Zum Hauptinhalt springen

Hysteron-Proteron

Ist eine längere Darstellung oder Erzählung hübsch unbedeutend oder sonst der Seelenlage des Hörers entsprechend, so wird der Hörer mit gutem Gedächtnis alles zusammenhalten und am Ende ungefähr die Situation beisammen haben, die in der Seele des Sprechers oder Autors war und die er mitteilen Wollte. Ist der Hörer schlechter vorbereitet, bietet die Darstellung oder Erzählung viel Neues, wird im Verlaufe nicht jedes psychologische Prädikat zum Subjekte, so ist auch mit den letzten Worten der Darstellung oder Erzählung zwischen Sprecher und Hörer die Einheit der Seelensituation nicht hergestellt: der Zweck der Mitteilung ist verfehlt. Es liegt das tief im Wesen der Sprache, dieweil sie nur erinnern kann. Auf das Gedächtnis des Hörers kommt es an. Der Hörer wird in solchen Fällen die Darstellung oder Erzählung zweimal, dreimal und öfter hören müssen, um endlich den Prozeß in seinem Gehirn auszuführen, der ihm das Prädikat zum Subjekt, das Neue zum Bekannten verwandelt. Was Schopenhauer in der Vorrede zur ersten Auflage seines Hauptwerkes für sich in Anspruch nimmt, das geht nicht aus der Eigentümlichkeit seiner Philosophie hervor, sondern aus dem Wesen der Sprache. Unter diesem Gesichtspunkte lese man einmal, was Schopenhauer schreibt. Sein Buch sei ein einziger Gedanke. "Dennoch konnte ich, aller Bemühungen ungeachtet, keinen kürzern Weg ihn mitzuteilen finden, als dieses ganze Buch ... Ein Buch muß eine erste und eine letzte Zeile haben und wird insofern einem Organismus allemal sehr unähnlich bleiben, so sehr diesem ähnlich auch immer sein Inhalt sein mag ... Es ergibt sich von selbst, dass unter solchen Umständen zum Eindringen in den dargelegten Gedanken kein anderer Rat ist, als das Buch zweimal zu lesen, und zwar das erstemal mit vieler Geduld, welche allein zu schöpfen ist aus dem freiwillig geschenkten Glauben, dass der Anfang das Ende beinahe so sehr voraussetze als das Ende den Anfang, und ebenso jeder frühere Teil den spätern beinahe so sehr als dieser jenen." In der Angst um das Schicksal seines Werkes hat Schopenhauer erkannt, dass geordnete Mitteilung unmöglich sei; er hat aber den Mangel an Überblick für eine Folge gehalten der übermenschlichen Größe seines Gedankens, er Wußte nicht, dass die kleinste Zeitungsnotiz über einen Brand ohne die Hilfe des Gedächtnisses demselben Schicksale verfallen wäre. Sogar der freiwillig geschenkte Glaube, der uns in Schopenhauers Vorrede fast wie eine unbillige Forderung an den Leser erscheint, spielt in der Sprache täglich und überall eine außerordentlich große Rolle. Wegener hat sehr fein darauf hingewiesen, dass die Syntax bestrebt ist, den Hauptgedanken vorauszuschicken, auch wenn sein Inhalt in der Zeit erst auf den Nebengedanken folgt. Die natürliche Erzählungsweise wäre das Proteron-Hysteron; die Sprache greift unaufhörlich zu einem Hysteron-Proteron und kann diese Darstellungsart nicht überwinden. Nichts ist peinigender in der Biographie eines uns nicht vorher schon interessierenden Mannes als das ordentliche und unaufhörliche Proteron-Hysteron. Steht freilich auf dem Titelblatte Goethes Leben oder das Leben Jesu, so ist das Schlußwort der ganzen Darstellung, das letzte psychologische Prädikat, die Seelensituation des Erzählers, schon im Leser vorbereitet. Er hat das Buch gewissermaßen schon zum erstenmal gelesen, er liest es gewissermaßen zum zweitenmal und interessiert sich somit gleich für die sonst unerträgliche Jugendgeschichte Goethes, für die Genealogie Jesu, weil er sie als die Exposition eines ihm wohlbekannten Schlusses auffaßt. Biographien von Menschen, die wir nicht so lieb haben, sollten mit dem Hauptprädikat, mit der entscheidenden Leistung des Mannes beginnen und die Vorgeschichte gelegentlich einflechten, so wie das Ibsen mit der Exposition einer Handlung zu tun wieder gelehrt hat. Was von Büchern gilt, gilt auch von komplizierten Sätzen, ja von jeder Verbindung von Haupt- und Nebensatz. Die Nebensätze sind aus Hauptsätzen entstanden, welche zu dem wirklichen Hauptsatze im Verhältnis einer Exposition standen. Die Zeitfolgen unserer Verben scheinen uns eine unerläßliche und zugleich zuverlässige Hilfe zu bieten, trotz des sprachlichen Hysteron-Proteron die Zeitfolge übersehen zu können. Einzig und allein unsere Erfahrung, unsere vorausgehende Kenntnis von der Zeitfolge der Ereignisse läßt uns den sprachlichen Mischmasch von Hysteron-Proteron und Proteron-Hysteron entwirren und die Dinge in die uns natürliche Reihe bringen.

Diese kleine Hilfe kann naturgemäß nur auf die einzelnen Perioden eines längeren Buches anwendbar sein. Bleiben wir im Bann unserer Sprache, so klingt es paradox, was ich jetzt sagen will, und doch ist es eine einfache Wahrheit. Die Zeitfolge kann in unserer Sprache nur durch fünf bis sieben verschiedene Tempusformen ausgedrückt Werden. Diese Zahl reicht für einen komplizierten Satz eben aus. Wollten wir in einer historischen Darstellung die Zeitverhältnisse fortlaufend sprachlich ausdrücken, so würden wir — da fast jeder Satz die zeitliche Exposition für den folgenden ist — ein System von Hunderten, ja von vielen Tausenden Zeitformen nötig haben. Unser Gedächtnis hilft sich so, dass immer wieder das Vergangene zum Gegenwärtigen wird, genau so, wie jedesmal das psychologische Prädikat sich zum Subjekte, die Exposition sich zur gegenwärtigen Situation Wandelt. Abgesehen von Eselsbrücken, welche durch die sogenannten Umstandswörter der Zeit gebildet werden, stehen deshalb die einzelnen Perioden eines Kapitels, die einzelnen Kapitel eines Buches, die einzelnen Bücher eines großen Werkes verbindungslos und ohne Andeutung des Zeitverhältnisses nebeneinander wie die Worte veni, vidi, vici. Unsere allgemeine Sachkenntnis läßt uns die richtige Zeitfolge erraten.