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XI

Die großen Beispiele von Übersetzungen ganzer Kulturen, von der Völkerwanderung der Kulturen, bieten Gelegenheit genug, den Vorgang zu studieren; aber die Wissenschaft hat gegenüber dem Vorgang immer wieder die Augen geschlossen, hat auch in neuer Zeit entweder Kulturgeschichte getrieben und sich dann zu wenig um die Wanderung der Begriffe gekümmert, oder hat Sprachwissenschaft getrieben und sich dann mit einseitiger Entdeckerfreude auf den Lautwandel in der Wortgeschichte geworfen. Wie aber, oft genug bis ins kleinste nachweisbar, die Begriffe übernommen werden, bald in der Form von Fremdwörtern, bald in der Form von Lehnübersetzungen, das wurde von den Einen gar nicht gesehen, von den Andern aber zu wenig beachtet.1

Zwei Arten solcher Kulturwanderungen gilt es besonders zu unterscheiden: die Wanderung von Realbegriffen und die Wanderung von ganz abstrakten, religiösen oder philosophischen, Vorstellungen. Für die erste Art bietet die Aufnahme des antiken Naturwissens durch die Araber ein frappantes Beispiel.

Das größte Beispiel der zweiten Art von Wanderung ist die Aufnahme der christlichen Lehren und der aristotelischen Philosophie durch das Abendland.

Man stelle sich nur lebhaft die Seelensituation des Bischofs Ulfilas vor, da er seinen Goten die Kulturmasse des Christentums in ihrer Sprache zu übermitteln beschlossen hatte. Ihm war beides geläufig: die griechische Sprache des Neuen Testaments und die Mundart seines Volkes, die wir ja erst durch ihn und nur durch ihn als eine Schriftsprache kennen gelernt haben. Wenn wir heute eine wahre oder erfundene Erzählung, etwa aus dem Französischen, ins Deutsche übersetzen wollen, so ist die Aufgabe einfach die: die geläufigen Vorstellungen aus der einen Sprache so wiederzugeben, daß durch die deutschen Worte beim Leser die genau entsprechenden Vorstellungen wieder erweckt werden; und das ist möglich, ja leicht, weil die beiden Gemeinsprachen durch Herkunft aus gemeinsamen Kulturquellen, durch ein Jahrtausend lange gegenseitige Beeinflussung allmählich bei den gleich gebildeten Individuen beider Völker fast die gleiche Seelensituation hervorgerufen haben. Das französische Original und die deutsche Nachbildung unterscheiden sich am Ende nur durch die sprachliche Form, fast gar nicht durch den Vorstellungsinhalt; kennt der deutsche Leser überdies auch noch z. B. das Pariser Leben, in dessen Milieu die Erzählung spielt, so kann er aus der Übersetzung die Vorstellungen des Originals fast ohne Rest aufnehmen. So war das Verhältnis zwischen dem gotischen Bischof und der Bibel nicht. Schon die einfache Erzählung der historischen Vorgänge verschob sich absichtslos, weil der gotische Barbar eine andere Seelensituation hatte als der jüdische Barbar, und weil beide den Hintergrund der römischen Kultur, vor dem in der Provinz Judäa die Ereignisse des N. T. sich abspielten, anders sahen. Es ist bekannt, wie noch viel später im Heliand Jesus zu einem deutschen Lehnsherrn, einem ritterlichen, umgeformt wurde. Immerhin konnte Ulfilas bei der Wiedergabe der Erzählungen in unserem Sinne zu übersetzen glauben. Handelte es sich aber um Wiedergabe eigentlicher Glaubenssätze, selbst in der wenig dogmatischen Form der Evangelien, so fand Ulfilas in seiner gotischen Mundart die entsprechende Seelensituation nicht vor und war gezwungen, Wort mit Wort, Silbe mit Silbe wiederzugeben. Genau so wie hundert Jahre später das Christentum den Franken und Alemannen in Lehnübersetzungen gepredigt wurde. Ich brauche die Bibel nur aufzuschlagen. Jesus spricht zu Martha (Ev. Joh. 11, 25): Εγω εἰμι ἡ ἀναστασις ϰαι ἡ ζωη, ὁ πιστευων εἰς ἐμε, ϰἀν ἀποϑανῃ, ζησεται. (Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich gläubet, der wird leben, ob er gleich stürbe.)

Auferstehung, Leben, Glauben wird übersetzt. Die Vorstellung Auferstehung war aber ganz gewiß nicht in der Seele eines Goten, bevor die Lehnübersetzung us-stass (Urständ) für ἀναστασις nicht gebildet und den Goten gepredigt worden war.

Zur Karrikatur wird ganz gewiß die Lehnübersetzung religiöser Formeln da, wo neuerdings Missionare das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis in Sprachen übersetzen, die der Originalsprache noch ferner stehen als die gotische Mundart der griechischen Sprache stand; wo diese Missionare mit ein paar Brocken der betreffenden »Wildensprache« die Lehnübersetzung der abstrusesten Vorstellungen vornehmen. Adelung hat in seinem Mithridates gegen 500 solcher Lehnübersetzungen des Vaterunsers gesammelt; man hat seitdem tapfer weiter darauf los übersetzt. Ich zweifele nicht daran, daß nur wenige Missionare die erforderlichen Sprachkenntnisse hatten, und daß eine Kritik dieser Übersetzungen Greuel zutage fördern würde. Einerlei: verknüpften die »Wilden« mit den gepredigten Formeln ungefähr die hergebrachten Vorstellungen, so war ja das Christentum bei ihnen eingeführt.

Nicht viel anders konnte es um die Übersetzung philosophischer Sätze stehen, wie sie um das Jahr Tausend herum Notker Labeo, der gelehrte Benediktiner von St. Gallen, versuchte. Zwar die Übersetzung eines feinen Traktätleins, wie es die fünf Bücher des Boëthius De consolatione philosophiae darstellen, ließe sich noch mit den erzählenden Stücken der Evangelien vergleichen; es ist nicht die gleiche Seelensituation bei dem Minister aus dem 5. und bei dem Mönch aus dem 10. Jahrh., aber doch die Möglichkeit, mit den entsprechenden Worten ähnliche moralische Vorstellungen zu verbinden. Und gleiche Menschlichkeiten. Wie aber eine unüberbrückbare Kluft zwischen der, wenn ich so sagen darf, geistigen Grundstellung der gotischen Sprache und der Seelensituation im Denken und Sprechen der Evangelisten war, so auch zwischen der althochdeutschen Sprache des Notker und der geistigen Grundstellung des Metaphysikers Aristoteles. Notker Labeo muß ein genialer Übersetzer gewesen sein; ich erwähne nur skidunga für differentia, selbwaltigi für liberum arbitrium, geskiht für casus (wehsal für den grammatischen casus), anderlichi für alteratio, machunga für causa, unspaltig für individuum, widerwartig (noch bei Goethe widerwärtig in diesem Sinne), widarchetig, gagenstalt für contrarium und oppositum, wist für substantia (οὐσια), daz kemeina für genus, daz sunderiga für species, stupf für punctum. Gelangt er aber in seiner Übersetzung der Kategorienlehre zu Abstrusitäten, die seit zweitausend Jahren bis heute noch niemand eigentlich verstanden hat, so ist die althochdeutsche Sprache wohl ebenso hilflos, wie es die gotische gegenüber den Dogmen war.

Ich wähle zur Illustration eine Stelle aus dem 2. Kap. der Kategorien: eorum quae sunt, alia de subjecto quodam dicuntur, in subjecto vero nullo sunt. Ut homo de subjecto quidem aliquo homine dicitur, in subjecto vero nullo est. (Nach Kirchmann: »Von dem Seienden wird manches von einem Unterliegenden ausgesagt, aber ohne daß es in einem Unterliegenden ist; so wird z. B. der Mensch von einem unterliegenden einzelnen Menschen ausgesagt, aber er ist in keinem unterliegenden Menschen.«) Notker, der ja den lateinischen Aristoteles vor sich hatte, übersetzt silbengetreu: Sunelichin dero wesenton dingo werdent kesprochen fone demo underin, tiu doh ne sint an demo underin, noh in demo underin. Also mennisko gesprochen wirdit fone demo underin, etelichemo menniskin, an demo er doh ne ist.

Zwölfhundert Jahre nach Ulfilas geht Luther daran, dem deutschen Volke eine deutsche Bibel zu schenken. Sehen wir einmal ab von der unvergleichlichen Bedeutung, die seine Arbeit für die Sprache und das Leben der Deutschen gewann; betrachten wir einmal nur die Seelensituation des Übersetzers Luther bei seiner Arbeit. Die christlichen Begriffe waren dem Volke durch eine Einübung von tausend Jahren geläufig geworden, auch die Scheinbegriffe. Verstanden oder unverstanden, als Fremdwörter, als Lehnwörter oder als Lehnübersetzungen gehörten die Begriffe der deutschen Sprache an. Luther konnte glauben aus dem Hebräischen und dem Griechischen übersetzen zu können, wie man etwa heute ein wertvolles französisches Buch ins Deutsche übersetzt. Und weil er mit seiner Arbeit eine Tendenz verknüpfte, den Kampf gegen die alten und oft fälschenden Übersetzungen im lateinischen Texte, so konnte er an entscheidenden Stellen die Übersetzungsworte so wählen, wie es seiner Tendenz entsprach. Sehen wir auch davon ab, daß seine Übersetzung so mitunter ein heimlicher Kommentar wurde, eine Paraphrase anstatt einer Metaphrase. Im ganzen und großen wurde seine Bibelübersetzung eine traductio, während die Übersetzung des Ulfilas eine versio gewesen war. Wir werden gleich sehen, warum auch zwischen diesen beiden Begriffen nur ein relativer Unterschied besteht. Uns genüge es für jetzt, bemerkt zu haben, daß Ulfilas neue Begriffe durch Lehnübersetzung einführen mußte, seine Sprachkraft für die Prägung neuer Wörter einsetzen, daß Luther seine Sprachkraft viel freier der Verbindung eingedeutschter, bereiter Wörter zuwenden konnte.

Ganz ähnlich dürfte das Verhältnis sein zwischen einem Notker, der die philosophischen Begriffe der Antike mühsam und silbengetreu in eine Barbarensprache übersetzte, und den Männern, welche, wieder gegen 800 Jahre später, eine deutsche Terminologie für die Philosophie schufen: etwa Thomasius und Wolf. Wieder waren die Begriffe der Philosophie durch tausendjährige Einübung Gemeingut wenigstens der Gelehrten geworden, in der lateinischen Gelehrtensprache, verstanden oder unverstanden, auch die Scheinbegriffe; und für viele der lateinischen Ausdrücke hatte die Technik des gelehrten Unterrichts langsam deutsche Ersatzwörter gefunden; man erklärte, schon zur Zeit des lateinischen Vortrags, den jungen Leuten schwierige Termini durch Wörter der Muttersprache, man verdeutlichte oder verdeutschte sie ihnen, – wie nachher Wolf und noch Kant die deutschen Ausdrücke häufig durch Beifügung der lateinischen verdeutlichten, fast hätte ich gesagt: verdeutschten. Namentlich Wolfs Tätigkeit ist sehr beachtenswert.

Die ganze Bedeutung Wolfs für die Wortgeschichte in der deutschen Philosophie zu erkennen, hindert uns der Umstand, daß die Wörterbücher zumeist nur die Gemeinsprache im Auge haben und sich namentlich um die Lehnübersetzungen der alten technischen Ausdrücke früher nur wenig gekümmert haben. Dazu kam, daß Wolf, dessen Ansehen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kaum seinesgleichen hatte, zur Zeit der Abfassung unserer großen Wörterbücher nicht mehr für voll angesehen wurde; trotz seiner häufigen Anstrengungen, sich Leibniz gegenüber als einen selbständigen Philosophen durchzusetzen, galt er allgemein, und im ganzen mit Recht, für einen unfreien Schüler von Leibniz. Wie groß sein Einfluß auf die deutschen Popularphilosophen und dann auf Kant gewesen war, das wurde übersehen. Noch Jacob Grimm mußte sich den Vorwurf gefallen lassen, daß er in den von ihm selbst noch herausgegebenen Bänden des D. W. den Mann kaum zitiert hatte, dem die wissenschaftliche Sprache der Deutschen mehr verdankte als irgend einem andern; im ersten Quellenverzeichnisse fehlt der Name Wolf völlig, im zweiten findet sich nur eine der kleineren deutschen Schriften. Erst die Nachfolger Grimms haben mit so ungleichem Erfolge, wie sie ungleich waren an Fähigkeiten, den Versuch gemacht, das Hinüber und Herüber der philosophischen Begriffe, die schwankenden Beziehungen zwischen der Gemeinsprache und der Philosophensprache mitunter an Wolf anzuknüpfen. Und Wolf selbst, der doch selbstbewußt genug auch von den sprachlichen Vorzügen seiner Bücher spricht, glaubt noch, fast hundert Jahre nach den französischen Schriften des Descartes, den Gebrauch der deutschen Sprache in der Weltweisheit fast entschuldigen zu müssen.

Für sein bewußtes Verhältnis zu der ältern Terminologie gibt die wichtigsten Aufschlüsse seine »Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schriften, die er in deutscher Sprache herausgegeben« (1726). In der Vorrede verspricht er viel. »Man findet z. E. die Ursachen, warum ich Deutsch, und zwar rein Deutsch, geschrieben; man findet die Regeln, nach welchen ich mich in den deutschen Kunst-Wörtern geachtet; man findet erwiesen, daß ich dadurch meine Schriften nicht dunkel gemacht, noch auch den Wörtern eine andere, als die gewöhnliche, obwohl eine abgemessene Bedeutung beigeleget.« Die Erwartungen des heutigen Lesers werden so gespannt, aber nicht ganz befriedigt; daß seine Feinde ihren Schülern nur lac ignorantiae gespendet hätten, er aber die wahre Weisheit, das mag gern geglaubt werden; aber die Prinzipien seiner Übersetzungskunst werden nicht deutlich vorgetragen, weil sie ihm selbst nicht deutlich sein konnten.

Er habe von der Weltweisheit in deutscher Sprache geschrieben, weil auf seiner Universität auch der Vortrag in den Collegiis in deutscher Sprache geschah; weil die Studenten, was lateinisch vorgetragen wird, nicht so wohl verstehen, als wenn es ihnen in ihrer Muttersprache vorgetragen würde; diejenigen müßten auch berücksichtigt werden, die das Unglück gehabt »in ihren Schuljahren in der Latinität versäumet zu werden« (S. 25); auch Unstudierte sollten sich aus diesen deutschen Schriften erbauen können. Wolf wollte reines Deutsch schreiben. »Ich habe mich nicht allein von ausländischen Wörtern enthalten, die man heute zu Tage in unsere deutsche Sprache häufig mit einzumengen pfleget, sondern auch alle Redensarten vermieden, die unserer deutschen Mundart nicht gemäß und bloß Übersetzungen von Redensarten sind, die man aus fremden Sprachen entlehnet.« Unsere deutsche Sprache sei nicht arm. »Ich habe gefunden, daß unsere Sprache zu Wissenschaften sich viel besser schickt als die lateinische, und daß man in der reinen deutschen Sprache vortragen kann, was im Lateinischen sehr barbarisch klinget« (S. 27). Er habe zum ersten Male deutsche Kunstwörter in die Philosophie eingeführt, aber die ältern Kunstwörter, wo sie zufällig vorhanden waren, habe er beibehalten. So gedenken für concipere. Er habe nicht aus dem Lateinischen übersetzt, sondern die Worte gebraucht, als ob es gar keine lateinischen Kunstwörter gegeben hätte. Die Ontologie nenne er nicht die Dinger-Lehre, sondern die Grund-Wissenschaft; die propositio identica nenne er einen leeren Satz. Besondern Wert habe er auf die Gleichförmigkeit im Gebrauche der Wörter gelegt.

Es ist auch Wolf nicht erspart geblieben, daß er der idealen Forderung, seine Kunstwörter immer nur im Sinne seiner eigenen Definition zu gebrauchen, nicht treu geblieben ist; in seinen lateinischen wie in seinen deutschen Schriften gebraucht er manche Ausdrücke recht ungenau. Aber sein Bestreben, keine buchstäblichen Lehnübersetzungen zu bieten, also frei zu übersetzen, sind doch sehr merkwürdig und müssen auffallen, wenn man erst durch seine eigene Regel auf die Mühe aufmerksam geworden ist, die er sich gegeben hat. Für definitio sagt er Erklärung, für analysis Zergliederung, für principium Quelle.

Vom Standpunkte des Patriotismus und der Sprachästhetik können die deutschen Schriften Wolfs kaum hoch genug eingeschätzt werden; wem es eine Notwendigkeit war, philosophisch zu denken und dabei deutsch zu denken, der konnte es in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erst von Wolf lernen. Aber Wolfs Arbeiten in deutscher Sprache sind nur die praktische Ausführung eines viel weiter gehenden Programms, welches sein ungleich größerer Lehrer Leibniz als ein Arbeitsprogramm für die zu begründende Berliner Akademie der Wissenschaften (wahrscheinlich zu Beginn des Jahres 1698 oder Ende 1697) rasch hingeworfen hatte, welches erst nach Leibnizens Tode als die erste seiner deutschen Schriften veröffentlicht wurde, zuerst von Gottsched, der ein ebenso wackerer magister Germaniae war wie Wolf, nach Gebühr gewürdigt; natürlich meine ich die schon erwähnte Schrift: »Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der teutschen Sprache«. In einem Briefe nennt Leibniz diese Schrift viel hübscher: Dissertatiuncula extemporanea de Linguae Germanicae cura. Ich halte mich nun lieber an Leibniz als an Wolf, um, mit bewußter Außerachtlassung des patriotischen und des ästhetischen Standpunktes, einmal an die Frage heranzutreten, ob das philosophische Denken durch Übersetzung der Wörter in die Muttersprache wirklich soviel gewinne, wie seit einigen hundert Jahren geglaubt wird. Um die Frage zu untersuchen: worin besteht das Wesen der Übersetzung, insbesondere der Übersetzung philosophischer Ausdrücke?

In den Paragraphen 10 und 11 behauptet Leibniz, daß die deutsche Sprache für die Ausdrückung der psychologischen, ethischen, politischen, logischen und metaphysischen Begriffe sich mindestens so gut eigne wie die lateinische; »weil alles, was der gemeine Mann treibet, wohl in Teutsch gegeben, so ist kein Zweifel, daß dasjenige, so vornehmen und gelehrten Leuten mehr fürkommt von diesen, wenn sie gewollt, auch sehr wohl, wo nicht besser in reinem Teutsch gegeben werden können. Nun wäre zwar dieser Mangel bei denen logischen und metaphysischen Kunstwörtern noch in etwas zu verschmerzen, ja ich habe es zu Zeiten unser ansehnlichen Haupt-Sprache zum Lobe angezogen, daß sie nichts als rechtschaffene Dinge sage, und ungegründete Grillen nicht einmal nenne (ignorat inepta). Daher ich bei denen Italienern und Franzosen zu rühmen gepfleget: Wir Teutschen hätten einen sonderbaren Probierstein der Gedanken, der andern unbekannt; und wann sie denn begierig gewesen etwas davon zu wissen, so habe ich ihnen bedeutet, daß es unsere Sprache selbst sei; denn was sich darin ohne entlehnte und ungebräuchliche Worte vernehmlich sagen lasse, das seie würklich was Rechtschaffenes; aber leere Worte, da nichts hinter, und gleichsam nur ein leichter Schaum müssiger Gedanken, nehme die reine teutsche Sprache nicht an.« Es wäre Sache einer besonderen Untersuchung, die Stimmung zu ergründen, aus der heraus der internationale Mann die prächtige Schrift schrieb; hier handelt es sich nur darum, die Richtigkeit des Glaubens zu prüfen, daß die modernen Nationalsprachen für die Behandlung philosophischer Gegenstände geeigneter seien, als die lateinische Gelehrtensprache es war. Es versteht sich von selbst, daß uns der Gebrauch der Muttersprache auch für die Wissenschaften als der einzig mögliche erscheint; eine Unzahl von Dingen und Gedankendingen läßt sich ja in klassischem Latein gar nicht ohne Paraphrase oder Umschreibung bezeichnen. Und noch einmal: der patriotische und der ästhetische Standpunkt bekümmert uns hier nicht. Aber just die Begriffe der Philosophie scheinen mir um nichts rechtschaffener zu werden dadurch, daß wir sie aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzen, wie die Lateiner sie aus dem Griechischen übersetzt hatten. Die Franzosen haben in ihrer Sprache den alten Begriffsunterschied von version und traduction beibehalten (Vgl. den lesenswerten Artikel Traduction der »Encyclopédie«); version bezeichnet die silbengetreue Wiedergabe eines Textes, die authentische Übersetzung einer heiligen Schrift so gut wie eine Schulübersetzung, die auf Schönheit keinen Anspruch macht; traduction soll ein fremdes Literaturprodukt zwar genau, aber im Geiste der Muttersprache wiedergeben. Im Deutschen haben wir diesen Begriffsunterschied kaum (es ist nicht üblich, zwischen Übersetzung und Übertragung zu scheiden); auch beschäftigen sich die Schriften über Übersetzungskunst fast ausschließlich mit ästhetischen Fragen und solchen der Poetik; kaum daß Schopenhauer (Parerga II. S. 602) auf die Ungleichheit der Assoziationssphären als auf den Grund der Mangelhaftigkeit aller Übersetzungen hingewiesen hat, die nach ihm nur wie Kopien eines Gemäldes wirken, nach einem strengeren Urteile wie die Rückseite einer Stickerei. Ich möchte aber zeigen, daß die Lehnübersetzungen philosophischer Begriffe immer nur Versionen sind, niemals Traduktionen sein können, daß also diese Lehnübersetzungen ihren Erfindern selbst nur durch die Modellwörter verständlich sind, den Schülern und der Nachwelt jedoch durch häufige Einübung zwar geläufiger werden können als die Modellwörter, aber um nichts verständlicher.

Die Lehnübersetzung gehörte entweder schon vorher der Gemeinsprache an, oder sie wurde aus Wörtern der Gemeinsprache neu zusammengesetzt; auf diese beiden Möglichkeiten (Ausnahmen sind äußerst selten) lassen sich auch die Fälle zurückführen, in denen die Übersetzung mehr eine Erklärung, eine Umschreibung, eine Interpretation ist, wie die Übersetzungsarbeit von Wolf nach seiner eigenen Meinung. Ist das Wort neu gebildet worden (z. B. Gegenstand), so ist das Wort doch offenbar nur durch sein Modellwort zu erklären; die Einübung kann es zu einem Worte der Gemeinsprache machen, aber niemals kann dieses Wort nur darum vorstellbar werden, weil seine Silben schon vorher der Gemeinsprache angehörten. Ist aber ein sinnfälliges Wort der Gemeinsprache zur Übersetzung benützt worden (z. B. Zweck), so muß sich der philosophische Schriftsteller, der es technisch gebraucht, zu den alten Bedeutungen des Worts die neue bildliche Bedeutung hinzumerken, und muß sich wohl hüten, das Bild für eine Definition zu halten, aus einer Metapher Schlüsse zu ziehen. Auch der Begriff der Gemeinsprache ist ja relativ. Es gibt keine Sprache, die zwischen allen Menschen eines Volkes geläufig wäre; und Sprache ist ja nur zwischen den Menschen. Die philosophischen Begriffe gar nicht einmal immer zwischen allen philosophierenden Menschen, sie sind oft nur zwischen den Philosophen einer bestimmten Schule.

So glaube ich in Kürze angedeutet zu haben, warum die Lehnübersetzungen der philosophischen Begriffe der Erkenntnis weniger nützlich waren als sonst die Einführung der modernen Nationalsprachen in die Wissenschaften. Durch den Gebrauch von Lehnübersetzungen wurden die schwierigen Begriffe nicht leichter, die verschwommenen nicht schärfer, die Scheinbegriffe erhielten keinen Wirklichkeitswert. Nur eins wurde gewonnen: Sprachkritik konnte einer lebenden Sprache gegenüber erfolgreicher einsetzen als einer toten Sprache gegenüber. Und Sprachkritik konnte es endlich zum Bewußtsein bringen, daß wir immer noch ahnungslos scholastisch sind, wenn wir die überlieferten Termini, einerlei ob im Original oder in Übersetzungen, im Vertrauen darauf gebrauchen, daß immer ein Begriff bei dem Worte sein müsse, bei einem Worte der Philosophie erst recht.


  1. Der breite Betrieb der vergleichenden Sprachwissenschaft hat sich, trotz eindringlicher Warnungen, mit fast mechanischer Methode auf das Studium des Lautwandels festgelegt, und schwört heute noch darauf, daß es Gesetze dieses Lautwandels gebe; das Studium des ungleich wichtigeren Bedeutungswandels galt in den letzten Jahrzehnten nicht für streng wissenschaftlich. Die Vernachlässigung dieses entscheidenden Teils der Sprachgeschichte war eine der Hauptursachen für die sonst rätselhafte Erscheinung, daß so gründliche Forscher die Macht der Lehnübersetzungen übersehen konnten. Vor kurzem hat R. M. Meyer, der eine Deutsche Bedeutungslehre vorbereitet, eine sehr anregende Studie über Bedeutungssysteme (Zeitschr. f. vgl. Sprachf. 43. S. 352 f.) veröffentlicht und da die Übersetzung fremder Ausdrücke in der Wortgeschichte »noch lange nicht genügend gewürdigt« genannt; er hat nur wenige Hinweise auf die Rolle der Lehnübersetzungen zu buchen gehabt: außer meiner Schrift »Die Sprache« nur noch zwei kleine Aufsätze aus Kluges Zeitschrift und eine nur ganz gelegentliche Äußerung von Heinzel (Stil der altgermanischen Poesie S. 1).
    Unter den Männern, die tapfer den Kampf gegen das Dogma vom allein seligmachenden Lautwandel aufgenommen und die großen Gesichtspunkte von Curtius, Brugmann und Delbrück festgehalten haben, sind besonders die Brüder E. und W. Meyer zu nennen. Nur schade, daß in einer so rein historischen Disziplin immer wieder nach Gesetzen geforscht wird.
    Über die Prioritätsfrage, wer zuerst auf die Macht der Lehnübersetzungen hingewiesen habe, möchte ich mich nicht einmal lachend äußern.