Die zukünftige „Menschlichkeit“
337.
Die zukünftige „Menschlichkeit“. — Wenn ich mit den Augen eines fernen Zeitalters nach diesem hinsehe, so weiß ich an dem gegenwärtigen Menschen nichts Merkwürdigeres zu finden, als seine eigentümliche Tugend und Krankheit, genannt „der historische Sinn“. Es ist ein Ansatz zu etwas ganz Neuem und Fremdem in der Geschichte: gebe man diesem Keime einige Jahrhunderte und mehr, so könnte daraus am Ende ein wundervolles Gewächs mit einem eben so wundervollen Geruche werden, um dessentwillen unsere alte Erde angenehmer zu bewohnen wäre, als bisher. Wir Gegenwärtigen fangen eben an, die Kette eines zukünftigen sehr mächtigen Gefühls zu bilden, Glied um Glied, — wir wissen kaum, was wir tun. Fast scheint es uns, als ob es sich nicht um ein neues Gefühl, sondern um die Abnahme aller alten Gefühle handele: — der historische Sinn ist noch etwas so Armes und Kaltes, und Viele werden von ihm wie von einem Froste befallen und durch ihn noch ärmer und kälter gemacht. Anderen erscheint er als das Anzeichen des heranschleichenden Alters, und unser Planet gilt ihnen als ein schwermütiger Kranker, der, um seine Gegenwart zu vergessen, sich seine Jugendgeschichte aufschreibt. In der Tat: dies ist Eine Farbe dieses neuen Gefühls: wer die Geschichte der Menschen insgesamt als eigene Geschichte zu fühlen weiß, der empfindet in einer ungeheuren Verallgemeinerung allen jenen Gram des Kranken, der an die Gesundheit, des Greises, der an den Jugendtraum denkt, des Liebenden, der der Geliebten beraubt wird, des Märtyrers, dem sein Ideal zu Grunde geht, des Helden am Abend der Schlacht, welche Nichts entschieden hat und doch ihm Wunden und den Verlust des Freundes brachte —; aber diese ungeheure Summe von Gram aller Art tragen, tragen können und nun doch noch der Held sein, der beim Anbruch eines zweiten Schlachttages die Morgenröte und sein Glück begrüsst, als der Mensch eines Horizontes von Jahrtausenden vor sich und hinter sich, als der Erbe aller Vornehmheit alles vergangenen Geistes und der verpflichtete Erbe, als der Adeligste aller alten Edlen und zugleich der Erstling eines neuen Adels, dessen Gleichen noch keine Zeit sah und träumte: dies Alles auf seine Seele nehmen, Ältestes, Neuestes, Verluste, Hoffnungen, Eroberungen, Siege der Menschheit: dies Alles endlich in Einer Seele haben und in Ein Gefühl zusammendrängen: — dies müsste doch ein Glück ergeben, das bisher der Mensch noch nicht kannte, — eines Gottes Glück voller Macht und Liebe, voller Tränen und voll Lachens, ein Glück, welches, wie die Sonne am Abend, fortwährend aus seinem unerschöpflichen Reichtume wegschenkt und in’s Meer schüttet und, wie sie, sich erst dann am reichsten fühlt, wenn auch der ärmste Fischer noch mit goldenem Ruder rudert! Dieses göttliche Gefühl hieße dann — Menschlichkeit!