Sprache kein Erkenntniswerkzeug
Anders in der wissenschaftlichen Untersuchung. Hier soll nichts Stimmung sein, hier ist nichts ein sinnfälliger Vorgang. Die Mehrdeutigkeit jedes einzelnen Wortes wird durch kein Ganzes vorher gemildert oder gedeutet, und so kann am Ende kein Ganzes entstehen. Was uns beim Lesen eines solchen Buches oder einer solchen Abhandlung dennoch an ein logisches Fortschreiten, an eine Klarheit und Übersicht des Ganzen glauben läßt, das ist oft die Kenntnis des Zieles, immer aber unsere Gewohnheit, die Sprache für einen treuen Führer zu halten. Wir gehen in der Irre und ahnen es nicht. Nebel bedecken alle Worte, Nebel alle Wortgruppen — und der Wahnsinn lauert an der Aufdeckung dieser Nebelschleier.
Kehren wir zu den Worten unseres Beispiels zurück. Sie werden uns die Impotenz der Sprache (als eines Erkenntniswerkzeuges) noch anders belegen helfen.
"Nebel" und "Glanz" sind beide nicht eindeutig.
"Nebelglanz" nun gar ist ein Begriff, der vielleicht in jener Nacht, als Goethe dieses Wort erfand, zum ersten Male, seitdem Menschen unter dem Monde wohnen, nötig wurde, weil zum ersten Male ein Menschenauge in solcher Stunde die beiden Lichtwirkungen zugleich wahrnahm.
Es wäre also vollständig unmöglich, mit Hilfe dieses Wortes eine unbekannte Kenntnis logisch zu erschließen, es wäre schwer, eine neuerschaffene Kenntnis auch nur mitzuteilen. Für Mitteilung einer künstlerischen Stimmung eignen sie sich aber so vorzüglich, daß hundert Jahre nach ihrer Niederschrift jeder, der Deutsch versteht und ein Herz hat, durch das Lesen dieser Verse in die damalige Stimmung Goethes hineinversetzt ist. Er erfährt sie, aber nicht logisch, sondern erfährt sie an sich selbst, er erlebt sie. Und lacht wohl nachher über die Goethe-Philologen, die darüber streiten, ob die Verse "An den Mond" lyrisch die Stimmung des Dichters oder dramatisch die der Frau von Stein ausdrücken sollen.
Gerade all die wirren Beziehungen der von Goethe gewählten Laute und Worte rufen im Gehirn des Lesers oder Hörers all die zitternden Stimmungen wach. Es ist, als ob Goethe vor hundert Jahren in einen Phonographen hineingesprochen hätte und wir nun seine bewegte Stimme hörten.