Leben
I.
Um die Grundbegriffe der Naturwissenschaften steht es, was die Wortgeschichte betrifft, ganz anders als um die Grundbegriffe der Philosophie; diese, von den Griechen aus metaphysischen Phantasien gebildet oder aus den Vorstellungen noch älterer Völker übernommen, treten uns mit dem scheinbar reichsten Inhalte häufig schon zu Beginn der historischen Zeit einer abendländischen Philosophieentwicklung entgegen, können und müssen beim Übergange zu jüngern Völkern übersetzt werden, wandeln von Jahrhundert zu Jahrhundert ihren geistigen Inhalt, haben aber im ganzen und großen die Tendenz, unter dem Einflusse der Wissenschaft und neuerdings der Erkenntnistheorie in ihrem Vorstellungsgehalte präziser und dadurch ärmer zu werden; die Grundbegriffe der empirischen Wissenschaften dagegen mußten sich jedem Volke aufdrängen, gehörten sehr früh der vorwissenschaftlichen Gemeinsprache an (man denke an Begriffe wie: Körper, schwer, Kraft, Licht, Bewegung, Leben) und wurden in ihrem Vorstellungsgehalte um so reicher, je mehr die Wissenschaft ihre Beobachtungen häufte. Dazu macht Curtius einmal (Grundz. d. griech. Etymologie⁶ S. 97) die ansprechende Bemerkung, daß der älteste Wortbestand wahrscheinlich unsere Allgemeinbegriffe gar nicht gekannt habe. »Jahrtausende lang wußte der Mensch die einzelnen Tiere zu bezeichnen, ehe er einen Ausdruck fand, welcher alle Tiere insgesamt umfaßte. Zu einem Wort für Tier im Unterschied vom Menschen hat es die griechische Sprache erst zu Platons Zeit gebracht, und das Wort ζ ῳον, das, wie animal, alle lebenden Wesen umfaßt, ist nachhomerisch.« Es wäre den Griechen kaum eingefallen, Begriffe wie Leben in einem Wörterbuch der Philosophie zu definieren; sie ahnten ja noch gar nicht, daß just die schwierigsten Probleme sich hinter den Allgemeinbegriffen der Gemeinsprache verbergen. Wo sie dennoch hinter alltäglichen Worten (sein, Bewegung) tiefe Probleme suchten, da hatten sie die Wörter vorher metaphysisch umgedeutet.
Es hätte darum keinen Wert, wenn ich die Geschichte der griechischen, der lateinischen und der neuen Ausdrücke für den Lebensbegriff hersetzen wollte. Nur auf einen Punkt will ich hinweisen, um wiederum ein Beispiel für die Kindlichkeit des griechischen Denkens zu geben. Die Griechen hatten für das, was die deutsche Gemeinsprache ungefähr Leben nennt, zwei verschiedene Bezeichnungen; βιος und ζωη; es gehört nicht zu meiner Absicht, die Annahme der gegenwärtigen Sprachwissenschaft zu prüfen, daß nämlich die so ganz verschiedenen Wörter βιος und ζωη, dazu noch das Synonym διαιτα, auf eine und dieselbe sogenannte Wurzel γ Ϝι Ϝ zurückgehen, von welcher übrigens auch lat. vivus mit seiner ausgebreiteten Sippe abzuleiten wäre. Die Griechen hatten wie andere Völker die Neigung, synonyme Ausdrücke zu differenzieren; so gaben sie sich redliche Mühe, zwischen βιος und ζωη, weil beide Worte einmal da waren, begrifflich zu unterscheiden. Und da gerieten sie auf den bedenklichen Einfall, das eine Wort auf den Menschen, das andere auf die übrigen Tiere anwenden zu wollen. Wir hätten in unserer Gemeinsprache gar nicht mehr die Möglichkeit, das physiologische Leben des Menschen von dem der übrigen Tiere ausdrücklich zu trennen. Aber Ammonios, ein alexandrinischer Wörterbüchler des vierten Jahrhunderts n. Chr. G., sagt ganz deutlich; βιουν και ζην διαφερει. βιουν μεν γαρ ἐπι ἀνϑρωπων μονων λεγεται. ζην δε ἐπι ἀνϑρωπων και ἀλογων ζῳων, ἠδη δε ποτε και ἐπι φυτων und er zitiert als Beleg eine Stelle aus einer sonst unbekannten Schrift des Aristoteles: βιος ἐστι λογικη ζωη. Diese Unterscheidung entspricht nicht ganz dem Sprachgebrauche; die besten griechischen Schriftsteller verwenden die beiden Wörter oft als wirkliche Synonyme. Aber es wird wohl ziemlich richtig sein, was H. Schmidt (Synonymik d. griech. Sprache IV S. 43) über das Verhältnis der beiden Ausdrücke nach einer sehr gründlichen Untersuchung vorträgt: »Beide bezeichnen das Leben ganz allgemein und nach seinen verschiedenen Erscheinungen; ζωη aber besonders das rein physische Leben, besser: das Leben nach seinen rein physischen Erscheinungen; während βιος mehr das Leben als eine Reihenfolge von Handlungen verschiedener Art auffaßt.«
Schmidt's vorsichtige Wahl der Worte scheint mir aber die Naivität zu verschleiern, mit der die Griechen oder wenigstens ihre Wortgrübler Psychologie und Physiologie miteinander verwirrten. Sie staunten noch nicht über die Erscheinungen des Lebens, sie staunten erst über die neue Erscheinung der Vernunft. Man versuche einmal die obige Stelle aus dem Aristoteles ins Deutsche zu übersetzen und man wird beim besten Willen, den Sinn zu treffen, auf Ungereimtheiten stoßen: Leben ist vernünftiges Vegetieren, das Psychologische ist geistige Physiologie. Wir können uns wirklich bei solchen Wortschällen nichts mehr denken, weil wir gelernt haben, über das Leben als ein Problem für sich zu staunen, weil wir uns auch das physiologische Leben des Tieres und der Pflanze nicht erklären können. Nicht besser erklären können als die Denkakte der Tiere und die Vernunft des Menschen.
II.
Wie fern dem Wissen des Altertums und des Mittelalters das Problem des Lebens lag, erkennen wir vielleicht am besten daraus, daß man damals bei den Definitionen immer zunächst an die Tiere dachte, trotzdem die Pflanzen – wie wir aus Ammonios erfahren haben – schon gelegentlich als Lebewesen (das deutsche Wort findet sich schon bei Fischart) anerkannt wurden. Auch Aristoteles spricht den Pflanzen nicht alles Leben ab; aber bei seiner bekannten Definition des Lebens (de Anima II, 1: ζωην δε λεγομεν δι' α ὐτου τροφην τε και αὐξησιν και φϑισιν) mag er, wenn man die Kenntnisse seiner Zeit erwägt, nur an die Tiere gedacht haben, so gut die Worte auch heute auf alle Lebewesen zu passen scheinen. Aus eigener Kraft sich zu ernähren, zu wachsen (das Vergehen stimmt nicht recht), das war immer das Geheimnis des Lebens; und Thomas glaubte gewiß ganz im Sinne seines Aristoteles zu definieren, da er die Bewegung aus eigener Kraft zum Kennzeichen des Lebens machte: nomen vitae ex hoc sumptum videtur, quod aliquid a seipso potest moveri. Ein gemeinsames Kennzeichen des Tierlebens und des Pflanzenlebens ausdrücklich zu suchen, war dem Mittelalter noch keine Aufgabe. Die Frage nach der Beseeltheit oder Unbeseeltheit der Tiere schien bereits wichtig, aus theologischen Gründen; an die Ausdehnung des Seelenbegriffs auf die Pflanzen dachte man noch nicht. Und die Klasse der Lebewesen, die noch nicht Pflanzen und noch nicht Tiere sind, war noch nicht entdeckt; das Mikroskop war ja noch nicht erfunden. Die Gruppe der Protisten hatte also vorher noch nicht beobachtet werden können. Man sollte aber glauben, daß man rein begrifflich zu der Frage gelangen mußte, was das gemeinsame Kennzeichen einer lebendigen Pflanze und eines lebendigen Tieres wäre, auch bevor man Lebewesen kennen lernte, von denen niemand sagen konnte, ob sie Pflanzen oder Tiere wären.
Nun ist es sehr beachtenswert, daß die Entdeckung der Protisten uns in der Frage nach dem Wesen des Lebens durchaus nicht gefördert hat; und wir müssen bescheidentlich eingestehen, daß wir dem Lebensbegriff gegenüber fast ebensolche Kinder geblieben sind, wie die Griechen waren. Wir haben nämlich, wie hypnotisiert von dem Entwicklungsgedanken, die neue Frage nach dem Entstehen des Lebens zu beantworten gesucht und die alte Frage nach dem Wesen des Lebens einstweilen zurückgestellt. Wie verkehrt ein solches Beginnen war, werden wir einsehen, wenn wir uns des falschen Lärms erinnern, den Du Bois-Reymond vor bald vierzig Jahren durch sein schwülstiges Ignorabimus in der deutschen Gelehrtenwelt erregte. Der 1872 gehaltene Vortrag »Über die Grenzen des Naturerkennens«, der der Naturwissenschaft für alle Zeiten die Möglichkeit absprach, das Wesen von Materie und Kraft und das Wesen der Empfindung zu erkennen, wird insofern in der menschlichen Geistesgeschichte stets zitiert werden müssen, als er in seiner Absicht eine ehrliche Bankerotterklärung der mechanischen oder materialistischen Weltanschauung war; in seiner unglücklichen Fassung jedoch, die sich zur Genüge aus des Verfassers Neigung zu feierlichen Phrasen erklärt, war der Vortrag zu gleicher Zeit ein Versuch, im Namen der Erkenntnistheorie eine betrügerische Crida anzumelden. Auf den Widersinn des Schlagwortes Ignorabimus habe ich bereits (Kr. d. Spr. I² S. 293 f.) hingewiesen; an dieser Stelle möchte ich nun schärfer als bisher die Borniertheit aufzeigen, mit welcher Du Bois-Reymond da ein Ende des menschlichen Denkens erblickte, wo sein eigenes, an den Materialisten geschultes Denken zu Ende gekommen war. Möchte eigentlich nur einen Einwurf wiederholen und genauer fassen, den bald nach dem Bekanntwerden des Vortrages der theologische Fachmann und naturwissenschaftliche Autodidakt Strauß gegen die Beweisführung des Berliner Physiologen erhoben hat. Du Bois-Reymond, der Akademiker, spricht ein wenig von oben herunter von Straußens »Auseinandersetzungen zweiter Hand«; Strauß war aber in philosophischen Fragen, und um solche handelte es sich, neben Du Bois-Reymond weitaus der stärkere Geist und der gründlichere Kenner.
Strauß bemerkte, daß eigentlich drei Rätsel in dem einen Welträtsel verborgen wären: das Entstehen des Lebendigen aus dem Leblosen, des Empfindenden aus dem Empfindungslosen, des Vernünftigen aus dem Vernunftlosen. Du Bois-Reymond habe nun das erste und das dritte dieser Rätsel für lösbar erklärt, die Entstehung des Lebens und die Entstehung der Vernunft, habe aber ohne Angabe der Gründe das zweite Rätsel allein, die Entstehung der Empfindung, für unlösbar erklärt. »Ich gestehe, mir könnte noch eher einleuchten, wenn mir einer sagte: unerklärlich ist und bleibt A, nämlich das Leben; ist aber einmal das gegeben, so folgt von selber, d. h. mittelst natürlicher Entwicklung, B und C, nämlich Empfinden und Denken. Oder meinetwegen auch umgekehrt: A und B lassen sich noch begreifen, aber an C, am Selbstbewußtsein, reißt unser Verständnis ab. Beides, wie gesagt, erschiene mir noch annehmlicher, als daß gerade die mittlere Station allein die unpassierbare sein soll.« In dem bittern »Nachwort als Vorwort« zu seinem (in der kritischen ersten Hälfte) nicht nach Gebühr geschätzten »Alten und neuen Glauben« hat Strauß diesen Gedanken ausgesprochen, gegen welchen sich dann Du Bois-Reymond umsonst mit tönendem Periodenbau wehrte.
Der ganze Streit scheint zu einem scholastischen Wortgezänke hinunterzusinken, wenn wir wirklich nur danach fragen, welches von den drei Rätseln das schwierigere sei: das des Lebens, das der Empfindung oder das des Denkens. Wir kommen aber doch einen kleinen Schritt weiter, sobald wir durch eine solche Fragestellung zu der Erkenntnis gelangen, daß die drei Fragen zwei völlig verschiedenen Forschungsgebieten angehören. Darüber waren Strauß und Du Bois-Reymond im Grunde einig, daß die Bewußtseinserscheinung des Denkens sich an die Bewußtseinserscheinung der Empfindung anknüpfen lasse; nur war ihnen beiden eben das nicht klar, daß Empfindung und Denken, beide der Bewußtseinswelt angehören, der psychologischen Welt, der innern Welt; daß dagegen die Erscheinung des Lebens immer noch, bis auf einen geringen Rest, der äußern Welt angehöre. Leben läßt sich überall auch objektiv beobachten, Empfindung und Denken nur subjektiv. Es war also zwischen Du Bois-Reymond und Strauß wirklich nur ein Wortstreit vorhanden, als sie (wie ich es jetzt ausdrücken möchte) nicht darüber einig werden konnten, ob die psychologische Erklärung des Physiologischen schwieriger sei, oder die physiologische Erklärung des Psychologischen. Erklären hieß damals noch allgemein und heißt heute noch bei fast allen Forschern: auf Ursachen als auf zureichende Gründe zurückführen. Also sagte Du Bois-Reymond mit scheinbarem Recht: Die Ursachen, aus welchen bestimmte Atomgruppen nicht nur äußerlich wachsen, sondern durch Aufnahme assimilierbarer Stoffe, diese Ursachen werden wir noch einmal erforschen, denn es handelt sich dabei objektiv doch nur wieder um chemische Veränderungen eines Stoffes in einen andern; niemals aber werden wir erforschen können, wie eine Empfindung entsteht, denn es handelt sich dabei um die Verwandlung eines objektiven Stoffs in eine subjektive Bewußtseinstatsache. Mit scheinbar noch besserem Rechte antwortete Strauß: Die Lebenserscheinungen an sich sind schon unerklärlich genug; der lebendige Stoff, der bei der Nahrungsaufnahme einen Wahlakt ausführt, überschreitet dabei schon die Grenzen der Physik; in jedem Lebendigen ist etwas Psychologisches verborgen.
Man sieht: Du Bois-Reymond ging von der Naturwissenschaft aus und hielt darum die Schwelle des offenbar Psychologischen für unpassierbar; Strauß ging von den Geisteswissenschaften aus, war weniger wortabergläubisch und erblickte das Psychologische schon unter der Schwelle des Lebens.
Lassen wir uns endlich von der kindlichen Frage nach der größeren oder geringern Schwierigkeit der Rätsel nicht mehr irre machen. Wir haben angefangen, das ewige Forschen nach den Ursachen als den zureichenden Gründen für eine Verirrung des Menschengeistes zu halten; an die Stelle des uralten Kausalismus sucht sich der Konditionismus zu setzen, welcher nur noch nach den Bedingungen einer beobachteten Erscheinung fragt. Das Beste an der neuen Formulierung der unveränderlichen Aufgaben ist es wohl, daß es nun keine Grade der Unerklärlichkeit mehr geben wird. Wir kennen die Ursachen, aus denen ein Körper fällt, einem Körper Bewegung mitgeteilt wird, aus Bewegung Wärme und Licht entsteht, wir kennen die Ursachen der chemischen Affinitäten ebenso wenig, wie wir die Ursachen der Lebenserscheinungen kennen, wie wir die Ursachen der Bewußtseinserscheinungen kennen. Wir wären schon froh, wenn wir etwas ausmachen könnten über die Bedingungen, unter denen die uns objektiv so wohl bekannten Erscheinungen des Lebens auftreten. Wir wären sogar schon froh, wenn wir die Veränderungen, die das gemeinsame Kennzeichen des Pflanzenlebens und des Tierlebens sind, mit einem klar definierten Worte von den Veränderungen der toten Natur, von den sogenannten mechanischen Veränderungen, unterscheiden könnten. Ein Wort haben wir. Wir nennen die Ursachen (um die alte Bezeichnung beizubehalten) derjenigen Bewegungen, die die Lebenserscheinungen ausmachen, zum Unterschiede von den Ursachen der mechanischen Bewegungen: Reize. Es fragt sich nur, ob wir uns bei diesem Worte etwas Klares vorstellen können.
III.
Da hätten wir also endlich ein Kennzeichen des tierischen Lebens, und wenn wir nur geschickt genug sind, gefundene Begriffe auf andere Verhältnisse zu übertragen, so können wir in den Reizen auch die Bedingungen oder Ursachen des pflanzlichen Lebens erblicken; denn darauf kommt es wirklich nicht an, daß wir von den Leitungen in den Pflanzen so viel weniger wissen als von den Nervenbahnen in den Tieren; hat man doch von der Reizbarkeit oder der Irritabilität der Tiere als von ihrer auszeichnenden Eigenschaft schon zu einer Zeit gesprochen, als man die Nerven der Tiere nur sehr ungenau kannte. Wir können also ohne Zwang sagen, daß die Reizbarkeit oder die Reaktion auf Reize die spezifische Eigenschaft der Organismen sei. Und man hat es oft gesagt. Da stünde demnach einer Definition des Lebens nichts mehr im Wege.
Nicht ganz einwandfrei ist freilich der Gebrauch des Wortes Reiz; das Substantiv ist ein junges Wort, welches sich in der jungen Wissenschaft der Psychologie erst im 18. Jahrhunderte langsam einbürgerte. Hören wir aber genauer hin, als die Verfasser von Wörterbüchern sonst vermögen, so vernehmen wir bald, daß unter Reiz eigentlich alle drei Erscheinungen des Prozesses verstanden werden können, welcher das organische Leben kennzeichnet; 1. die äußere Veränderung, welche die organische Reaktion hervorruft; 2. der Vorgang der Reizung oder der geheimnisvolle Übergang von der äußern Veränderung zu der innern Empfindung; aber auch 3. die Empfindung selbst, was dazu geführt hat, daß man für die Reize, die das erste Stadium bezeichnen sollen, den Ausdruck Reizmittel pleonastisch erfinden mußte. Indessen haben sich die Psychologen stillschweigend geeinigt, gerade diese Reizmittel eindeutig Reize zu benennen, und das Leben als eine Reaktion auf Reize von der toten Natur zu unterscheiden, die nur Wirkungen von Ursachen kennt.
Ich behaupte nun, daß diese Erklärung des Lebens ein Schulbeispiel für die Zirkelerklärung genannt zu werden verdiente; eine Zirkeldefinition, wenn die Erklärung eine Definition sein wollte. Es scheint mir wichtig, den versteckten Zirkel aufzuzeigen.
Wenn wir nämlich keine Rücksicht nehmen auf die sogenannten physiologischen Reize (auf die peripheren wie die zentralen), von deren Bedingungen wir wenig wissen, die aber doch wahrscheinlich auch wieder auf chemische Änderungen in den Organen zurückgehen, so sind uns alle Reize anders woher als mechanische, chemische, elektrische Bewegungen bekannt, kurz als Bewegungen eines Stoffs oder als Ätherbewegungen. Alle diese Reize gehören also der toten Natur an und haben an sich mit dem Leben nichts zu schaffen. Wenn Schallwellen von einer Felswand reflektieren, Lichtwellen von einem Spiegel, wenn Natrium das Wasser zersetzt, wenn ein elektrischer Strom dasselbe tut, so sprechen wir nicht von Reizwirkungen; wir sprechen von Reizwirkungen erst dann, wenn unsere Organe auf Schallwellen durch Gehörempfindungen, auf Lichtwellen durch Lichtempfindungen reagieren, wenn die größere oder geringere Menge des entbundenen Sauerstoffs unsere Atmungsorgane beeinflußt. Kurz: was wir Reize nennen, sind Vorgänge der sogenannten toten Natur, die erst dadurch zu Reizen werden, daß die Reizbarkeit eines Organismus spezifisch antwortet. Ich will gar nicht so weit gehn, daran zu erinnern, daß vom Standpunkte des erkenntnistheoretischen Idealismus nur die Antworten der menschlichen Organe gewiß sind, daß die äußern Reize erst aus menschlichen Empfindungen erschlossen werden; ich will nicht darauf eingehen, weil dieser erkenntnistheoretische Idealismus, wenn konsequent durchgeführt, mit einem konsequenten Sensualismus beinahe übereinstimmt, Ich will auch den Grenzfall nicht wieder bemühen, das Wachsen der Kristalle; obgleich es sehr nahe läge, das Wachsen des Kristalls in seiner Mutterlauge, wobei er doch eine Nahrungswahl vollzieht und auch Ausbesserung seiner Wunden vornimmt, den Reizwirkungen von Organismen gleichzusetzen. Mir kommt es hier nur darauf an, den Zirkel aufzuzeigen: man erklärt das Wesen des Lebens durch Reizwirkungen, und kann das Wesen der Reize einzig und allein durch eine Eigenschaft der Lebewesen erklären, durch ihre sogenannte Reizbarkeit.
Auf eine solche Tautologie aber laufen alle Definitionen des Lebens hinaus, welche im Kampfe um den Vitalismus seit Jahrhunderten von Ärzten und von Philosophen versucht worden sind. Das Leben ist ein Problem für sich und kann, so verlockend es wäre, auf andere Probleme nicht zurückgeführt werden. Ich vermute, daß ich mich gerade durch diese Skepsis prinzipiell zu der Lehre des Vitalismus bekenne; nur darf man unter Vitalismus nicht den ältern Animismus verstehen; nur darf man, weil das Leben als ein Problem für sich erkannt worden ist, nicht jede Lebenserscheinung durch besondere Lebensgeister oder Seelen, durch einen Archeus (Paracelsus) oder Blas (van Helmont) erklären wollen. Dieser ältere Vitalismus, wie er eigentlich auch von dem einst so einflußreichen Stahl (1660-1734) gelehrt worden ist, war so dumm nicht, wie seine veraltete Sprache scheinen läßt; auch die zur Erklärung der Lebenserscheinungen erfundene Lebenskraft war so dumm nicht, wie die heutigen Physiologen glauben. Wir müssen nur an einem einzigen Punkte eine Korrektur üben, an einem Punkte aber, den die heutigen Forscher gar nicht zu bemerken pflegen. Wir müssen auch in diesem Zusammenhange den Begriff der Ursache revidieren. Der alte Vitalismus war eine Art von Animismus, wie gesagt. Genau so nun wie die Psychologie bis auf die letzten Jahre den Fehler beging, in dem Scheinbegriffe der Seele eine Ursache der psychischen Erscheinungen zu suchen, anstatt etwa nur die Summe aller psychischen Erscheinungen unter dem Worte Seele zu begreifen, genau so erfand man die Lebenskraft als eine vermeintliche Ursache der Lebenserscheinungen, anstatt zu sagen: das Leben in allen seinen Erscheinungen ist ein Problem für sich, das Leben ist eine besondere Kraft neben andern Kräften, die wir nicht mehr Ursachen, sondern Summenworte nennen wollen.
Einer der letzten bedeutenden und bewußten Vitalisten war noch um die Jahrhundertwende von 1800 der geniale Physiologe und Anatom Bichat, der mit der Schule von Montpellier und gegen die überall siegreichen Materialisten einen fundamentalen Gegensatz zwischen vitalen Eigenschaften und par excellence physischen Eigenschaften behauptete. Er sah im Leben nur den Kampf der vitalen Eigenschaften gegen die physischen; wenn die letzten triumphieren, so sage man, daß der Tod eingetreten sei. Und so definiert er das Leben: La vie est l'ensemble des fonctions qui résistent à la mort; ich brauche wohl nicht besonders darauf hinzuweisen, daß auch hier eine schlimme Zirkelerklärung vorliegt; der Tod, die Negation des Lebens, wird zu einem bewirkenden Faktor gemacht; von den beiden Korrelatbegriffen Tod und Leben wird jeweilig der eine zur Erklärung des andern benützt.
In neuerer Zeit hat ein anderer französischer Physiologe, der kühne Claude Bernard, der auf seinem Gebiete sogar sprachkritische Regungen hatte, an Bichat angeknüpft, ist aber zu einem entgegengesetzten Standpunkte und zu einer entgegengesetzten Definition gelangt. »La vie, c'est la mort, la destruction des tissus, ou bien nous dirions avec Buffon: la vie est un minotaure, elle dévore l'organisme.« Bernard weiß aber ganz genau, daß er keine Definition geboten hat; es gebe Begriffe, die man ohne Definition verstehe, die uns eher Vorstellungen als Einsichten vermitteln. So kommt Bernard in seinem Kampfe gegen die Lebenskraft zu einer Ausdrucksweise, aus welcher die deutschen Streiter für und gegen den Vitalismus leider nichts gelernt haben. Er sagt (La Science Expérimentale S. 209): Die chemischen Verbindungen bei der Organisation und der Nahrungsaufnahme äußern sich so, als ob die chemischen Kräfte durch eine höhere treibende Kraft beherrscht würden. Wieder begegnen wir dem bescheidenen Worte der Resignation, dem Worte als ob.
Auch in Deutschland war der bedeutendste Physiologe des neunzehnten Jahrhunderts, Johannes Müller, bis zu seinem Ende ein überzeugter Vitalist gewesen. Auf seinen Schultern standen die Männer, welche zuerst das Schema der Zelle und dann die wirkliche Zelle entdeckten, welche in dem Rauschzustande, der jeder Entdeckung zu folgen pflegt, nun ganz gewiß alle Rätsel des Lebens gelöst zu haben glaubten, und eifrig den Vitalismus mitsamt der Lebenskraft aus ihrer Vorstellungswelt oder doch aus ihrem Wörterbuche hinauswarfen, als mystische oder metaphysische Begriffe. Schwann und Virchow glaubten dem Vitalismus und der Lebenskraft das Zügenglöcklein geläutet zu haben; Du Bois-Reymond folgt mit der Grandezza eines, der vorausgeht. Aber wenige Jahre nach Bernard's Tode erhob in Deutschland ein moderner Vitalismus wieder sein Haupt, leider unter dem verschämten Namen Neo-Vitalismus. Außer Rindfleisch, dem Lehrer der pathologischen Anatomie, trat besonders Bunge, der Meister der physiologischen Chemie, für die alte bescheidene Lehre ein, daß das Lebensproblem durch die mechanistische Weltanschauung nicht erklärt werde. Bunge berief sich schon auf die erkenntnistheoretische Tatsache, daß wir Sinnesorgane nur für die Außenwelt haben und nicht für die Innenwelt, daß wir darum in der Innenwelt nichts wahrnehmen können, als was wir in der Außenwelt erfahren haben; er hätte auch sagen können: Unsere wissenschaftliche Sprache ist nur nach der Außenwelt orientiert und kann uns darum in der Innenwelt nicht orientieren. Du Bois-Reymond bekämpfte diesen Neo-Vitalismus in seiner Weise; er gestand zu, daß er mit so tiefen Sätzen wie die von Bunge einen Sinn nicht verbinden könnte, und berief sich darauf, daß Bunge nicht den Lehrauftrag für Physiologie besäße, also über das Lebensproblem nicht mitzusprechen hätte; sonst begnügte sich Du Bois-Reymond mit schön geformten Plattheiten, welche mich an die schlichtere Plattheit erinnern, die ich gar in einem Vortrage Virchows aus dem Jahre 1858 (»Über die mechanische Auffassung des Lebens«) gefunden habe: »Will man sich nicht in unklare und willkürliche Träumereien vertiefen, so muß man den Begriff des Lebens allein an die lebendigen Wesen knüpfen.«
Es wäre natürlich ungerecht, wollte man den großen Ärzten und dem Monumental-Journalisten Du Bois nicht mildernde Umstände zuerkennen; sie fühlten sich als Nachkömmlinge der Befreier vom kirchlichen Dogmatismus, der namentlich auch eine vorurteilslose Physiologie nicht aufkommen lassen wollte. Die mechanistische Weltanschauung war ihnen Glaubenssache; im Neo-Vitalismus witterten sie Metaphysik, Mystik, Reaktion, Reaktion in politischem Sinne. Die Aussichtslosigkeit des Kampfes gegen den Vitalismus, also gegen die Lehre, daß das Leben ein Problem für sich sei, möchte ich noch durch eine verwegene Phantasie anschaulich machen.
Daß die mechanischen und chemischen Kräfte allein nicht Ursachen der Lebenserscheinungen sein können, das dürfte, nachdem der Materialismus nicht mehr dogmatische Glaubenssache ist, jetzt allgemein zugegeben werden; die Frage war sprachlich und logisch falsch gestellt worden. Eine Möglichkeit aber scheint der Zukunft noch aufgespart. Vielleicht besteht der tierische Körper nicht bloß aus 14 oder sonst einer Zahl der bekannten Elemente; vielleicht setzt er sich außer aus diesen wohlbekannten Elementen auch noch aus bisher unbekannten vitalen, d. h. lebenartig auf Reize wirkenden Elementen zusammen. Die letzten Jahre haben so viele Überraschungen gebracht, haben so viele den Sinnen fast unwahrnehmbare Elemente entdecken lassen, daß ein solcher Gedanke wohl denkbar wäre. Dann würden die Materialisten sicherlich triumphieren und das Leben aus dem Vorkommen von »lebenerzeugenden« Stoffen erklären. Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß das Problem dann nicht gelöst, sondern nur zurückgeschoben wäre. Die Wissenschaft stünde vor der alten Aufgabe, auszusprechen, wodurch sich die neuen Lebenselemente von den lieben alten Elementen unterscheiden.
IV.
Du Bois-Reymond hatte nicht unrecht mit der Beobachtung, daß seine Kollegen von der Physiologie, die sich fast ausschließlich mit der Untersuchung des Stoffwechsels befaßten, der mechanistischen Weltanschauung zuneigten, und daß die Wiederaufnahme des Vitalismus zunächst von den Vertretern der Morphologie ausging; wenn man nämlich den Begriff der Morphologie recht weit fassen will. Den Antivitalisten kam zustatten, daß der Begriff der Kraft im Laufe der letzten Jahrzehnte an Geltung verloren hatte, daß man die alten Kräfte, welche personifizierte Ursachen von Wirkungen gewesen waren, als Gedankendinge erkannt hatte, als Hilfskonstruktionen des Verstandes, der sein Kausalitätsbedürfnis befriedigen wollte; noch vor den mechanischen Kräften wollte man darum die Lebenskraft aus dem wissenschaftlichen Sprachgebrauche verschwinden lassen, weil bei ihr die Erforschung der Gesetze ihres Wirkens gar sehr im Argen lag. Es gilt heute fast nicht mehr für anständig, von einer besondern Lebenskraft zu reden.1 Ich fürchte aber: wenn man das Leben als ein Problem für sich betrachten muß, das sich auf materielle Probleme nicht zurückführen läßt, so wird man irgendwie eine Lebenskraft annehmen müssen, solange von Schwerkraft, elektrischer Kraft usw. die Rede ist, d. h. solange der Kraftbegriff nicht endgültig durch irgend einen neuen sprachlichen Ausdruck des alten Ursachbegriffs ersetzt worden ist. Sollte der Kraftbegriff für einige Jahrzehnte durch den Energiebegriff ersetzt werden, dann könnte man ja von Lebensenergie sprechen, ohne daß an der Vorstellung irgend etwas geändert würde. Höchstens daß dann sprachlich etwas deutlicher herauskäme: die Lebenskraft ist nicht die Ursache der Lebenserscheinungen, vielmehr ist das Leben eine besondere Art von Energie. Und ich stehe nicht an, einer Anregung von Ostwald zu folgen und das Leben eine Art von Formenergie zu nennen. Ostwald wählt zum Beispiele einen unelastischen Bleidraht und einen elastischen Stahldraht; der Bleidraht, wenn er gebogen wird, verwandelt und zerstreut die Arbeit des Biegens in Wärme; der Stahldraht konzentriert die Arbeit in Formenergie, die er bei Annahme seiner frühern Gestalt wieder ausgeben kann. (Vorlesungen über Naturphilosophie S. 349.) Es ist kein Zweifel, daß die Form im Leben aller Organismen eine entscheidende Rolle spielt und daß man, was so lange Lebenskraft hieß, mit der Formenergie der Elastizität vergleichen könnte.
Da möchte ich nur auf eine sprachliche Absonderlichkeit hinweisen. Die Lebenskraft war ihren alten Bekennern nicht nur vis vitalis, sondern auch eine vis formativa; in Blumenbach's nisus formativus fand diese Anschauung ihren deutlichsten Ausdruck: in den Organismen äußerte sich beständig eine formbildende Anstrengung, eine Aktivität (man hat das Leben sehr oft als Aktivität definiert), die einer bestimmten Form zustrebte. Wollte man nun die alte Lebenskraft neu bezeichnen, als eine Formenergie, so hätte sich weder an der Vorstellung noch am Ausdrucke etwas Wesentliches geändert.
V.
Wir haben bisher nach dem Sinne des Wortes gefragt, d. h. nach der Bedeutung eines Grundbegriffs der wissenschaftlichen Biologie; eine der Philosophie würdigere Aufgabe wird es scheinen, in ganz anderer Weise nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Die Mode, solche Fragen an das Schicksal zu stellen, kehrt ja immer wieder; vor hundert Jahren lautete der Titel solcher Bücher »Bestimmung des Menschen«, heute lauten sie »Sinn und Wert des Lebens«.
Ich schicke einige Worte voraus über Wortgeschichte und Sinn der gebrauchten Ausdrücke. Sinn, doch wohl gewiß aus lat. sensus entlehnt, trotzdem das D. W. und Hermann Paul die Entlehnung leugnen, besaß schon im mhd. Sprachgebrauche die Nüance Bedeutung; man suchte den Sinn eines Wortes, eines Satzes, eines Gesetzes festzustellen, verstand also unter Sinn den geistigen Inhalt einer sprachlichen Form; wie schon die Lateiner den sensus dem sonus nominis gegenübergestellt hatten. So entspricht es uraltem Sprachgebrauche, nach dem Sinne des Wortes Leben zu fragen. Ein Wort hat keinen Wert, wenn man nicht einen bestimmten Sinn mit ihm verbindet. Wenn nun beneidenswerte Moralisten über den Sinn des Lebens philosophieren, so legen sie dem Worte Sinn ahnungslos eine andere Bedeutung unter, die freilich nicht ganz neu ist, aber dennoch in solchem Zusammenhange nicht genau zu erklären: etwa Absicht, Tendenz, Zweck. Man braucht die Titel solcher Bücher nur in vollständige Fragen aufzulösen, um die kindliche Unbescheidenheit der Fragen zu bemerken: Welche Absicht hatte Gott dabei, als er die Lebewesen erschuf? Welchen Zweck oder welchen Wert hat das Leben für das Individuum oder für die Menschheit?
Man achte darauf, daß in solchen Büchertiteln auch das Wort Leben in einem andern Sinne genommen wird, als wir es bisher untersucht haben. Die alte Unklarheit der beiden griechischen Synonyme meldet sich wieder. Wir haben bisher von der ζωη gesprochen; wer nach dem Sinne des Lebens fragt, kümmert sich nicht mehr um das Zoologische im Menschen, sondern gewissermaßen um das Biographische. Welchen Wert hat die Reihenfolge meiner Erlebnisse für mich oder für die Welt, mein βιος, meine erlebte Biographie? Man hat vielleicht noch gar nicht bemerkt, auf welch einem anthropozentrischen Standpunkte solche Fragen stehen. Die Tiere, die Pflanzen können nach dem Zwecke ihres Daseins, nach dem Sinn ihres Lebens nicht fragen, weil sie keine fragende Sprache besitzen. Aber auch der Mensch, das fragende Tier, fragt ja nicht nach dem Sinne des Tierlebens, nicht nach dem Sinne des Pflanzenlebens. Nur nach dem Sinne des Menschenlebens fragt er, wie er von jeher nach den Zwecken gefragt hat, die Tiere und Pflanzen für ihn haben könnten. Erst seitdem der anthropozentrische Standpunkt im Prinzipe wenigstens fallen gelassen worden ist, handelt es sich in der Biologie, die seitdem erst möglich wurde, nicht mehr um Zwecke für den Menschen, sondern um Zwecke der Organe für die Lebewesen selbst. Auf diesem Wege ist dann Darwin zu seiner gewaltigen Hypothese gelangt, die auch die außermenschliche Zweckmäßigkeit der Organe aus der Evolution erklärte, aus Anpassung und Vererbung als aus vermeintlich zureichenden Gründen: aus natürlichen Ursachen. Der Begriff Zweckmäßigkeit erhielt durch diese Lehre eine neue Bedeutung. Nur die Organe waren zweckmäßig, aber nicht im Sinne eines Nutzens für den Menschen, auch nicht in dem Sinne, daß ein menschenähnlicher Schöpfer die Zwecke gesetzt hätte, sondern so, daß die Organe durch Evolution zweckmäßig, d. h. nützlich oder wertvoll oder unentbehrlich geworden waren für die Besitzer der Organe, die Individuen, oder vielmehr für die Arten dieser Individuen. Es wäre verkehrt gewesen, in diesem Sinne nach dem Zwecke der Tier- und Pflanzenindividuen selbst zu fragen.
Über den Sinn des Lebens zu streiten, über den Wert des menschlichen Daseins, überlasse ich gern den Optimisten und den Pessimisten (vergl. Art. Optimismus), die ja entweder die Absichten Gottes besser kennen als ich, oder die in der Lage sind, zwischen den Werten des Seins und des Nichtseins nationalökonomische Vergleiche anzustellen. Die lebendigen Menschen lassen sich gern etwas über den Sinn des Lebens erzählen; die Kinder, sie hören es gerne.
Wollte ich mich aber für eine Weile auf den Standpunkt des Darwinismus stellen, so könnte ich doch einige Richtlinien geben, um etwas Ernsthaftes über den Zweck des Lebens, d. h. über den Zweck der Lebensentwicklung für – ja, wofür? – zu sagen. Ich meine der Sinn oder der Zweck des Lebens scheint der zu sein, daß das Gedächtnis, welches in der unorganischen Welt so leicht gestört werden kann, sich in den Organismen zu einer viel stabileren Formenergie konzentrieren könne. Drei Stufen des konzentrierten Gedächtnisses wären da zu beobachten. Die lebendigen Formen selbst sind Produkte eines Keimgedächtnisses, welches sich dann in den Tieren und im Menschen besondere Nervenorgane für ein noch höher potenziertes Gedächtnis bildet. Diese Lebensformen haben das treueste Gedächtnis für die Vergangenheit.
Die Sinnesorgane der Tiere und Menschen haben ein Gedächtnis für die Gegenwart, das die unorganische Welt nicht kennt; sie merken und ordnen durch unverständlich komplizierte Apparate die Schwingungen der Außenwelt zu Ton- und Lichtempfindungen, und stellen so – durch die Lebensformen – eine Beziehung zur Umwelt her, die wir das Bewußtsein nennen.
Auf die Zukunft gar weist das Gedächtnis für Empfindungen und Erfahrungen hin, wofür wir die Bezeichnung Denken haben.
So hätte ich mit einer kleinen Konstruktion den Sinn oder den Zweck der organischen Welt gedeutet und hätte zugleich die drei Rätsel, über deren Schwierigkeit Du Bois-Reymond und Strauß stritten, auf das eine tiefe Rätsel des Gedächtnisses zurückgeführt. Leben, Empfinden und Denken erscheinen so, als die drei Entwicklungsstufen, die Reihenfolge, in der die Natur durch Organe des Gedächtnisses Geschöpfe hervorbringt, die in den Formen stabiler sind als das Unorganische, die für die Aufgabe der Selbsterhaltung besser und immer besser eingerichtet sind. Das Leben setzt sich selbst durch Vererbung gleicher Eigenschaften und Formen in einer Art von Unsterblichkeit fort und überwindet die Vergangenheit durch das Formgedächtnis des Keims. Die Organe der Empfindung machen das Individuum, dessen Leben sich bis zu diesen Organen entwickelt hat, zum Herrn der Gegenwart, da es jetzt erst (was der lebenden Pflanze und den sogenannten niedern Tieren noch nicht möglich war) die Umwelt deuten, in die subjektive Bildersprache der Empfindung übersetzen, Nahrung erjagen, Schädlichkeiten fliehen kann; wobei das so weit entwickelte Tierindividuum durch Vererbung der geschärften Sinnesqualitäten noch mehr als durch Vererbung der Formen von der Vergangenheit lebt. Das Organ des Denkens endlich häuft zu dem Schatze der ererbten Formen und Sinne (oder Erfahrungsmöglichkeiten) auch noch die Erfahrungen selbst, aller subjektiv interessanten, schließlich auch der objektiv (wissenschaftlich) interessanten Erfahrungen und vermag so, der Vergangenheit bewußt, der Gegenwart noch besser angepaßt, sogar einiges für die Zukunft vorzukehren. Wie das Leben aus dem Keime, so erwachsen aus dem Leben die Empfindung und das Denken.
Ich habe diese Entwicklungsgeschichte des Denkens eben eine Konstruktion genannt, eine kleine, und mit diesem Worte gesagt, was sich gegen so eine Begriffsarchitektur sagen läßt. Ich habe mich absichtlich so überaus kurz gefaßt; mein Versuch hat nur geringen Wert, wenn nicht ein Physiologe der Zukunft, ein Newton der Lebenserscheinungen, Kants ersehnter Newton des Grashalms, durch Versuche verifizieren kann, was ich für die ungefähre Wahrheit halte. Und ich habe das Lebensproblem nicht gelöst, es nur durch Zurückführung von Leben, Empfinden und Denken auf das Gedächtnis zurückgeschoben, bis zu der Zeit, da jemand das Rätsel des Gedächtnisses zu lösen vermag. (Vgl. übrigens Art. Gedächtnis).
Trotz solcher Resignation möchte ich behaupten, daß beide Begriffe, Leben und Gedächtnis, durch diese Konfrontation an Klarheit etwas gewonnen haben. Das Leben ist, wie gesagt, durch das Prinzip der Aktivität von der unorganischen Welt unterschieden worden; wir aber haben längst gelernt, daß das Gedächtnis aktiv sei, immer eine Tätigkeit, nichts außer und neben dieser Tätigkeit. Wir haben gelernt (I. 364), daß auch das Vergessen keine Negation sei, vielmehr eine andere und sehr wichtige Tätigkeit, daß das Verwechseln von Gleichheit und Ähnlichkeit, also das Vergessen der genauen Züge einer Vorstellung, eine wesentliche Eigenschaft des Gedächtnisses sei; es besteht darum eine nahe Analogie zwischen der Arbeit des unbewußten Formgedächtnisses der Zellen, das nicht gleiche, sondern ähnliche Gestalten einer Art macht, und der Arbeit des Gehirngedächtnisses, das nicht aus gleichen, sondern aus ähnlichen Vorstellungen Begriffe bildet. So könnte man verführt werden, den Analogieschluß zu ziehen, daß auch das rätselvolle Gedächtnis eine Art der Formenergie sei oder genannt werden könne, wie das Leben.
Aber – ich kehre zu meiner Resignation zurück. Ich habe mich für eine Weile, wie ausgemacht wurde, auf den Standpunkt des Darwinismus gestellt, und alle Bedenken vergessen, um diese Begriffsarchitektur aufbauen zu können. Ich fürchte aber, daß die verschiedenen Tätigkeiten des Lebens und des Gedächtnisses in der uns unbekannten Wirklichkeit der sprachlich ausgedrückten Analogie nicht völlig entsprechen; wahrscheinlich arbeitet das Gehirngedächtnis etwas anders als das unbewußte Gedächtnis der Organismen; wahrscheinlich arbeitet das Gedächtnis der Organismen wieder etwas anders als das Gedächtnis der sogenannten toten Natur, das wir dann so falsch wie möglich das Gesetz der Trägheit nennen. Und ich wüßte nicht zu sagen, ob eine Ausdehnung des Trägheitsbegriffs auf das Gehirngedächtnis richtiger wäre, oder die hier versuchte Ausdehnung des Gedächtnisbegriffs auf die Empfindung, das Leben und auf das Gesetz der Trägheit. Amica critice linguae, sed magis amica veritas, – lieb ist mir die Kritik der Sprache, noch lieber die Wahrheit, die wir freilich so wenig kennen wie irgend eine andere Freundin.
- In einem Aufsatze gegen Verworn (Naturwissenschaftl. Wochenschr. XXII, S. 422) hat Dahl das Wort nicht vermieden, weil in dem Ausdrucke Lebenskraft an und für sich nichts Mystisches liege; und er glaubt, die in den äußerst unbeständigen Eiweißkörpern versteckten Eigenschaften deren Lebenskraft nennen zu dürfen.↩