Laplacescher Geist
Die Vorstellung von einer außerordentlichen, aber doch eigentlich nicht übermenschlichen Intelligenz, die imstande wäre, auf Grund der mechanistischen Weltanschauung Vergangenheit und Zukunft alles Weltgeschehens in eine einzige mathematische Formel zu fassen, diese hübsche Vorstellung ist von Du Bois-Reymond in seinem berühmt gewordenen Vortrage »Über die Grenzen des Naturerkennens« populär gemacht worden. Ich möchte kurz zu zeigen versuchen, daß Du Bois-Reymond die spielerische Idee von Laplace arg vergröbert hat.
Gauß, von welchem Laplace selbst gesagt haben soll, er sei nicht der erste Mathematiker Deutschlands, denn er sei ja der erste Mathematiker der Welt, – Gauß drückte sich einmal brieflich mit gewohnter Überlegenheit über solche Phantasien aus: »Ich leugne nicht, daß ich selbst mich zuweilen auf ähnliche Art (wie Laplace) amüsiere, nur würde ich dergleichen nie publizieren.« Gegen die Ernsthaftigkeit des Laplaceschen Einfalls möchte ich nicht einwenden, daß Laplace in seinem politischen Handeln und in seinem Privatleben unzuverlässig und kleinlich war;1 denn davon hängt der Wert wissenschaftlicher Leistungen nicht ab. Und gehört, genau genommen, nur zum Klatsch der Gelehrtengeschichte. Aber Laplace war trotz seines ausgesprochenen Atheismus ein Skeptiker; derselbe Mann, der fromme Mathematiker durch das Dictum erschreckt hatte: »Dieu est une hypothèse dont je n'ai pas eu besoin«, sprach auf seinem Totenbette, als man ihm zur Freude die Reihe seiner wissenschaftlichen Entdeckungen aufzählen wollte, die resignierten Worte: »Ce que nous connaissons est peu de chose, ce que nous ignorons est immense.«
Dieser Laplace nun hat in seinem vorzüglichen Buche Essai philosophique sur les Probabilités, und gleich zu Beginn desselben, die Phantasie gefaßt von einer Weltformel, die uns alle Bewegungen der Lebewesen ebenso vorhersagen ließe, wie uns die astronomischen Formeln gestatten, die Bewegungen der Gestirne vorher zu sagen. Ich will die geistreiche Phantasie fast vollständig übersetzen. »Alle Ereignisse, selbst solche, die wegen ihrer Kleinheit nichts mit den großen Gesetzen der Natur zu tun zu haben scheinen, sind doch Folgen von ihnen und ebenso notwendig wie die Umdrehungen der Sonne. Solange man nicht wußte, welche Verbindungen sie mit dem ganzen Weltsysteme vereinigen, hat man sie von Endursachen oder vom Zufall abhängen lassen, je nachdem sie eintraten und sich folgten mit Regelmäßigkeit oder ohne anscheinende Ordnung; aber diese imaginären Ursachen wurden allmählich zurückgerückt, sowie unsere Kenntnisse sich erweiterten, und sie verschwinden völlig vor der gesunden Philosophie, die in ihnen nur den Ausdruck der Unwissenheit sieht, in der wir über die wahren Ursachen leben.
»Die gegenwärtigen Ereignisse haben mit den vorausgehenden eine Verbindung, die auf das evidente Prinzip gegründet ist: eine Sache kann nicht anfangen zu sein ohne eine Ursache, die sie bewirkt. Dieses Axiom ist bekannt unter dem Namen des Prinzips vom zureichenden Grunde; es erstreckt sich auch auf solche Wirkungen, die man als gleichgiltig betrachtet. Der freieste Wille kann sie nicht entstehen lassen ohne ein bestimmendes Motiv; denn wenn unter völlig gleichen Umständen der Wille sich in einer von zwei Richtungen entscheiden wollte, dann wäre seine Wahl eine Wirkung ohne Ursache … Die entgegengesetzte Meinung ist eine Illusion der Vernunft, welche die flüchtigen Gründe der Willenswahl bei den gleichgiltigen Dingen übersieht und sich einbildet, der Wille habe sich selbst und ohne Motive bestimmt.
»Wir können also den gegenwärtigen Stand der Welt betrachten als die Wirkung des unmittelbar vorausgehenden Standes und als die Ursache des unmittelbar folgenden. Eine Intelligenz, welche für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte der belebten Natur kennen würde und die Relationen der Lebewesen dazu, könnte – wäre sie sonst nur groß genug, um alle diese Data der Analyse zu unterwerfen – in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper und die der kleinsten Atome begreifen; nichts wäre für sie ungewiß und Zukunft wie Vergangenheit wäre ihren Augen gegenwärtig. Der menschliche Geist bietet ein schwaches Modell dieser Intelligenz in der Vollendung, die er der Astronomie zu geben gewußt hat … Indem er die gleiche Methode auf einige andere Gegenstände des Wissens anwandte, ist er dazu gelangt, die beobachteten Erscheinungen auf allgemeine Gesetze zurückzuführen, und die Erscheinungen vorauszusehen, welche die gegebenen Umstände hervorrufen müssen. Alle seine Anstrengungen in der Erforschung der Wahrheit haben die Tendenz, ihn unaufhörlich der Intelligenz anzunähern, welche wir eben verstehen gelernt haben, von der er aber immer unendlich weit entfernt bleiben wird. Diese Tendenz ist der Menschenart eigentümlich und macht sie den Tieren überlegen; Fortschritte auf diesem Gebiete unterscheiden die Völker und die Jahrhunderte und machen ihren wahren Ruhm aus.«
Man muß den Grundgedanken des Laplaceschen Buches ganz und gar mißverstanden haben, um nicht zu sehen, daß Laplace mit dieser Phantasie nur spielerisch und künstlerisch das Idealbild der mechanistischen Weltanschauung als unerreichbar hinstellen wollte; er sagt ja, daß wir von einer solchen ungeheuren Intelligenz immer unendlich weit entfernt bleiben werden. Du Bois-Reymond hat das Spiel von Laplace plump und ernst genommen und hat sich einer solchen Intelligenz, die er den Laplaceschen Geist nennt, wohl ziemlich nahe geglaubt. Mit dem gelehrten Schwulst, der vor vierzig Jahren unter den halbgebildeten Berlinern für Pracht des Stils gehalten wurde, führt er die Phantasie von Laplace (S. 12) weiter aus: »In der Tat, wie der Astronom nur der Zeit in den Mondgleichungen einen gewissen negativen Wert zu erteilen braucht, um zu ermitteln, ob, als Perikles nach Epidaurus sich einschiffte, die Sonne für den Piräeus verfinstert ward, so könnte der von Laplace gedachte Geist durch geeignete Diskussion seiner Weltformel uns sagen, wer die Eiserne Maske war … Wie der Astronom den Tag vorhersagt, an dem nach Jahren ein Komet aus den Tiefen des Weltraumes am Himmelsgewölbe wieder auftaucht, so läse jener Geist in seinen Gleichungen den Tag, da das Griechische Kreuz von der Sophien-Moschee blitzen oder da England seine letzte Steinkohle verbrennen wird. Setzte er in der Weltformel t = −∞, so enthüllte sich ihm der rätselhafte Urzustand der Dinge … Solchem Geiste wären die Haare auf unserm Haupte gezählt, und ohne sein Wissen fiele kein Sperling zur Erde.«
Auf das Vorhersagen der Zukunft will ich gleich kommen; zunächst aber möchte ich auf den Widersinn aufmerksam machen, der sich hinter dem Prophezeien nach rückwärts verbirgt. Von der praktischen Unmöglichkeit sehe ich natürlich ab. Historische Rätsel, wie die Eiserne Maske, lassen sich doch immer nur nach vorwärts lösen, d. h. wenn man die vorausgehenden Ursachen und Motive kennt, niemals nach rückwärts. Der Unbekannte, der sogenannte Mann mit der eisernen Maske, der 1703 in der Bastille starb und nur Moder hinterlassen hat, kann durch keinen negativen Wert einer Gleichung nach rückwärts bei seinem bürgerlichen Namen gerufen werden. Wenn es möglich wäre, Worte aus der Vergangenheit zurück zu konstruieren, so hätte übrigens der Laplacesche Geist an der Rekonstruktion von einigen Ursprachen würdigere Aufgaben. Im Ernste: wer die Unausdenkbarkeit der Anwendung solcher Gleichungen auf die vergangene Geschichte nicht begreift, der sehe sich einmal das zweite Beispiel des Berliner Akademikers an. Der Laplacesche Geist soll den Urzustand der Dinge enthüllen können, wenn er t = −∞ setzt. Welcher Urzustand ist gemeint? Der vor Lostrennung der Erde von der Sonne? Oder der vor der Lostrennung der Sonne von ihrem Zentralnebel? Hat denn niemand bemerkt, daß alle diese Epochen menschliche Ausgeburten sind, Begriffe aus vorläufigen Hypothesen, daß die Vorstellung unendlich ein undefinierbares Menschenwort ist, daß wir also dem vollkommenen Laplaceschen Geiste Zufallsbegriffe und Zufallszeichen aus unserer unvollkommenen Menschensprache in seine Weltformel hineinschieben? Nicht nur Gauss, sondern auch Laplace hätten dem Nachfolger von Maupertuis zurufen können, daß man solche Einfälle nicht publizierte, wenn man nicht zufällig Phantasie und Humor hätte.
Was nun das Vorhersagen der Zukunft betrifft, so war Du Bois-Reymond dergestalt vom Laplaceschen Geiste verlassen, daß er nicht einmal ahnte, wie kaum vierzig Jahre nach seinem Vortrage die mechanistische Weltanschauung mitsamt dem Atomismus wieder einmal in Mißkredit kommen würde. Für den Atomismus war es noch vorstellbar, daß der Laplacesche Geist die Eroberung Konstantinopels durch die Russen (warum nicht durch die Engländer oder die Österreicher oder die Neugriechen? Du Bois hat da dem Laplaceschen Geiste vorgegriffen) vorhersagen könnte wie ein Astronom eine Sonnenfinsternis; die Kombinationen der unendlich vielen Atome steigern sich zu einer Zahl, die in Menschenzeichen nur durch Unendlich in unendlicher Potenz ausgedrückt werden könnte; es wäre freilich Sache des Laplaceschen Geistes, eine solche Zahl zu begreifen und eindeutig auszudrücken. Wie wir aber das Weltgeschehen seit Du Bois-Reymond uns vorstellen gelernt haben, ist der Atomismus nur eines der vielen antichambres de la vérité. Nicht nur unser gegenwärtiges Wissen vom Leben, Empfinden und Denken versagt sich der Anwendung einer streng mathematischen Formel; wir vermuten sogar, daß die Lebenserscheinungen mit ihren Reizwirkungen und Willensakten sich einer mathematischen Formulierung immer versagen werden. Der Mann, der lange vor Laplace die Vorstellung von dem Riesengeiste gefaßt hatte, Leibniz, wäre uns in dieser Beziehung ein besserer Führer. Er sagte einmal: »Tout se fait mécaniquement et métaphysiquement dans le même temps.« Man braucht bloß auf den Ausdruck metaphysisch zu verzichten oder das Wort fast genau durch unphysisch zu übersetzen, um ungefähr das Glaubensbekenntnis unserer Tage vor sich zu haben.
- Alexander von Humboldt schreibt an seinen Bruder, man fühle den Verlust von Laplace in Paris weniger, weil man ihn als einen politischen Überläufer hasse. Napoleon, der die Treulosigkeit seines Laplace erlebt hatte, urteilte auf Sanct Helena sehr hart über den Minister Laplace: »Il cherchait des subtilités partout, n'avait que des idées problématiques et portait enfin l'esprit des infiniment petits dans l'administration.« Sehr drollig wirkt ein Bericht von Arago über den Hausvater Laplace; Arago war als junger Mensch glücklich, einmal bei dem überaus bewunderten Manne speisen zu dürfen; man stelle sich sein Entsetzen vor, als Madame Laplace einmal zu ihrem Gatten sagte: »Voulez-vous me confier la clef du sucre?«↩