Die Schule
Ich leugne nicht die Nützlichkeit, in Anbetracht der armseligen Menschennatur nicht die Notwendigkeit des Staates. Der einzelne ist so sehr eigener, so sehr Individualist, daß der Staat sein muß und ein bißchen konservativ sein muß. Und in der gemeinen Wirklichkeitswelt schadet es gar nicht so viel, wenn absterbende Institutionen, wenn halb verbrauchte Maschinen noch eine Zeitlang weiter arbeiten. Unerträglich ist es aber, wenn der Staat auf dem Gebiete des Denkens, das ihn nichts angeht, konservieren will, wenn er alternde Begriffe künstlich am Leben erhalten will. Da sollte man wirklich stoßen, was fällt. Und die Bildung, die in unseren staatlichen Gelehrtenschulen, in unseren "Konservatorien" mitgeteilt wird, ist ein ewiges Bemühen, alternde Begriffe zu retten.
Man hat es einmal die furchtbarste Strafe genannt, wenn man Verbrecher im Zuchthaus eine völlig fruchtlose Arbeit verrichten ließ, wie z. B. Wasser aus dem Fluß schöpfen und wieder hineingießen. Die griechische Mythologie hat eine Menge Symbole für solche Arbeitsstrafen, z. B. das Danaidenfaß. Büßende Anachoreten des vierten Jahrhunderts haben sich dieses Furchtbare auferlegt, z. B. Wüstensand von einer Stelle zur anderen zu tragen. Der Staat ist jetzt zu ökonomisch, um solche Strafen einzuführen.
Aber der Staat legt den Kindern, die er zwangsweise in seine Schulen sperrt, und die doch nichts verbrochen haben, dieselbe furchtbare Strafe auf, indem er sie unter Androhung von Prügeln zwingt, in das Danaidenfaß ihres Gedächtnisses unverstandene Worte hineinzugießen. Es ist wahr, auch ohne Schulzwang würde dem Kinde von seinen Eltern allerlei Gespensterkram "und solches Teufelszeug" in den Kopf gesetzt werden. Man denke sich einmal alle Schulen fort; der Bauer würde dann seinem Söhnchen blödsinnige Wetterregeln, eine unhaltbare Zoologie und Botanik beibringen, und die Bäuerin hübsche Legenden von Bismarck, den Heiligen und dem Werwolf. Der Junge hätte sonach viele falsche Begriffe in seinem Schädel — aber doch nur so viele, als sich mit dem Umfang des Schädels und mit dem Inhalt seiner Lebensarbeit vertragen, sogar gut vertragen. Der Staat jedoch hat es in seinem Wesen, daß er geistig herunter bringt, was er anfaßt. Er nimmt den Wetterregeln den Reiz des Reims und den Legenden ihren Märchenzauber. Er trocknet die Wetterregeln nach dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft ein und läßt seine Priester die schönen Märchen zum Katechismus verknöchern. Wir haben kein Mitleid mit unseren Kindern, sonst hätte ihre geistige Not uns längst alle zu einer Schulrevolution treiben müssen. Wir sind feiger als die Väter, die ihre Kinder dem Moloch opfern ließen; die glaubten vielleicht an eine Pflicht dabei. Wir aber lassen unsere Kinder martern, mit der feinen Waffe des Wortes martern, gegen unsere Überzeugung, gegen unser Wissen. Wir beginnen eher eine Bierrevolution, um eines Kreuzers willen, als eine Schulrevolution, um der Rettung der Kinder willen. Bevor so ein unschuldiges Kind noch gefehlt haben kann, muß es die Namen der jüdischen und der römischen Könige auswendig lernen. Das ist nicht zum Lachen. Denn das ist der Beginn der sogenannten Bildung , die Worte kennt ohne Vorstellungen. Ebensogut könnte man die Jugend Münchens das Adreßbuch von Königsberg auswendig lernen lassen, vielleicht mit mehr Vorteil. Bevor ein Kind die Sache ahnen kann, lernt es mit dem sechsten Gebot den Begriff des Ehebruchs. Bevor ein Kind die Unschuld seiner konkreten Vorstellungen verloren hat, wird ihm der Schädel trepaniert und wird ihm z. B. im zweiten Hauptstück des lutherischen Katechismus gleich ein Dutzend unvorstellbarer Vorstellungen eingegossen: die Allmacht, das Eingeborensein, die Empfängnis vom heiligen Geist, die Niederfahrt zur Hölle, die Auferstehung von den Toten, das Sitzen zur Rechten Gottes, das Gericht über die Toten, der heilige Geist, die Gemeinschaft der Heiligen, die Vergebung der Sünden, die Auferstehung des Fleisches und das ewige Leben. In das arme Kindergehirn werden da jahrelang mit allen Zwangsmitteln sogenannte Begriffe eingehämmert, mit denen die Lehrer der Lehrer, unsere berühmten Gelehrten, durchaus nichts mehr anzufangen wissen, Begriffe, leere Worthülsen, Schlacken aus einer Gärungszeit, da die Welt ein paar Jahrhunderte lang theologisch delirierte, hieroglyphische Lautzeichen, deren Rätsel nur noch von ein paar Dutzend hieroglyphischen Schachern verstanden werden. Die Kinder von Artisten, denen die Gelenke zerrissen werden für ein Zirkuskunststück, werden für eine Form des Daseinskampfes abgerichtet; allen unseren Kindern wird in der Schule das Hirn zerrissen für nichts, für den Molochdienst toter Wortsymbole.
Es gibt unter den menschlichen Gehirnen viele richtige Danaidenfässer, wo die unvorstellbaren Vorstellungen nur bis zum Examen haften bleiben und dann durchrinnen, wie durch ein Sieb. Bei diesen ist der Schaden nur Zeitverlust und etwas erhöhte Dummheit. Gerade die besseren Gehirne aber halten die sinnleeren Begriffe entweder fest und sind dann für immer künstlich wahnsinnig gemacht, oder sie suchen den fremden Körper los zu werden und müssen dazu die Fieberkrankheit des Zweifels durchmachen. Und um den armen Kindern diese furchtbare Marter aufzulegen, vereinigen sich die Eltern mit dem Staat. Der Staat legt dem Lehrer Stock und Zensuren in die Hand, und wenn das Kind noch so frisch ist, daß es sich wehrt gegen die römischen Könige und gegen den Katechismus, dann wird es zu Hause mit Schlägen und Fasten so lange gequält, bis es sich beugt. Diese grauenhafte Veranstaltung nennen Leute, die sonst für die Inquisition starke Ausdrücke übrig haben, eine Grundlage unserer Kultur. Wahrlich, den beneide ich nicht, der solchen Dingen gegenüber, hat er sie erst erkannt, seine Ruhe gelassen behaupten kann.
Nachträglich lehrt aber ruhigste Durcharbeitung, daß da die Menschen, die sich zum Staate und seinen Aufgaben vereinigt haben auf Grund gemeinsamer Sprache, einander nicht verstehen, nicht einmal in den obersten Zielen dieses Staates. Nirgends sind die Mißverständnisse so schreiend als da: in Moral, in Politik, im Rechtsleben, in Kulturfragen. Wie alle diese Worte heimlich lachen!
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