Gewissen
Gewissen (von wissen) ist die Gesamtheit aller bei einer Willensentscheidung mitwirkenden inneren Bestimmungsgründe. Das Gewissen ist nicht angeboren, sondern entwickelt sich langsam in den einzelnen Menschen. Je nach dem Alter und nach der intellektuellen und moralischen Bildung des einzelnen äußert es sich entweder als ein dunkles Gefühl der Unlust, sobald er in Versuchung zum Bösen gerät, oder als klares Bewußtsein der Pflicht. Die Regungen des Gewissens gehen der Tat voran, sie begleiten sie und wirken als Reflexion über die Tat auch nach derselben nach. Vor der Tat sind sie, je nachdem diese gut oder böse ist, ratend oder warnend, in derselben fördernd oder hemmend, nachher lobend oder tadelnd. Es betreffen dieselben immer den Einzelfall und die Einzelperson; daher rührt auch der subjektive Charakter des Gewissens, der es ungeeignet macht, als allgemeine Norm zu dienen. Niemand, auch der Frömmste und Klügste nicht, hat mithin das Recht, sein Gewissen anderen zum Gesetz zu machen. Bei jedem entwickelt es sich individuell. Je nach unserer Anlage, Erziehung und Lebensführung ist unser Gewissen stark oder schwach, eng oder weit, zart oder stumpf. Da es die subjektive Vernunft des einzelnen ist, sofern sie über Sittliches urteilt, so kann es natürlich auch irren, und einzelne wie ganze Völker haben für recht gehalten, was wir heute verwerfen. Aus Gewissenhaftigkeit hat vielleicht Calvin den Servet verbrannt, Ravaillac Heinrich IV. ermordet; aus Gewissenhaftigkeit haben ganze Völker ihre Eltern erschlagen, ihre Feinde verzehrt i. dgl. m. Daraus folgt, daß das Gewissen steter Erziehung bedarf. Kant (1724-1804) nennt es ein Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht ist (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft IV, §4, S. 237), J. G. Fichte (1762-1814) das unmittelbare Bewußtsein unserer bestimmten Pflicht, Hegel (1770-1831) den seiner unmittelbar als der absoluten Wahrheit und des Seins gewissen Geist, H. Ulrici (1806-1884) das ins Bewußtsein getretene Gefühl des Sollens, Schopenhauer (1788-1860) die Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit uns selbst. Theologen wie Wuttke, Rothe, Schmid, v. Oettingen bezeichnen es als die im vernünftigen Selbstbewußtsein gegebene Offenbarung Gottes, eine Definition, die vor der Analyse nicht standhält. Vgl. Rée, d. Entstehung d. Gewissens. Berlin 1886. Eine besonders klare Analyse des Gewissens hat A. Döring in seiner philosophischen Güterlehre 1888 gegeben.