals von der Zentralisation seiner individuellen Elemente, und die technische Umwälzung des Zusatzkapitals von technischer Umwälzung des Originalkapitals begleitet sind. Mit dem Fortgang der Akkumulation wandelt sich also das Verhältnis von konstantem zu variablem Kapitalteil, wenn ursprünglich 1:1, in 2:1, 3:1, 4:1, 5:1, 7:1 usw., so daß, wie das Kapital wächst, statt 1/2 seines Gesamtwerts progressiv nur 1/3, 1/4, 1/5, 1/6, 1/8 usw. in Arbeitskraft, dagegen 2/3, 3/4, 4/5, 5/6, 7/8 usw. in Produktionsmittel umgesetzt wird. Da die Nachfrage nach Arbeit nicht durch den Umfang des Gesamtkapitals, sondern durch den seines variablen Bestandteils bestimmt ist, fällt sie also progressiv mit dem Wachstum des Gesamtkapitals, statt, wie vorhin unterstellt, verhältnismäßig mit ihm zu wachsen. Sie fällt relativ zur Größe des Gesamtkapitals und in beschleunigter Progression mit dem Wachstum dieser Größe. Mit dem Wachstum des Gesamtkapitals wächst zwar auch sein variabler Bestandteil, oder die ihm einverleibte Arbeitskraft, aber in beständig abnehmender Proportion. Die Zwischenpausen, worin die Akkumulation als bloße Erweiterung der Produktion auf gegebner technischer Grundlage wirkt, verkürzen sich. Nicht nur wird eine in wachsender Progression beschleunigte Akkumulation des Gesamtkapitals erheischt, um eine zusätzliche Arbeiterzahl von gegebner Größe zu absorbieren oder selbst, wegen der beständigen Metamorphose des alten Kapitals, die bereits funktionierende zu beschäftigen. Ihrerseits schlägt diese wachsende Akkumulation und Zentralisation selbst wieder um in eine Quelle neuer Wechsel der Zusammensetzung des Kapitals oder abermalig beschleunigter Abnahme seines variablen Bestandteils, verglichen mit dem konstanten. Diese mit dem Wachstum des Gesamtkapitals beschleunigte und rascher als sein eignes Wachstum beschleunigte relative Abnahme seines variablen Bestandteils scheint auf der andren Seite umgekehrt stets rascheres absolutes Wachstum der Arbeiterbevölkerung als das des variablen Kapitals oder ihrer Beschäftigungsmittel. Die kapitalistische Akkumulation produziert vielmehr, und zwar im Verhältnis zu ihrer Energie und ihrem Umfang, beständig eine relative, d.h. für die mittleren Verwertungsbedürfnisse des Kapitals überschüssige, daher überflüssige oder Zuschuß-Arbeiterbevölkerung.

Das gesellschaftliche Gesamtkapital betrachtet, ruft die Bewegung seiner Akkumulation bald periodischen Wechsel hervor, bald verteilen sich ihre Momente gleichzeitig über die verschiednen Produktionssphären. In einigen Sphären findet Wechsel in der Zusammensetzung des Kapitals statt ohne Wachstum seiner absoluten Größe, infolge bloßer Konzentration [3. Auflage: Zentralisation]; in andren ist das absolute Wachstum des Kapitals mit absoluter Abnahme seines variablen Bestandteils oder der von ihm absorbierten Arbeitskraft verbunden; in andren wächst das Kapital bald auf seiner gegebnen technischen Grundlage fort und attrahiert zuschüssige Arbeitskraft im Verhältnis seines Wachstums, bald tritt organischer Wechsel ein und kontrahiert sich sein variabler Bestandteil; in allen Sphären ist das Wachstum des variablen Kapitalteils und daher der beschäftigten Arbeiterzahl stets verbunden mit heftigen Fluktuationen und vorübergehender Produktion von Übervölkerung, ob diese nun die auffallendere Form von Repulsion bereits beschäftigter Arbeiter annimmt oder die mehr unscheinbare, aber nicht minder wirksame, erschwerter Absorption der zuschüssigen Arbeiterbevölkerung in ihre gewohnten Abzugskanäle.81) Mit der Größe des bereits funktionierenden Gesellschaftskapitals und dem Grad seines Wachstums, mit der Ausdehnung der Produktionsleiter und der Masse der in Bewegung gesetzten Arbeiter, mit der Entwicklung der Produktivkraft ihrer Arbeit, mit dem breiteren und volleren Strom aller Springquellen des Reichtums dehnt sich auch die Stufenleiter, worin größere Attraktion der Arbeiter durch das Kapital mit größerer Repulsion derselben verbunden ist, nimmt die Raschheit der Wechsel in der organischen Zusammensetzung des Kapitals und seiner technischen Form zu, und schwillt der Umkreis der Produktionssphären, die bald gleichzeitig, bald abwechselnd davon ergriffen werden. Mit der durch sie selbst produzierten Akkumulation des Kapitals produziert die Arbeiterbevölkerung also in wachsendem Umfang die Mittel ihrer eignen relativen Überzähligmachung.82) Es ist dies ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümliches Populationsgesetz, wie in der Tat jede besondre historische Produktionsweise ihre besondren, historisch gültigen Populationsgesetze hat. Ein abstraktes Populationsgesetz existiert nur für Pflanze und Tier, soweit der Mensch nicht geschichtlich eingreift.

Wenn aber eine Surplusarbeiterpopulation notwendiges Produkt der Akkumulation oder der Entwicklung des Reichtums auf kapitalistischer Grundlage ist, wird diese Übervölkerung umgekehrt zum Hebel der kapitalistischen Akkumulation, ja zu einer Existenzbedingung der kapitalistischen Produktionsweise. Sie bildet eine disponible industrielle Reservearmee, die dem Kapital ganz so absolut gehört, als ob es sie auf seine eignen Kosten großgezüchtet hätte. Sie schafft für seine wechselnden Verwertungsbedürfnisse das stets bereite exploitable Menschenmaterial, unabhängig von den Schranken der wirklichen Bevölkerungszunahme. Mit der Akkumulation und der sie begleitenden Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit wächst die plötzliche Expansionskraft des Kapitals, nicht nur, weil die Elastizität des funktionierenden Kapitals wächst, und der absolute Reichtum, wovon das Kapital nur einen elastischen Teil bildet, nicht nur, weil der Kredit, unter jedem besondren Reiz, im Umsehn ungewöhnlichen Teil dieses Reichtums der Produktion als Zusatzkapital zur Verfügung stellt. Die technischen Bedingungen des Produktionsprozesses selbst, Maschinerie, Transportmittel usw. ermöglichen, auf größter Stufenleiter, die rascheste Verwandlung von Mehrprodukt in zuschüssige Produktionsmittel. Die mit dem Fortschritt der Akkumulation überschwellende und in Zusatzkapital verwandelbare Masse des gesellschaftlichen Reichtums drängt sich mit Frenesie in alte Produktionszweige, deren Markt sich plötzlich erweitert, oder in neu eröffnete, wie Eisenbahnen usw., deren Bedürfnis aus der Entwicklung der alten entspringt. In allen solchen Fällen müssen große Menschenmassen plötzlich und ohne Abbruch der Produktionsleiter in andren Sphären auf die entscheidenden Punkte werfbar sein. Die Übervölkerung liefert sie. Der charakteristische Lebenslauf der modernen Industrie, die Form eines durch kleinere Schwankungen unterbrochnen zehnjährigen Zyklus von Perioden mittlerer Lebendigkeit, Produktion unter Hochdruck, Krise und Stagnation, beruht auf der beständigen Bildung, großem oder geringem Absorption und Wiederbildung der industriellen Reservearmee oder Übervölkerung. Ihrerseits rekrutieren die Wechselfälle des industriellen Zyklus die Übervölkerung und werden zu einem ihrer energischsten Reproduktionsagentien.

Dieser eigentümliche Lebenslauf der modernen Industrie, der uns in keinem frühem Zeitalter der Menschheit begegnet, war auch in der Kindheitsperiode der kapitalistischen Produktion unmöglich. Die Zusammensetzung des Kapitals veränderte sich nur sehr allmählich. Seiner Akkumulation entsprach also im Ganzen verhältnismäßiges Wachstum der Arbeitsnachfrage. Langsam wie der Fortschritt seiner Akkumulation, verglichen mit der modernen Epoche, stieß er auf Naturschranken der exploitablen Arbeiterbevölkerung, welche nur durch später zu erwähnende Gewaltmittel wegräumbar waren. Die plötzliche und ruckweise Expansion der Produktionsleiter ist die Voraussetzung ihrer plötzlichen Kontraktion; letztere ruft wieder die erstere hervor, aber die erstere ist unmöglich ohne disponibles Menschenmaterial, ohne eine vom absoluten Wachstum der Bevölkerung unabhängige Vermehrung von Arbeitern. Sie wird geschaffen durch den einfachen Prozeß, der einen Teil der Arbeiter beständig "freisetzt", durch Methoden, welche die Anzahl der beschäftigten Arbeiter im Verhältnis zur vermehrten Produktion vermindern. Die ganze Bewegungsform der modernen Industrie erwächst also aus der beständigen Verwandlung eines Teils der Arbeiterbevölkerung in unbeschäftigte oder halbbeschäftigte Hände. Die Oberflächlichkeit der politischen Ökonomie zeigt sich u.a. darin, daß sie die Expansion und Kontraktion des Kredits, das bloße Symptom der Wechselperioden des industriellen Zyklus, zu deren Ursache macht. Ganz wie Himmelskörper, einmal in eine bestimmte Bewegung geschleudert, dieselbe stets wiederholen, so die gesellschaftliche Produktion, sobald sie einmal in jene Bewegung wechselnder Expansion und Kontraktion geworfen ist. Wirkungen werden ihrerseits zu Ursachen, und die Wechselfälle des ganzen Prozesses, der seine eignen Bedingungen stets reproduziert, nehmen die Form der Periodizität an.A28 Ist letztere einmal konsolidiert, so begreift selbst die politische Ökonomie die Produktion einer relativen, d.h. mit Bezug auf das mittlere Verwertungsbedürfnis des Kapitals überschüssigen Bevölkerung als Lebensbedingung der modernen Industrie.

"Gesetzt", sagt H. Merivale, früher Professor der politischen Ökonomie zu Oxford, später Beamter des englischen Kolonialministeriums, "gesetzt, bei Gelegenheit einer Krise raffe die Nation sich zu einer Kraftanstrengung auf, um durch Emigration einige 100000 überflüssige Arme loszuwerden, was würde die Folge sein? Daß bei der ersten Wiederkehr der Arbeitsnachfrage ein Mangel vorhanden wäre. Wie rasch immer die Reproduktion von Menschen sein mag, sie braucht jedenfalls den Zwischenraum einer Generation zum Ersatz erwachsner Arbeiter. Nun hängen die Profite unsrer Fabrikanten hauptsächlich von der Macht ab, den günstiger Moment lebhafter Nachfrage zu exploitieren und sich so für die Periode der Erlahmung schadlos zu halten. Diese Macht ist ihnen nur gesichert durch Kommando über Maschinerie und Handarbeit. Sie müssen disponible Hände vorfinden; sie müssen fähig sein, die Aktivität ihrer Operationen wenn nötig höher zu spannen oder abzuspannen, je nach dem Stand des Markts, oder sie können platterdings nicht in der Hetzjagd der Konkurrenz das Übergewicht behaupten, auf das der Reichtum dieses Landes gegründet ist."83)

Selbst Malthus erkennt in der Übervölkerung, die er, nach seiner bornierten Weise, aus absolutem Überwuchs der Arbeiterbevölkerung, nicht aus ihrer relativen Überzähligmachung deutet, eine Notwendigkeit der modernen Industrie. Er sagt:

"Weise Gewohnheiten in bezug auf die Ehe, wenn zu einer gewissen Höhe getrieben unter der Arbeiterklasse eines Landes, das hauptsächlich von Manufaktur und Handel abhängt, würden ihm schädlich sein... Der Natur der Bevölkerung gemäß kann ein Zuwachs von Arbeitern nicht zu Markt geliefert werden, infolge besondrer Nachfrage, bis nach Verlauf von 16 oder 18 Jahren, und die Verwandlung von Revenue in Kapital durch Ersparung kann sehr viel rascher Platz greifen; ein Land ist stets dem ausgesetzt, daß sein Arbeitsfonds rascher wächst als die Bevölkerung."84)

Nachdem die politische Ökonomie so die beständige Produktion einer relativen Übervölkerung von Arbeitern für eine Notwendigkeit der kapitalistischen Akkumulation erklärt hat, legt sie, und zwar adäquat in der Figur einer alten Jungfer, dem "beau idéal" ihres Kapitalisten folgende Worte an die durch ihre eigne Schöpfung von Zusatzkapital aufs Pflaster geworfnen "Überzähligen" in den Mund:

"Wir Fabrikanten tun für euch, was wir können, indem wir das Kapital vermehren, von dem ihr subsistieren müßt; und ihr müßt das übrige tun, indem ihr eure Zahl den Subsistenzmitteln anpaßt."85)

Der kapitalistischen Produktion genügt keineswegs das Quantum disponibler Arbeitskraft, welches der natürliche Zuwachs der Bevölkerung liefert. Sie bedarf zu ihrem freien Spiel einer von dieser Naturschranke unabhängigen industriellen Reservearmee.

 


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