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Kritik der Sprache

Zu diesem nachdenklichen Ergebnisse müßte die vergleichende Religionswissenschaft gelangen, wenn sie, anstatt Kuriositäten aufzusuchen, sich mit der vergleichenden Sprachwissenschaft zu einer Kritik der Sprache vereinigen könnte. Die vergleichende Religionswissenschaft hat die sogenannten höheren Religionen (in denen der Fetisch nicht mehr materiell frißt, was der Priester verdaut) auf den nachweisbaren Fetischismus der "wilden" Völker zurückzuführen gesucht. Man kann diese alten Religionen bequem auf zwei Motive gründen: die Gottesverehrung auf die Furcht und die Gotteserkenntnis auf das Bedürfnis der Welterklärung. Die Gottesfurcht, z. B. die Verehrung des Blitzes aus Todesangst, gehört dem praktischen Leben an, also der Moral. Die Gotteserkenntnis des alten Fetischismus scheint mir aber eben in der Verbindung von Fetischismus und Namengebung zu bestehen. Und dieser Fetischismus dauert, aufs Äußerste sublimiert, in unserer Sprache fort. Wurde einst ein bestimmter Stein, ein bestimmtes Tier als Fetisch verehrt, weil man die Eigenschaften des Baumes, des Steins, des Tiers einer innen wohnenden Gottheit zuschrieb, so scheint mir die architektonische, fetischbildende Ordnungsliebe oder die Sehnsucht nach dem Begreifen einer Weltordnung das Wesentliche des Menschengeistes auszumachen, der sich beim Anblick der bunten Wirklichkeit nicht früher beruhigt hat, als bis er den Gott, den Geist in ähnlichen Naturdingen geschaut und wie durch Salomonis Schlüssel an ein Wort gebannt hatte. Da erfand er dann so einen neuen Fetisch, so einen Art begriff, "Baum" oder "Hund", und erblickte er etwas Ähnliches, so suchte er den Gott, den Geist, die Idee, den Artbegriff in dem neuen Ähnlichen. Und findet er etwas Ähnliches, was doch wieder nicht allen Eigenschaften des Fetisch oder der Idee "Baum" oder "Hund" entspricht, z. B. eine Palme oder einen Schakal, so quält sich der religiöse, das heißt ordnungsliebende Menschengeist, die neue Gruppe halbwegs ähnlicher Dinge architektonisch unterzubringen, und nennt das: Wissenschaft. Und die ganze Geistesarbeit unserer Gegenwart scheint mir, der ich außerhalb der Kritik der Sprache nichts Wißbares erblicke, die weitverbreitete Ahnung zu sein, daß es so nicht weiter gehe, daß die Sprache immer nur in der Weltanschauung des vergangenen Geschlechts auf die Wirklichkeitswelt passe, daß in den gegenwärtigen Worten die alten Götter stecken, daß die Wirklichkeit etwas sei und die Sprache etwas anderes. Am lebendigsten ist diese Ahnung geworden da, wo unser Leib und Leben in Frage kommt, wo (in sozialen Fragen) die Existenz der Menschengruppen oder (in der Medizin) die Existenz des Einzelmenschen bedroht ist. Da hat die Kritik tapfer eingesetzt und die bekanntesten Begriffe wie die des Rechts, der Krankheit, als mythologische nachgewiesen. Es wird lange währen, bevor auch die Artbegriffe des gewöhnlichen wissenschaftlichen Schwätzens als mythologische Figuren erkannt sein werden.  

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