Naturalismus
Wenn nun zwischen der richtigen Gemeinsprache eines Volkes und seiner Schriftsprache immer noch ein Unterschied besteht und instinktiv wahrgenommen wird, so geht das auf einen ähnlichen Irrtum zurück, wie der der Humanisten war. Ich will ganz von der Schmach absehen, dass die lateinische Satzbildung und der widernatürliche Periodenbau Ciceros auf die Satzbildung der modernen Sprachen eingewirkt hat, und dass diese angeblichen Schönheiten, die von aller Welt als Schriftsprache empfunden werden, einfach Sprachfehler sind, Latinismen im Satzbau. Aber auch abgesehen davon sind die meisten unserer Schriftsteller, die begabten wie die unbegabten, darin Humanisten, dass sie veraltete erstarrende Formen ihrer Sprache für Muster halten. Die naturalistische Bewegung der letzten zwanzig Jahre hat sich manches Verdienst erworben um die Freiheit des Geistes und um die Behandlung sozialer Fragen; ihr größtes Verdienst aber scheint mir, dass sie bewußt und rücksichtslos für die heutige Sprache das Recht verlangt hat, als Schriftsprache gebraucht zu werden. Es sind arge Geschmacklosigkeiten und auch Gemeinheiten mit unterlaufen, weil im Kampfe gewöhnlich die unflätigsten Worte für die lebendigsten gehalten werden. Aber das Ziel der Bewegung ist dennoch das richtige, weil es in der Natur der Sprache liegt, sich zu verändern, und jede starre Form Totenstarre ist. Man kann nicht zweimal in denselben Fluß hinabsteigen. Ein Volk kann nicht zweimal in der gleichen Sprache denken.
Die Sprachmeisterer verwechseln da wieder die historische Betrachtung mit der Beschreibung der Wirklichkeit; eine genaue Beschreibung der Wirklichkeit (was man dann eine Erklärung nennt) muß immer die Geschichte zu Hilfe nehmen. Aber die Geschichte allein ist wertlos. Wer ein Wörterbuch seiner Sprache zusammenzustellen unternimmt, der muß den Gebrauch belegen, und er wird begreiflicherweise die Belege aus Schriftstellern nehmen, weil er nur so alle seine Behauptungen beweisen kann. Und es kann ihm nicht übel genommen werden, wenn er irgendwo abschließt und die Belegstellen nur aus solchen Schriftstellern nimmt, die bereits seit vielen Jahren als gute Schriftsteller anerkannt werden und über deren Fähigkeit kein Streit mehr herrscht. Aber gerade solche Wörterbücher, so nützlich sie sonst sein mögen und so unersetzlich für die Sprachforschung, also indirekt für die Sprache, sind vielleicht auf der ganzen Welt die einzigen Bücher, welche unfruchtbar sind für eine lebendige Weiterentwicklung der Sprache. Man findet in ihnen alles, nur gerade mcht den Sinn, zu welchem sich das Wort heute entwickelt hat, und der morgen der Gemeinsprache angehören wird. Für die Weiterentwicklung seiner Sprache tut nicht nur jeder kleine Schriftsteller mehr, indem er unbewußt die Änderungen weiter verbreiten hilft, die die Sprache um ihn herum erfährt; nein, jeder schlichteste Mann aus dem Volke erhält seine Muttersprache lebendiger als Grimm, Littre oder Murray, abgesehen natürlich von dem indirekten Werte der Wörterbücher und von der persönlichen Bedeutung Grimms. Wer uns heute auffordert, uns in der Anwendung starr an Goethe zu halten (an welchen Goethe? den 25jährigen? oder den 75jährigen?), der wiederholt den Irrtum derer, die cicero-nianisch schreiben wollten, der vergißt, dass Goethe ein Revolutionär sein mußte, um von konservativen Sprachmeistern als Muster hingestellt zu werden. Solche Revolutionen sind von Zeit zu Zeit nötig, wenn sich die Schriftsprache nicht allzu weit von der Gemeinsprache entfernen soll, die doch von uns allen als die richtige Sprache empfunden wird. Eine solche Revolution war vor 25 Jahren der Naturalismus. Ich halte es aber wohl für möglich, dass die Schriftsprache einmal als ein der Gemeinsprache entgegengesetzter Begriff vollkommen überwunden wird. Es würde dazu nichts weiter gehören, als dass es keine schlechten Schriftsteller mehr gäbe. Die schlechten Schriftsteller sind es, die sich nach irgend einem bereits fertigen, also sterbenden Vorbild richten und sich von der natürlichen Sprache um so weiter entfernen, je mehr sie ihr Vorbild mechanisch nachahmen. Dabei wirken übrigens Moden mit, welche in der Sprache nicht seltener wechseln, als in den Kleidern. Klassisch ist ein Schriftsteller nur, wenn er die höchsten Anschauungen seiner Zeit in der Gemeinsprache seiner Zeit auszudrücken weiß, die dann für seine Nachahmer zur starren Schriftsprache wird. Hat eine Zeit erst lange keinen solchen klassischen Schriftsteller besessen, droht die gesamte Literatur in Schriftsprache zu erstarren, dann können sich auch kleinere Talente ein Verdienst dadurch erwerben, dass sie der Gemeinsprache wieder zu ihrem Rechte verhelfen. Und die Natur der Dinge sorgt dafür, dass sie dann regelmäßig zu weit gehen und jedes Rülpsen und Stottern und Spucken für Schönheiten der Gemeinsprache halten.