Sich selbst mißverstehen
Auch den schärfsten Denkern ist von ihren Kritikern mitunter nachgewiesen worden, daß sie sich da und dort selbstmißverstanden haben. Dies wäre doch ganz unmöglich,wenn das Denken irgend etwas anderes wäre als Sprechen. Kant hätte doch unmöglich seinen eigenen Begriff vom a priori gelegentlich mißverstehen können, wenn sein Begriff etwas vor dem Worte gewesen wäre.
Weil aber Denken und Sprechen ein und dasselbe ist, weil die geistige Tätigkeit der besten Denker in gar nichts anderem besteht, als in der verbesserten Definition der von ihnen gebrauchten abstrakten Worte, weil demnach die gewaltigste Leistung der gewaltigsten Denker oft nur darin wirksam bleibt, daß sie einen alten Begriff neu differenziert haben, indem sie ihn um eine Nuance inhaltsreicher oder inhaltsärmer machten, weil sie nun den alten Begriff nur in Augenblicken ihrer besten Geistesschärfe mit der neuen Nüancierung anwenden, sonst aber nach der Gewohnheit der Zeitgenossen: daher können Mißverständnisse ihrer selbst hervorgehen, die man richtiger Unsicherheiten der Sprache nennen könnte.
Nicht nur Ausnahmsmenschen, aus der Art geschlagene Menschen haben das Schicksal, ihre eigene Sprache nicht immer zu verstehen. Auch der einfache Art- und Herdenmensch mißversteht sich selbst — durch die Sprache. Weil wir das Wort "frei" haben, darum halten wir uns für frei. Weil wir "wollen" sagen können, darum glauben wir zu wollen. Ich will, der Stein muß. Weil wir "ich" sagen können, darum glauben wir an uns. Und welcher Mensch wäre stark genug, den Begriff "Tod", den er bei "sein Tod" denkt, mitzudenken bei "mein Tod"? Natürlich, "sein Tod" ist mein Erlebnis; mein Tod nicht. Und was ist ein Erlebnis? Was durch die Tore unserer Sinne tritt ? 0 nein! Erst was sich mit Worten an unser Ich binden läßt, an ein Wort.
Darwin sagt im 21. Kapitel seiner Abstammung des Menschen: "Unrichtige Tatsachen sind im Fortschritte der Wissenschaft höchst hinderlich, aber unrichtige Ansichten, die von Beweisen unterstützt werden, können nur wenig schaden, denn jedermann findet ein heilsames Vergnügen darin, ihre Unrichtigkeit zu erproben."
Ganz harmlos läßt Darwin da einfließen, daß falsche Ansichten von Beweisen unterstützt werden können. In Wahrheit sind solche Ansichten eben nur Worte, und auf die Dauer wird die Fülle des menschlichen Denkens oder Gedächtnisses von Worten so wenig vermehrt oder vermindert, als das Meer durch den stärkeren Lufthauch, den Sturm, der dahin und dorthin darüber bläst.