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III

Ich will in dieser Einleitung die entscheidende Rolle durch zahlreiche Beispiele belegen, die die Entlehnung oder die Nachahmung bei der Einführung der Begriffe aus allen Kulturgebieten, aus allen Geisteswissenschaften gespielt hat. Ich will die Wanderungen insbesondere der philosophischen Begriffe aufzeigen und habe darum keinen Raum, auf die Wichtigkeit der Nachahmung für das soziale Leben einzugehen. Ich verweise dafür auf G. Tarde's »Les Lois de l'imitation«, wo (S. 12) gesagt wird: »que l'être social, en tant que social, est imitateur par essence, et que l'imitation joue dans les sociétés un rôle analogue à celui de l'hérédité dans les organismes ou de l'ondulation dans les corps bruts.« Ich werde selbst vielleicht später einmal noch weiter ausholen und die Bedeutung klar zu legen suchen, welche die Nachahmung (die Nachahmung von Sprachbewegungen, nicht die Klangnachahmung) bei der Entstehung der Sprache gespielt haben muß. Den leitenden Gedanken will ich gleich hier mitteilen.

Das Sprechen gehört zu den Bewegungen der Menschen; es ist trotz der äußersten Kompliziertheit eine so leichte Bewegung, daß es (wenn man von den Berufssprechern absieht) gar nicht als eine Anstrengung empfunden wird. Es ist leicht wie eine Reflexbewegung oder wie eine Instinkthandlung. Es kann aber doch nicht eine bewußte, jedesmal neugewollte Bewegung sein. Bewußte, neukoordinierte Bewegungen sind immer schwer oder anstrengend. Nun weiß man aber, daß auch schwierige Bewegungen durch häufige Einübung beinahe zu Reflexbewegungen werden können. Ein Klaviervirtuose kann die eingeübte Sonate im halben Schlafe noch zu Ende spielen. Nun sind neue Worte, heute wie in Urzeiten, gewiß erst durch den Willen einzelner Sprachgenies erfunden, geprägt, gebaut und koordiniert worden; Freiheit des Willens der Sprache gegenüber – wenn man überhaupt von einer solchen relativen Willensfreiheit reden darf – ist immer nur bei Sprachgenies gewesen. Die große Masse, die ihre Muttersprache nur so eben weiter redet, wie sie ihr vorgeredet worden ist, mit ganz leisen und allmählichen Änderungen, hat keinen freien Willen beim Sprechen. Jeder Mensch ist im Gebrauche seiner Muttersprache ein kleiner Virtuose, dem die komplizierten Bewegungen seiner Sprachwerkzeuge zu Reflexbewegungen geworden sind, zu Instinkthandlungen, wenn man lieber will. Das muß schon ebenso gewesen sein, in wie alte Zeit immer man die Entstehung der Sprache zurückversetzen mag. Und da achte man auf einen entscheidenden Umstand: auch in jener Urzeit konnten die Zeichen der Mitteilung unter den Menschen erst dann unserem Begriffe Sprache entsprechen, als sie durch Nachahmung der neuerfundenen Zeichen und durch Einübung, durch gemeinsame Einübung einer Familie oder eines Stammes, beinahe zu Reflexbewegungen dieser kleineren oder größeren Gruppe geworden waren. Wie wir uns die Ähnlichkeit unzähliger Kulturworte nicht ohne Entlehnung erklären können, so können wir uns, wie man jetzt einsehen wird, auch die Entstehung irgendeiner noch so primitiven Sprache der Urwelt gar nicht ohne Nachahmung und Einübung vorstellen. Nachahmung oder Entlehnung ist also durchaus nicht irgendein seltenes Vorkommnis unter den Kultursprachen, sondern gehört urzeitlich dem Wesen der Sprache an.

Ich habe in diesem Zusammenhange das Wort Nachahmung gebraucht, und werde dann wieder, wo von der Herleitung einzelner Wörter die Rede ist, von Entlehnung und Lehnübersetzung reden; das ist aber wirklich kein Wechseln mit den Begriffen. Nachahmung ist nur der allgemeinere Begriff, den man gern auf die Wiederholung von Kunstprodukten und von Bewegungen jeder Art verwendet; für die Wiederholung oder Nachahmung derjenigen Bewegungen, die das Sprechen ausmachen, ist nur die Bezeichnung Entlehnung schon eingebürgert, als terminus technicus, wahrscheinlich darum, weil die Sprachwissenschaft Wert darauf legte, das Entlehnen oder Ausborgen als eine unschickliche, tadelnswerte, der Würde einer Hauptsprache nicht geziemende Handlung darzustellen. Man muß sich aber, wenn man von Entlehnungen spricht, womöglich immer bewußt bleiben, daß man einen bildlichen Ausdruck gebraucht hat; die Sprache ist nicht arm und nicht reich, hat keine Bedürfnisse und keinen Überfluß, leiht nicht aus und entlehnt nicht. Auch gibt es nur Individualpsychologie; und in der psychologischen Wirklichkeit gibt es nur sprechende Individuen, die nachahmen, nicht Sprachen und Völker, die entlehnen. Das Bild vom armen Manne, der beim reichen Nachbar ein Werkzeug borgt, paßt höchstens auf den Erfinder oder Entdecker, der eine neue Sache bei seinen Volksgenossen einführen will, und nun die Idee oder eine einzelne Form, die Sache oder ihren Namen von dort herübernimmt, wo Idee oder Form, Sache oder Name zu finden war.

Die Geschichte kennt den Begriff der Völkerwanderung; man hat ihn auf die Volksbewegungen eines verhältnismäßig kleinen Zeitraums eingeschränkt. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, daß die Wanderung von Sachen und von Namen für die Kulturgeschichte von ungleich größerer Bedeutung war als die Völkerwanderung, die ein Historiker dem anderen nachschreibt, und von der wir uns heute fast ebenso phantastische Vorstellungen machen, wie die Bilder phantastisch sind, mit denen der alte Wolfgang Lazius seine Bücher De Gentium Aliquot Migrationibus geschmückt hat, – daß die Wanderung von Gebrauchsgegenständen und ihren Namen, von Kenntnissen und ihren Begriffen, von Formen und Motiven der Kunst und der Poesie, von Spruchweisheit und von Philosophie zu allen Zeiten das materielle und geistige Leben der Völker in beinahe unerforschlich mächtiger Weise beeinflußt hat.