Einführung der Schrift
Wir wissen nicht genau, um welche Zeit in Griechenland die Erfindung der Schrift Eingang fand. Jedesfalls gehen wir nicht fehl, wenn wir sagen, dass die Griechen zur Zeit Piatons der Einführung der Schrift und damit auch der Herausbildung einer gemeinsamen Schriftsprache ziemlich nahe standen. Es kommt dabei gar nicht darauf an, ob die Schrift 100 oder 300 Jahre vorher Eingang gefunden hatte. Die Kultur änderte sich damals langsamer, und wir sehen, dass die Erfindung der Buchdruckerkunst unter uns auch jetzt, nach mehr als 400jähriger Wirksamkeit, die Umformung unseres Denkens und Forschens noch immer nicht ganz abgeschlossen hat. Durch das Zeitungswesen verändert die Buchdruckerkunst unser Geistesleben weit mehr, als man gewöhnlich annimmt.
Noch weit tiefer mußte die Einführung der Schrift in einem Kulturlande die Sprache und damit das Denken verändern. Man stelle sich vor, dass vor Einführung der Schrift kein Mensch Veranlassung und Gelegenheit hatte, die menschliche Sprache in Silben und Buchstaben aufzulösen, ja oft kaum in Worte. Vor Erfindung der Schrift war die Sprachwissenschaft so unmöglich, wie eine Anatomie des tierischen oder menschlichen Körpers vor dem Einfalle, tierische oder menschliche Körper zu zerschneiden und zu untersuchen. Weshalb die Anatomie auch ganz richtig vom Zerschneiden ihren Namen hat. Aus der verhältnismäßigen Neuheit der Schrift erklärt es sich auch, dass Piaton und Aristoteles die ersten sein konnten, die überhaupt einzelne Redeteile in der Sprache entdeckten und dann auf die Artikulation hinwiesen.
Weiter aber mußte wegen der Neuheit der Sache die Sehnsucht nach einer gemeinsamen Sprache alle wissenschaftlichen Gemüter aufregen. Solange es keine Schrift gab, gab es nur Mundarten. Jetzt konnte zum erstenmal der Begriff der Richtigkeit aufkommen. Das bloße Sprechen war nicht kontrollierbar. Das gesprochene Wort hielt der Untersuchung nicht stand. Das geschriebene Wort aber hätte man doch gern so vor sich gehabt, wie es einzig und allein das richtige war. Über die gewiß langen Kämpfe dieser Art besitzen wir begreiflicherweise nicht die kleinste Aufzeichnung. Aber ich glaube, der spätere Streit um den Hellenismus, das heißt um ein mustergültiges Griechisch, war nur das Ausklingen des Streites, in welchem — wenn wir die gebildete Welt und ihre Literatur allein in Betracht ziehen — die Schrift bis zum heutigen Tage über die Sprache siegreich blieb. An dem Tage, da die Schrift eingeführt wurde, gelangte in die lebendige Sprache der Keim, der sie zu einer toten Sprache machen konnte. Eine lebendige Sprache ohne Schrift kann sich ändern, kann aber nur mit ihrem Volke sterben. Die Schriftsprache allein, weil sie bleibt, während die lebendige Sprache sich ändert, kann zur toten Sprache werden. Das aber ahnten die Alten nicht und sahen — von ihrem Standpunkt mit Recht — in der Einführung der Schrift, in dem Aufkommen einer Schriftsprache ganz gewiß einen ungeheuren Fortschritt, wie wir in der Einführung der Buchdruckerkunst einen ungeheuren Fortschritt sehen. Wir werden darum im Rechte sein, wenn wir im ganzen und großen die Analogisten als die Diener der Schriftsprache, die Anomalisten als die Verteidiger der lebendigen Sprache auffassen.
Das kam den Alten natürlich niemals zum Bewußtsein. Wir aber können von diesem Standpunkt aus manches besser verstehen. Wenn Aristophanes sich z. B. in den "Wolken" über die Sprache des Sokrates weidlich lustig machte, so kämpfte er offenbar instinktiv als Dichter, also als geborener Anwalt der lebendigen Sprache, gegen die pedantischen Neuerungen von Sokrates und den anderen Sophisten, mit denen er ihn zusammenwarf. Er sträubte sich dagegen, dass man durch Analogie beliebig neue Worte und neue Wortformen schaffen könne. Auch die Tätigkeit der späteren Hellenisten hat viel Ähnlichkeit mit der Ziererei derjenigen unter unseren Sprachreinigern, welche geschmacklos sich dem lebendigen Sprachgebrauch zu widersetzen suchen. Ebenso war die Entdeckung grammatischer Regeln insofern bloß eine Erfindung zu nennen, als von Anfang an eine Neigung bestand und bestehen mußte, nach Analogie der beobachteten Regelmäßigkeiten die vorhandenen Unregelmäßigkeiten einzuschränken. Auch diese Bewegung dauert bis zur Gegenwart fort. In diesem Sinne war der berühmte Sextus, den man den Empiriker, nannte, im Altertum der verdienstvollste Verteidiger der Anomalie oder des lebendigen Sprachgebrauchs. Seine Gründe sind sophistisch, seine Beispiele sind kindisch, aber er steht dennoch auf der richtigen Seite. Wie es Wahnsinn wäre, in einem Staate anstatt der kursierenden Münze eine ungebräuchliche zu schlagen, so wären auch künstliche Neuerungen in der Sprache zu tadeln. Es gäbe keine Analogie als eine solche, die durch den Sprachgebrauch begründet würde. Wozu also überhaupt den Begriff der Analogie? Dieser letzte Gedanke verdiente auch heute noch festgehalten zu werden.