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Schriftsprache

Und so kehren wir zu unserer Frage zurück. Wer spricht richtig? Niemand oder jeder. Es kommt ganz auf den Sinn der Frage an. Wann sprechen wir richtig? Niemals oder immer. Denn es gibt keine mustergültige Gemeinsprache, sie ist eine Abstraktion, wie die Sprache — außerhalb der Individualsprache — überhaupt eine Abstraktion ist. Da man aber geneigter sein wird, mir für die gedruckte Schriftsprache als für die gesprochene Gemeinsprache zuzugestehen, dass sie eine tote Abstraktion sei, so muß noch mit einem Wort gesagt werden, wie es gerade ohne die Druckschrift vielleicht niemals zu unseren umfassenden Gemeinsprachen gekommen wäre. Es ist aber eine einfache Tatsache, dass es im Mittelalter eine gemeinsame Schriftsprache nicht gab; jede Landschaft schrieb ungefähr, wie sie ungefähr sprach. Es läßt sich wohl denken, dass (was auch nachgewiesen ist) die Schriftsprache bei Gelegenheit von Abschriften für entfernte Landschaften geändert wurde, so wie der Schwabe etwa seine Mundart zu ändern bemüht war, wenn er auf fränkischem Boden stand. Erst wenn der Oberdeutsche unter Niederdeutsche geriet, glaubte er wohl unter fremden Menschen zu sein.

Das wurde anders, als die bequeme Maschine ein Literaturprodukt in vielen tausend Exemplaren für ganz Deutschland auf einmal herstellen konnte. Was heißt das: für ganz Deutschland? Jetzt heißt es: für alle hochdeutsch redenden und verstehenden Menschen von Eiga bis Basel. Was hieß es aber damals, als die Buchdruckerkunst erst erfunden worden war? Damals hieß es: zu der Buchdruckerkunst, die unzählige gleiche Abdrücke machen konnte, die Schriftsprache hinzu erfinden, die von Unzähligen verstanden wurde. Das soll natürlich nicht heißen, dass die Erfinder planmäßig darauf ausgingen. Aber es war nicht anders. Volksbedürfnis und Geschäftsinteresse der Drucker wirkten zusammen, dass man sich langsam auf eine verstandene (passiv geübte) Schriftsprache einigte, die dann endlich, aktiv geübt, zur geredeten Gemeinsprache wurde. Auf die Gefahr, unsere Sprachphilosophen zu kränken, will ich den Vorgang mit Geschäftsunternehmungen aus unseren Tagen vergleichen. Als das Petroleum von großen Unternehmern als neues Leuchtmaterial in den Handel gebracht wurde, gab es in den verschiedenen Volksgruppen viele andere Beleuchtungskörper im Gebrauch. Nur die Leute, welche die Moderateur-Öllampen besaßen, kamen nun mit einer leichten Anpassung davon; die Unternehmer erfanden Petroleumbecken, die sich bequem gegen die Ölbecken umtauschen ließen. Auf dem Dorfe aber, wo noch der Kienspan brannte oder das offene öllämpchen, ging es nicht mit der Anpassung. Man behielt das alte Licht bei, bis man sich eines Tages — aber nur für den Sonntag — zur Anschaffung einer ganz neuen Petroleumlampe entschloß, — als sie wohlfeil geworden war. Was ist nun gegenwärtig "das" Licht? Ist es die Petroleumlampe, die in allen Hütten leuchtet? oder ist es das elektrische Licht der Städter? oder ist es das Ideal, Teslas Licht der Zukunft?

Wer spricht nun aber diese richtige Schriftsprache richtig? Die Geistlichen nicht, denn ihr Jargon geht offenkundig noch viel weiter zurück, ist entweder lateinisch oder ein geziert erneuertes Lutherisch. Die gelehrten Geschäftsleute unter den Ärzten und Juristen nicht, da sie vom Volk nicht mehr verstanden werden, sobald sie ihre Geheimsprache reden. Die Redner nicht, da sie längst von den Dichtern gelernt haben, der Umgangssprache ihre Wirkungen abzulauschen. Endlich die Dichter selbst nicht, weil nur noch wenige unter ihnen sich für Pfaffen genug halten, um sich das Recht auf besondere Freiheiten zuzusprechen. Niemand spricht die Schriftsprache, sie ist gar nicht in Wirklichkeit vorhanden. Sie ist wieder nur die Resultierende aus den tausend Eigenheiten, die die unzähligen belesenen und beschriebenen Volksgenossen sprechen und schreiben. Sie ist wieder nur eine Abstraktion.