Erraten des Sinnes
Das Erraten des Wortsinnes durch den Inhalt des ganzen Satzes — und da der Satz aus Worten besteht — das Erraten des Wortsinnes aus der Erinnerung, welche durch die anderen Worte im Hörer oder Leser geweckt wird, dieses Erraten ist nur bei der Zeitfolge besonders interessant, weil diese nach dem landläufigen Glauben schon durch die Grammatik sauber geordnet zu sein scheint. Was aber für die Zeitfolge gilt, das gilt in noch höherem Maße für den jeweiligen Inhalt der Dingwörter und der Zeitwörter, für den jeweiligen Sinn der Verbindung von Subjekt und Prädikat, für den Sinn der übrigen syntaktischen Satzglieder, für die Bildungsformen der Dingwörter und der Zeitwörter, das gilt schließlich sogar für den Sprechton. In vielen Fällen hat freilich der sogenannte Sprachgebrauch z. B. ein bestimmtes Dingwort an ein bestimmtes Zeitwort gebunden; der Reichtum unserer Sprache entsteht aber gerade dadurch, dass diese festen Wortverbindungen verhältnismäßig selten sind, dass grammatische und syntaktische Formen in unendlichen Variationen nach dem Prinzip der Analogie innerhalb eines unbestimmten Sprachgebrauchs verwandt werden. Jede analogische Anwendung einer syntaktischen oder grammatischen Form ist eine kleine Metapher, deren Sinn jedesmal erraten werden muß. Besondere Beispiele für Dingwörter sind überflüssig. Für die Zeitwörter denke man an die unübersehbare Zahl von Bedeutungen des Wortes "haben". Z. B. im Sinne von sich zieren, sich fühlen, halten, tragen (sich haben, in der Tasche haben, auf dem Gewissen haben), sodann im Sinne von besitzen usw. Unter den grammatischen Bildungsformen sind die Kasus ebenso vieldeutig wie die Zeitformen und müssen jedesmal aus unserer Weltkenntnis heraus erdeutet werden. Beim Genitiv ist das allbekannt. Doch auch der vermeintlich so klare Akkusativ gibt eigentlich nur eine ganz leere Beziehung, deren Sinn erraten Werden muß. Das ist nicht nur bei dem Akkusativ verschiedener Wörter der Fall, sondern auch bei dem Akkusativ eines eindeutigen Wortes. Wie verschieden ist der Akkusativsinn nicht in: die Stadt bewohnen, die Stadt verlassen, die Stadt bebauen, die Stadt erobern, die Stadt besuchen, die Stadt beschreiben usw. Übrigens ist die Eindeutigkeit des Wortes Stadt hier ebenfalls nicht buchstäblich zu nehmen; das Wort Stadt erregt ganz andere Vorstellungen, je nachdem die Stadt gegründet oder erobert wird (vgl. III. S. 15 f.).
Das Erraten des Sinnes ist in der Sprache von sehr großer praktischer Bedeutung. Bekanntlich braucht man bloß alles zu sagen, um mit Sicherheit langweilig zu Werden. Ein sogenannter guter Stil, das heißt der natürliche Gebrauch der Sprache, hat zum sichern Merkmal, dass nur diejenigen Worte gesprochen werden, die zum bequemen Erraten des Sinnes notwendig sind. Das Übrige wird fortgelassen. So wird jede Darstellung oder Erzählung von selbst "elliptisch". Die unaufhörliche Ellipse der Sprache geht viel weiter. In einer Erzählung müßte an jeder Stelle alles Vorhergehende rekapituliert werden. Die unaufhörliche Ellipse besteht eben darin, dass der Sprecher sich fortwährend auf das Gedächtnis des Hörers verläßt. Das Gedächtnis, welches dem Sprecher die Darstellung oder Erzählung möglich macht und ihm erspart (was freilich blödsinnig und unmöglich wäre), in jedem Augenblicke alles zu sagen, ist dasselbe Gedächtnis, welches den Sinn der Worte errät.