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Der Wille zum Leiden und die Mitleidigen

338.

Der Wille zum Leiden und die Mitleidigen. — Ist es euch selber zuträglich, vor Allem mitleidige Menschen zu sein? Und ist es den Leidenden zuträglich, wenn ihr es seid? Doch lassen wir die erste Frage für einen Augenblick ohne Antwort. — Das, woran wir am tiefsten und persönlichsten leiden, ist fast allen Anderen unverständlich und unzugänglich: darin sind wir dem Nächsten verborgen, und wenn er mit uns aus Einem Topfe isst. Überall aber, wo wir als Leidende bemerkt werden, wird unser Leiden flach ausgelegt; es gehört zum Wesen der mitleidigen Affektion, dass sie das fremde Leid des eigentlich Persönlichen entkleidet: — unsre „Wohltäter“ sind mehr als unsre Feinde die Verkleinerer unsres Wertes und Willens. Bei den meisten Wohltaten, die Unglücklichen erwiesen werden, liegt etwas Empörendes in der intellektuellen Leichtfertigkeit, mit der da der Mitleidige das Schicksal spielt: er weiß Nichts von der ganzen inneren Folge und Verflechtung, welche Unglück für mich oder für dich heißt! Die gesamte Ökonomie meiner Seele und deren Ausgleichung durch das „Unglück“, das Aufbrechen neuer Quellen und Bedürfnisse, das Zuwachsen alter Wunden, das Abstoßen ganzer Vergangenheiten — das Alles, was mit dem Unglück verbunden sein kann, kümmert den lieben Mitleidigen nicht: er will helfen und denkt nicht daran, dass es eine persönliche Notwendigkeit des Unglücks gibt, dass mir und dir Schrecken, Entbehrungen, Verarmungen, Mitternächte, Abenteuer, Wagnisse, Fehlgriffe so nötig sind, wie ihr Gegenteil, ja dass, um mich mystisch auszudrücken, der Pfad zum eigenen Himmel immer durch die Wollust der eigenen Hölle geht. Nein, davon weiß er Nichts: die „Religion des Mitleidens“ (oder „das Herz“) gebietet, zu helfen, und man glaubt am besten geholfen zu haben, wenn man am schnellsten geholfen hat! Wenn ihr Anhänger dieser Religion die selbe Gesinnung, die ihr gegen die Mitmenschen habt, auch wirklich gegen euch selber habt, wenn ihr euer eigenes Leiden nicht eine Stunde auf euch liegen lassen wollt und immerfort allem möglichen Unglücke von ferne her schon vorbeugt, wenn ihr Leid und Unlust überhaupt als böse, hassenswert, vernichtungswürdig, als Makel am Dasein empfindet: nun, dann habt ihr, außer eurer Religion des Mitleidens, auch noch eine andere Religion im Herzen, und diese ist vielleicht die Mutter von jener: — die Religion der Behaglichkeit. Ach, wie wenig wisst ihr vom Glücke des Menschen, ihr Behaglichen und Gutmütigen! — denn das Glück und das Unglück sind zwei Geschwister und Zwillinge, die mit einander groß wachsen oder, wie bei euch, mit einander — klein bleiben! Aber nun zur ersten Frage zurück. — Wie ist es nur möglich, auf seinem Wege zu bleiben! Fortwährend ruft uns irgend ein Geschrei seitwärts; unser Auge sieht da selten Etwas, wobei es nicht nötig wird, augenblicklich unsre eigne Sache zu lassen und zuzuspringen. Ich weiß es. es gibt hundert anständige und rühmliche Arten, um mich von meinem Wege zu verlieren, und wahrlich höchst „moralische“ Arten! Ja, die Ansicht der jetzigen Mitleid-Moralprediger geht sogar dahin, dass eben Dies und nur Dies allein moralisch sei: — sich dergestalt von seinem Wege zu verlieren und dem Nächsten beizuspringen. Ich weiß es ebenso gewiss: ich brauche mich nur dem Anblicke einer wirklichen Not auszuliefern, so bin ich auch verloren! Und wenn ein leidender Freund zu mir sagte: „Siehe, ich werde bald sterben; versprich mir doch, mit mir zu sterben“ — ich verspräche es, ebenso wie mich der Anblick jenes für seine Freiheit kämpfenden Bergvölkchens dazu bringen würde, ihm meine Hand und mein Leben anzubieten: — um einmal aus guten Gründen schlechte Beispiele zu wählen. Ja, es gibt eine heimliche Verführung sogar in alle diesem Mitleid-Erweckenden und Hilfe-Rufenden: eben unser „eigener Weg“ ist eine zu harte und anspruchsvolle Sache und zu ferne von der Liebe und Dankbarkeit der Anderen, — wir entlaufen ihm gar nicht ungerne, ihm und unserm eigensten Gewissen, und flüchten uns unter das Gewissen der Anderen und hinein in den lieblichen Tempel der, „Religion des Mitleidens“. Sobald jetzt irgend ein Krieg ausbricht, so bricht damit immer auch gerade in den Edelsten eines Volkes eine freilich geheim gehaltene Lust aus: sie werfen sich mit Entzücken der neuen Gefahr des Todes entgegen, weil sie in der Aufopferung für das Vaterland endlich jene lange gesuchte Erlaubnis zu haben glauben — die Erlaubnis, ihrem Ziele auszuweichen: — der Krieg ist für sie ein Umweg zum Selbstmord, aber ein Umweg mit gutem Gewissen. Und, um hier Einiges zu verschweigen: so will ich doch meine Moral nicht verschweigen, welche zu mir sagt: Lebe im Verborgenen, damit du dir leben kannst! Lebe unwissend über Das, was deinem Zeitalter das Wichtigste dünkt! Lege zwischen dich und heute wenigstens die Haut von drei Jahrhunderten! Und das Geschrei von heute, der Lärm der Kriege und Revolutionen, soll dir ein Gemurmel sein! Du wirst auch helfen wollen: aber nur Denen, deren Not du ganz verstehst, weil sie mit dir Ein Leid und Eine Hoffnung haben — deinen Freunden: und nur auf die Weise, wie du dir selber hilfst: — ich will sie mutiger, aushaltender, einfacher, fröhlicher machen! Ich will sie Das lehren, was jetzt so Wenige verstehen und jene Prediger des Mitleidens am wenigsten: — die Mitfreude!