b) Die schlechtbezahlten Schichten der britischen industriellen Arbeiterklasse
Den ersten Rang in überfüllten oder auch für menschliche Behausung absolut unmöglichen Wohnlichkeiten nimmt London ein.
"Zwei Punkte", sagt Dr. Hunter, "sind sicher; erstens gibt es ungefähr 20 große Kolonien in London, jede ungefähr 10.000 Personen stark, deren elende Lage alles übersteigt, was jemals anderswo in England gesehen worden ist, und sie ist fast ganz das Resultat ihrer schlechten Hausakkommodation; zweitens, der überfüllte und verfallne Zustand der Häuser dieser Kolonien ist viel schlechter als 20 Jahre zuvor."117) "Es ist nicht zuviel zu sagen, daß das Leben in vielen Teilen von London und Newcastle höllisch ist."118)
Auch der bessergestellte Teil der Arbeiterklasse, zusamt Kleinkrämern und andren Elementen der kleinen Mittelklasse, fällt in London mehr und mehr unter den Fluch dieser nichtswürdigen Behausungsverhältnisse, im Maße, wie die "Verbesserungen" und mit ihnen die Niederreißung alter Straßen und Häuser fortschreiten, wie Fabriken und Menschenzustrom in der Metropole wachsen, endlich die Hausmieten mit der städtischen Grundrente steigen.
"Die Hausmieten sind so übermäßig geworden, daß wenige Arbeiter mehr als ein Zimmer zahlen können."119)
Es gibt fast kein Londoner Hauseigentum, das nicht mit einer Unzahl von "middlemen" ["Maklern"] belastet wäre. Der Preis des Bodens in London steht nämlich stets sehr hoch im Vergleich zu seinen jährlichen Einkünften, indem jeder Käufer darauf spekuliert, ihn früher oder später zu einem Jury Price (durch Geschworene festgesetzte Taxe bei Expropriationen) wieder loszuschlagen oder durch Nähe irgendeines großen Unternehmens außerordentliche Werterhöhung zu erschwindeln. Folge davon ist ein regelmäßiger Handel im Ankauf von Mietkontrakten, die ihrem Verfall nahen.
"Von den Gentlemen in diesem Geschäft kann man erwarten, daß sie handeln, wie sie handeln, soviel wie möglich aus den Hausbewohnern herausschlagen und das Haus selbst in so elendem Zustand wie möglich ihren Nachfolgern überlassen."120)
Die Mieten sind wöchentlich, und die Herren laufen kein Risiko. Infolge der Eisenbahnbauten innerhalb der Stadt
"sah man kürzlich im Osten Londons eine Anzahl aus ihren alten Wohnungen verjagter Familien umherwandern eines Samstags abends mit ihren wenigen weltlichen Habseligkeiten auf dem Rücken, ohne irgendeinen Haltplatz außer dem Workhouse"121)
Die Workhouses sind bereits überfüllt, und die vom Parlament bereits bewilligten "Verbesserungen" sind erst im Beginn ihrer Ausführung. Werden die Arbeiter verjagt durch Zerstörung ihrer alten Häuser, so verlassen sie nicht ihr Kirchspiel oder siedeln sich höchstens an seiner Grenze, im nächsten fest.
"Sie suchen natürlich möglichst in der Nähe ihrer Arbeitslokale zu hausen. Folge, daß an der Stelle von zwei Zimmern, eins die Familie aufnehmen muß. Selbst zu erhöhter Miete wird die Wohnlichkeit schlechter als die schlechte, woraus man sie verjagt. Die Hälfte der Arbeiter im Strand braucht bereits zwei Meilen Reise zum Arbeitslokal."
Dieser Strand, dessen Hauptstraße auf den Fremden einen imposanten Eindruck vom Reichtum Londons macht, kann als Beispiel der Londoner Menschenverpackung dienen. In einer Pfarrei desselben zählte der Gesundheitsbeamte 581 Personen auf den Acre, obgleich die Hälfte der Themse mit eingemessen war. Es versteht sich von selbst, daß jede gesundheitspolizeiliche Maßregel, die, wie das bisher in London der Fall, durch Niederschleifen untauglicher Häuser die Arbeiter aus einem Viertel verjagt, nur dazu dient, sie in ein andres desto dichter zusammenzudrängen.
"Entweder", sagt Dr. Hunter, "muß die ganze Prozedur als eine Abgeschmacktheit notwendig zum Stillstand kommen, oder die öffentliche Sympathie (!) muß erwachen für das, was man jetzt ohne Übertreibung eine nationale Pflicht nennen kann, nämlich Obdach für Leute zu verschaffen, welche aus Mangel an Kapital sich selbst keins verschaffen, wohl aber durch periodische Zahlung die Vermieter entschädigen können."122)
Man bewundre die kapitalistische Justiz! Der Grundeigentümer, Hauseigner, Geschäftsmann, wenn expropriiert durch "improvements" <"Verbesserungen">, wie Eisenbahnen, Neubau der Straßen usw., erhält nicht nur volle Entschädigung. Er muß für seine erzwungne "Entsagung" von Gott und Rechts wegen noch obendrein durch einen erklecklichen Profit getröstet werden. Der Arbeiter wird mit Frau und Kind und Habe aufs Pflaster geworfen und - wenn er zu massenhaft nach Stadtvierteln drängt, wo die Munizipalität auf Anstand hält, gesundheitspolizeilich verfolgt!
Außer London gab es Anfang des 19. Jahrhunderts keine einzige Stadt in England, die 100.000 Einwohner zählte. Nur fünf zählten mehr als 50.000. Jetzt existieren 28 Städte mit mehr als 50.000 Einwohnern.
"Das Resultat dieses Wechsels war nicht nur enormer Zuwachs der städtischen Bevölkerung, sondern die alten dichtgepackten kleinen Städte sind nun Zentra, die von allen Seiten umbaut sind, nirgendwo mit freiem Luftzutritt. Da sie für die Reichen nicht länger angenehm sind, werden sie von ihnen für die amüsanteren Vorstädte verlassen. Die Nachfolger dieser Reichen beziehn die größeren Häuser, eine Familie, oft noch mit Untermietern, für jedes Zimmer. So ward eine Bevölkerung gedrängt in Häuser, nicht für sie bestimmt, und wofür sie durchaus unpassend, mit einer Umgebung, die wahrhaft erniedrigend für die Erwachsnen und ruinierend für die Kinder ist."123)
Je rascher das Kapital in einer industriellen oder kommerziellen Stadt akkumuliert, um so rascher der Zustrom des exploitablen Menschenmaterials, um so elender die improvisierten Wohnlichkeiten der Arbeiter. Neweastle-upon-Tyne, als Zentrum eines fortwährend ergiebigeren Kohlen- und Bergbaudistrikts, behauptet daher nach London die zweite Stelle in dem Wohnungsinferno. Nicht minder als 34.000 Menschen hausen dort in Einzelkammern. Infolge absoluter Gemeinschädlichkeit sind kürzlich in Newcastle und Gateshead Häuser in bedeutender Anzahl von Polizei wegen zerstört worden. Der Bau der neuen Häuser geht sehr langsam voran, das Geschäft sehr rasch. Die Stadt war daher 1865 überfüllter als je zuvor. Kaum eine einzelne Kammer war zu vermieten. Dr. Embleton vom Newcastle Fieberhospital sagt:
"Ohne allen Zweifel liegt die Ursache der Fortdauer und Verbreitung des Typhus in der Überhäufung menschlicher Wesen und der Unreinlichkeit ihrer Wohnungen. Die Häuser, worin die Arbeiter häufig leben, liegen in abgeschloßnen Winkelgassen und Höfen. Sie sind mit Bezug auf Licht, Luft, Raum und Reinlichkeit wahre Muster von Mangelhaftigkeit und Ungesundheit, eine Schmach für jedes zivilisierte Land. Dort liegen Männer, Weiber und Kinder des Nachts zusammengehudelt. Was die Männer angeht, folgt die Nachtschicht der Tagesschicht in ununterbrochnem Strom, so daß die Betten kaum Zeit zur Abkühlung finden. Die Häuser sind schlecht mit Wasser versehn und schlechter mit Abtritten, unflätig, unventiliert, pestilenzialisch.124)
Der Wochenpreis solcher Löcher steigt von 8 d. zu 3 sh.
"Newcastle-upon-Tyne", sagt Dr. Hunter, "bietet das Beispiel eines der schönsten Stämme unsrer Landsleute, der durch die äußern Umstände von Behausung und Straße oft in eine beinah wilde Entartung versunken ist."125)
Infolge des Hin- und Herwogens von Kapital und Arbeit mag der Wohnungszustand einer industriellen Stadt heute erträglich sein, morgen wird er abscheulich. Oder die städtische Ädilität mag endlich sich aufgerafft haben zur Beseitigung der ärgsten Mißstände. Morgen wandert ein Heuschreckenschwarm von verlumpten Irländern oder verkommenen englischen Agrikulturarbeitern ein. Man steckt sie weg in Keller und Speicher oder verwandelt das früher respektable Arbeiterhaus in ein Logis, worin das Personal so rasch wechselt wie die Einquartierung während des Dreißigjährigen Kriegs. Beispiel: Bradford. Dort war der Munizipalphilister eben mit Stadtreform beschäftigt. Zudem gab es daselbst 1861 noch 1751 unbewohnte Häuser. Aber nun das gute Geschäft, worüber der sanft liberale Herr Forster, der Negerfreund, jüngst so artig gekräht hat. Mit dem guten Geschäft natürlich Überflutung durch die Wellen der stets wogenden "Reservearmee - oder "relativen Übervölkerung". Die scheußlichen Kellerwohnungen und Kammern, registriert in der Liste (Note 126)), die Dr. Hunter vom Agenten einer Assekuranzgesellschaft erhielt, waren meist von gutbezahlten Arbeitern bewohnt. Sie erklärten, sie würden gern bessere Wohnungen zahlen, wenn sie zu haben wären. Unterdes verlumpen und verkranken sie mit Mann und Maus, während der sanftliberale Forster, M.P., Tränen vergießt über die Segnungen des Freihandels und die Profite der eminenten Bradforder Köpfe, die in Worstedmachen. Im Bericht vom 5. September 1865 erklärt Dr. Bell, einer der Armenärzte von Bradford, die furchtbare Sterblichkeit der Fieberkranken seines Bezirks aus ihren Wohnungsverhältnissen:
"In einem Keller von 1.500 Kubikfuß wohnen 10 Personen ... Die Vincentstraße, Green Air Place und the Leys bergen 223 Häuser mit 1.450 Einwohnern, 435 Betten und 36 Abtritten ... Die Betten, und darunter verstehe ich jede Rolle von schmutzigen Lumpen oder Handvoll von Hobelspänen, halten jedes im Durchschnitt 3,3 Personen, manches 4 und 6 Personen. Viele schlafen ohne Bett auf nacktem Boden in ihren Kleidern, junge Männer und Weiber, verheiratet und unverheiratet, alles kunterbunt durcheinander. Ist es nötig hinzuzufügen, daß diese Hausungen meist dunkle, feuchte, schmutzige Stinkhöhlen sind, ganz und gar unpassend für menschliche Wohnung? Es sind die Zentra, wovon Krankheit und Tod ausgehn und ihre Opfer auch unter den Gutgestellten (of good circumstances) packen, welche diesen Pestbeulen erlaubt haben., in unsrer Mitte zu eitern."127)
Bristol behauptet den dritten Rang nach London im Wohnungselend.
"Hier, in einer der reichsten Städte Europas, größter Überfluß an barster Armut (blank poverty) und häuslichem Elend."128)