loci communes
Der Ausdruck locus communis ist durch Lehnübersetzung in alle Kultursprachen des Abendlandes übergegangen. Lieu commun, Gemeinplatz, gemeenplats, common place (davon commonplace-book, Notizbuch, u. commonplaceism), luoghi communi; lauter Lehnübersetzungen des lateinischen loci communes, wobei aber zu beachten, daß das verächtliche communes schon der Anfang gewesen sein kann, zur Verwerfung einer ganzen Disciplin, der Topik, die heute auf den Schulen nicht mehr existiert, die aber die ganze Arbeitsweise des Mittelalters erklärt. Loci ist eine wörtliche Übersetzung des griechischen τοποι, und man kann den ursprünglichen Sinn nicht verstehen, wenn man sich nicht mit dem geistigen Elend der Topik beschäftigt hat.
Lehnübersetzungen verschiedener Bedeutungen von τοπος ins Lateinische und über das Lateinische hinaus sind häufig; die Genitalien bei Mensch und Tier heißen τοποι , loci; τοπῳ τινος, an Stelle eines andern, anstatt, findet sich in der lateinischen Armeesprache als locum tenere, woraus lieutenant (locumtenens) geworden ist, der an Stelle des Hauptmanns, anstatt des Hauptmanns befiehlt, wörtlich Statthalter, welchen Sinn es in dem alten franz. Titel lieutenant du roi, bei uns bekannt durch Goethes Königsleutnant, noch hatte. Alltäglich war im Lateinischen der Gebrauch von locus für τοπος in den sehr nah verwandten beiden Bedeutungen von Stelle, Satz (eines Buches, einer Wissenschaft) und Beweismittel, Beweisquelle (aus einer Autorität). Denn die griechischen Lehrer der Römer haben es niemals dazu gebracht, scharf zwischen Rhetorik und Logik zu unterscheiden. Solange man nun die Topik des Aristoteles für ein wertvolles Buch hielt, waren loci topici und loci dialectici fast gleichbedeutende Ausdrücke, und gute Köpfe, wie Petrus Ramus noch, haben sich mit der scholastischen Einteilung dieser loci abgequält. Topik wird also auf unsern Universitäten nicht mehr gelehrt; aber das alte Gespenst spukt immer noch wie in den höchsten so in den niedrigsten Äußerungen geistiger Tätigkeit. Zu den höchsten darf man doch wohl die Kategorientafeln rechnen und die bessere Literatur, die von Aristoteles bis Kant an der Ordnung der Kategorien oder Kategoreme d. h. dessen, was sich über irgend etwas allgemein (griechisch hießen die Kategorien auch λογοι καθολικοι) prädizieren, aussagen, schwatzen ließe, scholastisch sich abgemüht hat; ich möchte bei besserer Gelegenheit den strengen Nachweis erbringen, daß Kants eigene Kategorientafel wieder von der alten logisch-rhetorischen Topik des Aristoteles abhängig war und daß Kants Aufstellung einer höheren transcendentalen Topik für sein System ebenso verhängnisvoll wurde, wie seine Kategorientafel.
Zu den niedrigsten Äußerungen pseudo-geistiger Tätigkeit gehört wohl noch gewisser der deutsche Schulaufsatz, beziehungsweise der Schulaufsatz bei andern Völkern; und dieser Schulaufsatz hatte wenigstens noch zu meiner Schulzeit die Form, die ihm die griechische Topik vor mehr als zweitausend Jahren gegeben hatte. Die Chrie nach dem Muster von Hermogenes und Aphthonios (von χρεια). Auf meinem Piaristen-Gymnasium war die Chrie die höchste Aufgabe, die wir zu lösen hatten: Über dem Aufsatz stand der zu behandelnde Gemeinplatz, fast immer ein schönes Zitat; über diesen Gemeinplatz (im Sinne einer abgedroschenen Redensart, phrasis trita) hatten wir nun ordentlich und blödsinnig nach der Reihenfolge eines eingetrichterten Fragverschens zu sagen, was irgend mit Hilfe der Gemeinplätze (im alten Sinne der loci communes) zu sagen war; die Gleichförmigkeit solcher Stilübungen durch mehr als 2000 Jahre ist eigentlich grauenhaft. Das Fragverschen, das sich bis in die Lehrbücher des 18. und 19. Jahrhunderts fortgeerbt hat wie eine Krankheit, lautet: »Quis? quid? ubi? quibus auxiliis? cur? quomodo? quando?« Die Zeit, in welcher die Herstellung solcher Gedächtnisverschen, die meinetwegen die Form richtiger Hexameter haben, beliebt war, liegt etwa in der Mitte zwischen Aristoteles und uns; man achte darauf, wie die Reihenfolge der Fragen von dem Zwang des lateinischen Hexameters abhängig war, im Griechischen z. B. ganz anders ausfallen mußte, im Deutschen wieder anders, und wie unsere armen Gymnasiastengehirne sich der Reihenfolge fügen mußten, die der Zufall der lateinischen Prosodie verlangte. Wer nun frei genug ist, die Abhängigkeit aller Geistesanstrengung von den Assoziationen der Sprache mit mir zu begreifen, der mag ohne besondern Hinweis aufs Einzelne die Ähnlichkeit bedenken, die die Aufstellung und Ordnung von Kategorien (nach den Assoziationen der Grammatik) selbst bei einem Kant noch mit einer elenden Schularbeit hat, die nach der zufälligen Reihenfolge der Fragen des Hexameters geordnet ist.
Einer besondern Untersuchung wäre die Frage wert, ob die Örter der Topik nicht historisch mit den Örtern der Astrologie zusammenhängen. Hier und dort haben wir Kategorientafeln, deren Anordnung und Zahl scheinbar willkürlich nach einer fremden Schablone hergestellt ist. Ich glaube allerdings, daß die Assoziationen der Kategorien unter dem Einflusse führender Philosophen noch mehr Menschenschicksale bestimmt haben, als die Örter der Astrologie.
Die loci communes der alten Logik und Rhetorik waren als lieux communs oder lieux oratoires oder kurz lieux in die französische Schulsprache übergegangen; ziemlich früh entstand aber im Französischen der Bedeutungswandel, der diese lieux communs nicht mehr als Beweisquellen, als Herkunftsorte der Gedanken, sondern als abgegriffene, verbrauchte Autorstellen auffaßte. Wertvolle Belege finde ich bei Littré: Madame de Genlis sagt einmal von der Maintenon: elle ne disait jamais rien de neuf ou de saillant; mais elle avait perfectionné tous les lieux communs de la conversation. Voltaire von Corneille: on trouve souvent dans C. de ces maximes vagues et de ces lieux communs, où le poête se met à la place du personnage; und derselbe Voltaire ganz modern schon in einem Briefe vom 19. Aug. 1776: à présent tout est lieu commun; la plupart des auteurs modernes ne sont que les fripiers des siècles passés, wobei Voltaire das Bild von den Althändlern wohl durch die Vorstellung der verbrauchten, abgetragenen Redensarten der phrases trites suggeriert wurde; Georges Sand sagt einmal: ces vérités éternelles que vous appelez lieux communs.
In dem gleichen Sinne hat sich das deutsche Wort Gemeinplatz entwickelt, das das philosophische Lexikon von Walch (1740) noch nicht kennt. Commonplace (schon bei Bacon und Swift im Sinne des neuen truism zu finden), jetzt auch englisch als Verbum gebraucht, bildet offenbar den Übergang zu dem deutschen Worte.
Unser Gemeinplatz scheint von Wieland geprägt worden zu sein; er sagt wenigstens (D. W.) einmal: »wenn uns erlaubt ist, das was man locos communes nennt, durch dieses Wort (gelehrte Gemeinplätze) im Deutschen zu bezeichnen.« Kant und Lessing hatten etwas besser die Lehnübersetzung Gemeinart gebraucht. Schon Adelung tadelte beide Übersetzungen. Aber damals gab es noch eine Anknüpfung an die loci communes der Topik, die ja auf den Schulen noch gelehrt wurde, und Platz für locus klang den Dichtern abscheulich; Gemeinplatz in der neuen Bedeutung weckt keine Erinnerung an die Topik mehr und stört uns darum nicht mehr.