Musik
Nun wäre es ja möglich gewesen, daß die Menschen zum Zwecke ihrer Verständigung auf sichtbare anstatt auf hörbare Zeichen verfallen wären. Die Poesie oder die Kunst durch Mitteilung hätte dann scheinbar mit der Malerei mehr Ähnlichkeit gehabt, als wie jetzt mit der Musik. Vielleicht waren die Hieroglyphen ursprünglich eine solche Augensprache.
Daß die Farben zu Empfindungen gewordene Ätherschwingungen seien, das ist nur eine Hypothese. Eine Hypothese übrigens, die trotz ihrer allgemeinen Geltung kaum von hundert lebenden Menschen der bewohnten Erde anschaulich verstanden wird. Daß Töne zu Empfindungen gewordene Stöße sind, ist eine Tatsache, die auch der Taubstummblinde begreift. In der Musik ist also Physik unmittelbar zu Ästhetik geworden. Sehr mittelbar werden in der Poesie Töne zu einer Kunst. So hoch nun die Poesie über den anderen Arten der nachahmenden Kunst steht, so hoch steht die Musik durch elementare Gemütsmacht über der Poesie. Und das hat Beethoven an der entscheidenden Stelle eines seiner gewaltigsten Werke vergessen.
Er hat im letzten Satze der Neunten Sinfonie die unvergleichliche Schönheit und Kraft der ersten Sätze zu überbieten gesucht durch Einführung der Wortsprache. "O Freunde, nicht diese Töne! sondern laßt uns angenehmere anstimmen, und freudenvollere. — Freude!"
Den Übergang hat er mit den Mitteln eines grandiosen Humors gefunden, die in keiner anderen Kunst als in der Musik aufzubringen gewesen wären. Aber für einen Beethoven bedeutet dieser letzte Satz dennoch einen Verzicht auf seine höchste Kunst, ein dienendes Sinken unter die Sprachkunst, unter die Sprachkunst Schillers.
Das gerade macht die Musik so stark, daß sie sprachlos ist. Die schönsten Lieder sind nicht reine Musik. Reine Musik ist im Organ des großen Komponisten die Natur noch einmal, im Organ des tüchtigen Fachmusikers zu Ästhetik gewordene Physik. Etwas von dieser Wirkung verspürt auch der genießende Laie. Weltlust oder Weltschmerz wird in ihm aufgewühlt. Über diese beiden Stimmungen, die übrigens auch noch gemischt sein können, geht die Sonderung dessen nicht hinaus, was durch Musik eigentlich auszudrücken ist. Wenn der Laie oder der Programmusiker einem Satze eine bestimmte Vorstellung unterlegt, so ist das Wirkung der Seelensituation, des Zufalls oder der Suggestion. Mitunter auch beim Komponisten selbst. Ich kann beim Anhören der Kreuzer-sonate als Leitvorstellungen die Begriffe Gewitter, Schlacht, Liebe, Schicksal, Gebirge mitbringen; das Programm ändert sich, Musik und Genuß bleiben. Auf die unterlegten Wortvorstellungen kommt es nicht an.
Was Beethoven ein einziges Mal versehen hat, das hat Richard Wagner grundsätzlich mißverstanden mit seinen Leitmotiven. Wagner wußte wirklich nicht, was reine Musik ist. Er bindet jedes seiner Leitmotive an eine bestimmte Vorstellung, fast immer an eine Wortvorstellung, oft nur an einen Eigennamen. Er hat die reine Musik Beethovens unter die Sprache degradiert, wenigstens unter die Poesie, aber doch gar unter die Poesie Wagners.
Die Poesie hat zum Mittel die Vorstellungen an den Worten der Gemeinsprache. Bei der Musik müssen wir um eines größeren Anlaufs willen einen Schritt zurückgehen. Nicht alles riecht und schmeckt; fast alles ist durch die Augen wahrnehmbar. Wir müssen nur bedenken, daß die Malerei schließlich auch Luft malen gelernt hat. Klingen aber tut das ganze Weltall, wenn es nur zum Klingen gebracht ist.für jedes Ohr. Mit der Eigentümlichkeit aber, daß das, was fürs Auge die Hauptsache ist, daß der Lokalton, die individuelle Färbung, fürs Ohr Nebensache ist. C ist ewig C, ob es nur in der Luft schwirrt oder auch in der Geigensaite, im Posaunenblech, in den Tropfen eines Wasserfalls, im Rasseln der Kiesel am Ufer. Ich fürchte fast, daß die Überladung unseres Orchesters mit Farben, d. h. mit dem schwingenden Material der Töne, einmal als Barbarei wird empfunden werden. Die reine Musik beruht auf etwas ganz anderem: auf den verhältnismäßig einfachen und durch den Kontrollapparat der Ohren leicht zu überschauenden Zahlen Verhältnissen der Tonschwingungen. Wieder wie bei den Unterleibssinnen gibt uns das Gehör nur einseitige Vorstellungen, nicht ein Bild wie das Gesicht. Aber das Gehör dringt dadurch noch tiefer in das Geheimnis der Natur ein, daß es uns die objektiven Schwingungen direkt schön finden und genießen läßt, während das Auge die entsprechenden Licht Schwingungen noch subjektiver umsetzt. Das schwebte auch wohl Schopenhauer vor, als er in seiner naturphilosophischen, fast Schellingschen Ästhetik die Musik etwa "die Welt noch einmal" nannte. Ihn verführte seine Theorie des Sehens. Er hatte unrecht insoweit, als ja jeder Sinn uns die ganze Welt von seinem Standpunkt, d. h. nach seiner spezifischen Energie, noch einmal bietet. Nur so viel ist daran, daß die Musik allerdings die subjektiven Empfindungen nicht zurückprojiziert wie die Malerei. Eine Farbensinfonie ist auch die Welt noch einmal, wie man an jedem Regenbogen sehen kann, wenn man nicht blind ist für seine Augensprache.