Religion alte Wissenschaft
Und so glaube ich jetzt den Schritt wagen zu können und sagenzu dürfen, wie buchstäblich ich es verstehe, daß unsere Worte bloße Götter sind. Unsere gegenwärtige Weltanschauung, unsere Weise, Gott zu erkennen und zu verehren, d. h.: uns die Welt aus Ursachen zu erklären, ist uns nur darum keine Religion, weil diese Weltanschauung die unsere, die gegenwärtige ist. Religion und Wissenschaft müssen, vom Standpunkte unserer Kritik aus, darum in einem unüberbrückbaren Gegensatze stehen, weil Religion jedesmal und für jede Generation nichts anderes ist, als die eben überwundene Weltanschauung der früheren Generation oder die einer noch älteren Zeit. Religion ist die Weltanschauung oder die Sprache, die nicht mehr die Weltanschauung oder die Sprache der jeweiligen Gegenwart ist. Aber man wechselt Weltanschauungen und Sprachen nicht, wie man ein Hemd wechselt, oder wie Schlangen sich häuten. Es kommen vielmehr neue Weltanschauungen und Sprachen über ein Volk, wie die neue Behaarung über ein Tier. Härchenweise. Und auch das gibt wieder ein falsches Bild. Denn die neue Weltanschauung oder Sprache kann nur unmerklich die Bedeutung und den Laut der älteren Weltanschauung oder Sprache umformen. Der gesamte Bau unserer gegenwärtigen Weltanschauung oder Sprache besteht aus einem Material, das die veraltete Weltanschauung oder Sprache war und darum heute Religion geworden ist. Wir leben in unserer Sprache, wie etwa eine Schule in einer ehemaligen Kirche untergebracht worden ist; trotz aller Anpassung stehen die Bänke vor den Heiligenbildern der Kapelle, blickt das Himmelslicht durch gemalte Fensterscheiben hinein, stört von oben das Bimbambum der Glocke. Da ist nie ein Wort in der neuen Sprache oder Weltanschauung, welches nicht seine unverwischbare Geschichte hätte, welches nicht einen konservativen, einen veralteten, einen religiösen Sinn hätte. Darum kann nur die Kritik der Sprache uns zu einiger Klarheit über unsere eigene Weltanschauung verhelfen. Ohne Sprachkritik wird es immer möglich sein, aus der Existenz des Namens auf die Existenz des Benannten zu schließen, so z. B. aus dem Worte deus auf das Dasein Gottes. Nicht immer lebt ein Voltaire, um die lachende Antwort zu geben (Zadig, 4. Kap.): Zoroaster habe verboten, Greife zu essen. "Comment defendre le griffon, disaient les uns, si cet animal n'existe pas? II faut bien qu'il existe, disaient les autres, puisque Zoroastre ne veut pas qu'on en mange."