Instinkt und Wunder
Der Mensch hat sich ganz willkürlich, oder vielmehr nach dem Standpunkt seiner eigenen Beschränktheit, eine Stufenreihe des Wunderbaren aufgebaut. Dass ein Huhn sich selbst im Ei Augen bildet aus der organischen Masse, das findet der Mensch nicht wunderbar, weil auch er sich im Mutterleibe Augen gebildet hat. Dass aber das Huhn sehr bald nach dem Auskriechen pickt, das staunt er an und nennt es Instinkt, weil das menschliche Kind erst viel später picken lernt. Dass die neugeborenen Mädchen breitere Hüften haben als neugeborene Knaben, das wundert ihn gar nicht; dass aber die Larve des Hirschkäfers (wenn dieser berühmte Fall von Instinkt übrigens richtig beobachtet ist), weil sie männlichen Geschlechts werden soll, sich um des künftigen Geweihs willen ein größeres Loch buddelt als die Larve des weiblichen Hirschkäfers, das findet der Mensch wunderbar und nennt es Instinkt.
Nur die menschliche Sprache, welche ihrem Wesen nach das Zweckmäßige aus dem Zukünftigen erklären muß (weil die Sprache auf den Verstand und seine Kausalität gegründet ist), schafft diese wunderliche Einteilung des Wunderbaren. Übrigens will mir scheinen, als ob sich an einigen der am häufigsten zitierten Instinktäußerungen die einfache Erklärung leichter finden ließe, wenn man bei der Beobachtung nicht dächte, das heißt nicht spräche. Man bewundert die regelmäßigen, sechseckigen Zellen des Bienenstocks. Ja, wunderbar wär's freilich, wenn die Bienen Geometrie studiert hätten. Wie aber, wenn die Bienen nur auf die (auch geometrisch) bequemste und kürzeste Weise Behälter bauen wollten, also natürlich runde Behälter, und diese Form, wenn jede Wand nach beiden Seiten dienen soll, von selbst zur sechseckigen Zelle werden müßte? Übrigens sind die Zellen gar nicht so schön regelmäßig, wie man behauptet. Der Wassertropfen, der zu Schneekristallen zusammenschießt, wählt ebenso instinktmäßig das Sechseck und hat auch nicht Geometrie studiert. In den Zahlen wie in den geometrischen Formen steckt eben die Gesetzlichkeit sprachlos drin, die der Mensch so schwer mit seinem Denken begreift.
Eine andere Gruppe der Instinkthandlungen läßt sich wieder aus der Begegnung zweier Bedürfnisse ohne Worte besser erklären als durch die gewagtesten Abstraktionen. So das Saugen des neugeborenen Kalbes. Das Kalb sucht nach Nahrung, die Kuh drängt es, ihr Euter leer zu kriegen; da wäre es doch wunderbar, wenn Maul und Zitze einander nicht finden sollten.
Nur weil die Sprache unvermögend ist, da die immanente Form, dort die gemeinsame Bedürfnishandlung zweier Individuen (ganz ähnlich liegt es beim Instinkt des Geschlechtstriebs) auszudrücken, nur darum vollführt sie ihre Worttänze um die Rätsel des Instinkts.
Man hat von jeher die Instinkte der Tiere mit dem Verstände des Menschen verglichen und konnte auf diesem Wege deshalb nicht vorwärts kommen, weil der Unterschied den Verstand eigentlich gar nichts angeht, sondern nur das Bewußtsein. Es kann gar keine Frage sein, dass der Vogel sein Nest mit derselben Art Verstand baut wie der Mensch sein Haus, nur ob der Vogel das Bewußtsein seiner Überlegung besitzt, ob er seine Arbeit mit den munteren Reden der logischen Sprache begleiten kann, das ist natürlich fraglich.
Nicht die Werkzeuge der Instinkthandlungen scheinen uns unerklärlich, sondern ihre Triebfedern, die Federn der Triebe; nicht theoretischer, sondern praktischer Art ist die Frage. Und da sagt uns der erste Blick, dass wir unter uns nur andere Bezeichnungen führen. Was wir beim Tiere fressen nennen, das heißt unter uns essen oder gar soupieren. Was dort Du heißt, das heißt hier Ich. Was wir bei den Ameisen verwundert Instinkt benennen, das heißt Moral, wenn es uns selber zwingt. Die Bienenkönigin muß es Moral nennen, wenn sie alljährlich wie eine russische Messalina die Drohnen nach getaner Arbeit umbringen läßt; und sie mag es einen wunderlichen menschlichen Instinkt nennen, wenn sie beobachtet, dass so eine zweibeinige Drohne eine zweibeinige Königin für Lebenszeit in ihre Wanderzelle aufnimmt, dazu als Mitgift einen Honigtopf bekommt und diesen Vorgang durch ein zweibeiniges Geschöpf der Schwarzbienen geheimnisvoll betasten läßt.
Man hat früher geglaubt, dass die Moral oder der Instinkt der Tiere durchaus unveränderlich sei. Man weiß jetzt, dass bestimmte Vogelarten neue Gespinste mit Vorliebe für ihren Nestbau benutzen, die sie vor ein paar hundert Jahren noch nicht kannten. Kurt Graeser ("Der Zug der Vögel") hat uns davon überzeugt — da sich doch solche Dinge nicht nachweisen lassen wie physikalische Gleichmäßigkeiten —, wie der Wanderinstinkt der Vögel in der Zeit, in langen Zeiten geworden ist und wieder vergehen wird. Wir dürfen nur die Entfernung zwischen Mensch und Tier nicht gewaltsam vergrößern. Das Wandern hat zu neuen Gewohnheiten der Vögel geführt. Ganz ebenso hat die Moral der Menschen seit der Invasion des römischen Rechts ein Wechselrecht erzeugt, und vor zwanzig Jahren ist es eine Sittlichkeitsfrage gewesen, ob Damen auf dem Zweirad fahren dürfen oder nicht.
Man mache sich klar, welche Kluft der Sprachgebrauch zwischen die synonymen Worte Instinkt und Moral geworfen hat, und man wird leicht begreifen, dass die gleiche Sprache noch nicht hinreicht, um einander zu verstehen.
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