Zu Gunsten der Kritik
307.
Zu Gunsten der Kritik. — Jetzt erscheint dir Etwas als Irrtum, das du ehedem als eine Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit geliebt hast: du stößt es von dir ab und wähnst, dass deine Vernunft darin einen Sieg erfochten habe. Aber vielleicht war jener Irrtum damals, als du noch ein Anderer warst — du bist immer ein Anderer —, dir ebenso notwendig wie alle deine jetzigen „Wahrheiten“, gleichsam als eine Haut, die dir Vieles verhehlte und verhüllte, was du noch nicht sehen durftest. Dein neues Leben hat jene Meinung für dich getötet, nicht deine Vernunft: du brauchst sie nicht mehr, und nun bricht sie in sich selbst zusammen, und die Unvernunft kriecht wie ein Gewürm aus ihr an’s Licht. Wenn wir Kritik üben, so ist es nichts Willkürliches und Unpersönliches, — es ist, wenigstens sehr oft, ein Beweis davon, dass lebendige treibende Kräfte in uns da sind, welche eine Rinde abstoßen. Wir verneinen und müssen verneinen, weil Etwas in uns leben und sich bejahen will, Etwas, das wir vielleicht noch nicht kennen, noch nicht sehen! — Dies zu Gunsten der Kritik.