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"angeboren"

Die neuere Lehre, dass die Sprache dem Menschen angeboren sei, klingt verführerischer für unseren Sprachgebrauch. Wollen wir uns nämlich mit einer Unklarheit begnügen, so behauptet dieser Satz ungefähr so viel, dass die Sprache zum Wesen oder zu der Natur des Menschen gehöre. Die freieren Köpfe geben sich gern damit zufrieden, wenn anstatt Gott solchergestalt Wesen oder Natur gesetzt wird, und es scheint eine gewisse Beruhigung des Denkens darin zu liegen, wenn man uns sagt: der Mensch spricht, wie der Vogel fliegt. Es gehörte zu seinem Wesen, zu seiner Natur. Hat doch das neue Denken damit begonnen, dass Spinoza die Natur als einen Korrelatbegriff von Gott hinstellte; ist es doch im Mittelalter ein Zeichen von geistiger Freiheit gewesen, wenn ein Scholastiker in Gott nur das Wesen der Welt sah. Pantheismus steckte in beiden, und wir nennen uns gern pantheistisch. Von diesem Pantheismus aus war es auch ungefähr, dass Herder und Jakob Grimm den göttlichen Ursprung der Sprache zu widerlegen suchten. Nur das Wort "angeboren" sollte uns stutzig machen; jahrhundertelang haben die besten Köpfe sich anstrengen müssen, um die "angeborenen Ideen" los zu werden.

Sind wir so erst stutzig geworden, so fragen wir weiter nach dem Sinn der Behauptung, dass die Sprache zum Wesen des Menschen gehöre. Da sind nun zwei Hauptmöglichkeiten vorhanden. Entweder die Sprache, wie wir sie gebrauchen, oder wie sie vor Jahrtausenden wohl ausgebildet nachweisbar ist (eine andere als eine ausgebildete Sprache ist historisch nicht belegt), war dem Menschen angeboren, gehört zum Wesen des Menschen: dann ist die Frage nach dem Ursprung müßig, dann stehen wir vor demselben Wunder wie bei der Menschenschöpfung, dann halten wir uns am besten an die biblische Schöpfungsgeschichte. Ist dem Menschen aber nicht die ausgebildete Sprache, sondern nur die Sprachanlage angeboren, dann verbirgt sich hinter dieser Theorie schon die Entwicklungstheorie, wie sie denn auch überall da leise oder laut mitklingt, wo die Sprache als angeboren betrachtet wird. Und so meldet sich schon da (bei Heyse, bei Renan) die Frage, die uns gegenwärtig in Verwirrung setzt: Wo ist der Grenzpunkt zwischen Anlage und Ausübung zu setzen? An welcher Stelle liegt der Ursprung der Sprache? Und wie der deutsche Darwinismus, der die organische Welt systematischer als Darwin selbst aus einem Urkeime herleiten will, seine ganze Selbstsicherheit bei der Entstehung dieses Urkeimes verliert und sein Maul aufreißt, damit ihm der Urkeim irgendwo von einem Meteoriten gebraten oder verbrannt hineinfliege, so steht die Entwicklungstheorie, die sich hinter jeder bessern Angeborenheitstheorie verbirgt, mit der alten Verlegenheit vor dem eigentlichen Ursprung der Sprache.