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Maupertuis

Wie sich die Aufklärer die Erfindung der Sprache dachten, das erfahren wir am rohesten aus Maupertuis, dem Mitgliede der Pariser, dem Präsidenten der Berliner Akademie, der, schöpferisch auf seinem Spezialgebiete, in allen philosophischen Fragen nur das Echo seiner Zeit war. Nach einer wichtigen Stelle in seinen "philosophischen Betrachtungen über den Ursprung der Sprachen und die Bedeutung der Worte" (1748) zeigt Maupertuis, wie mathematisch er sich die Erfindung vorstellt: "Ich setze voraus, ich hätte mit den Fähigkeiten der Wahrnehmung und des Verstandes zugleich die Erinnerung aller bisherigen Beobachtungen und Denkakte verloren; nach einem Schlafe, der mich alles das vergessen ließ, befände ich mich plötzlich zufälligen Wahrnehmungen gegenüber; meine erste Wahrnehmung wäre z. B. die, welche ich heute mit den Worten feststelle: ich sehe einen Baum; darauf hätte ich die andere Wahrnehmung, welche ich bezeichne mit: ich sehe ein Pferd. Ich würde sofort bemerken, dass die eine Wahrnehmung nicht die andere ist, ich würde sie zu unterscheiden suchen, und da ich (nach dem Schlafe des Vergessens) keine vorgebildete Sprache besäße, müßte ich sie durch irgendwelche Zeichen unterscheiden. Ich könnte mich mit den Zeichen P und B begnügen und würde unter diesen Zeichen dasselbe verstehen, wie wenn ich heute sage: ich sehe ein Pferd, ich sehe einen Baum. Und so könnte ich weitere Eindrücke immer auf die gleiche Weise bezeichnen, ich würde zum Beispiel M sagen und würde darunter dasselbe verstehen, wie heute mit dem Satze: ich sehe das Meer."

Berühmte Schriftsteller haben diese Erfindungstheorie Maupertuis' kritisiert, an ihrer Logik wenig auszusetzen gehabt, dafür aber die Voraussetzung, das plötzliche Vergessen, albern gefunden. Für uns ist Maupertuis' Voraussetzung aus anderen Gründen ein klassischer Ausdruck der Erfindungstheorie aus der Aufklärungszeit.

Das plötzliche Vergessen ist nämlich durchaus nicht eine unmögliche Phantasie; es ist vielmehr in chronischen und in akuten Krankheiten des Gehirns ein alltägliches Ereignis. Nur dass Maupertuis an dieses wirkliche Vorkommen seiner Voraussetzung gar nicht dachte. Er hätte sonst den eben erwähnten Fehler der Rousseauzeit verbessern können, er hätte sich den Urmenschen nicht mehr als verkleideten Pariser gedacht. Denn der plötzliche Verlust aller unserer Erinnerungen bringt uns wirklich unter die Stufe des Tieres zurück, und wenn nachher die Gesundheit des Gehirns wiederkehrte, allerdings die Gesundheit ohne die bisherige Einübung (was nicht der Fall ist), so ließe sich vielleicht wohl an einem solchen Menschen die Entwicklung des Geistes und die Entstehung der Sprache studieren. In der Phantasie Maupertuis' jedoch stoßen wir auf keinen möglichen psychologischen Vorgang. Es wird nur für eine Weile von den Fähigkeiten der Wahrnehmung und des Verstandes abstrahiert, um dann so weiter zu operieren, als ob das fragliche Gehirn ohne Wahrnehmung und ohne Verstand doch sämtliche Denkfähigkeiten des hochkultivierten Gehirns besäße. Es wird der Anfang der Sprachentwicklung in einem bereits entwickelten Denkgehirn vorausgesetzt. Dass das Denkgehirn sich gleichen Schrittes mit der Sprache entwickelte, dass Denken und Sprechen immer identisch war, dass also für die Erfindung gar kein Erfinder vorhanden sein konnte, das war dem 18. Jahrhundert eine unfaßbare Vorstellung und ist auch heute noch nicht jedem Forscher selbstverständlich. Selbst bei Geiger, der sich von der Erfindungstheorie am bewußtesten und am weitesten entfernt hat, lassen sich noch Spuren nachweisen, die sich auf eine Trennung zwischen Denken und Sprechen, zwischen Erfinder und Erfindung beziehen.