46. Erklärung der falschen Rede
Fremder: Wie also die Dinge sich teils ineinanderfügen, teils auch nicht, so auch fügen die Zeichen vermittelst der Stimme sich zum Teil nicht; die sich aber fügen, bilden eine Rede. [262e]
Theaitetos: So ist es auf alle Weise.
Fremder: Nur noch folgendes Wenige!
Theaitetos: Welches?
Fremder: Daß eine Rede, wenn sie ist, notwendig eine Rede von etwas sein muß, von nichts aber unmöglich.
Theaitetos: So ist es.
Fremder: Und auch von einer gewissen Beschaffenheit muß sie sein.
Theaitetos: Unbedenklich.
Fremder: Nun laß uns recht aufmerken bei uns selbst!
Theaitetos: Das wollen wir.
Fremder: Ich will dir also eine Rede vortragen, indem ich eine Sache mit einer Handlung durch Hauptwort und Zeitwort verbinde; wovon aber die Rede ist, sollst du mir sagen.
Theaitetos: Das soll geschehen nach Vermögen. [263a]
Fremder: »Theaitetos sitzt.« Das ist doch nicht eine lange Rede?
Theaitetos: Nein, sondern sehr mäßig.
Fremder: Deine Sache ist also nun zu erklären, wovon sie ist, und was sie beschreibt?
Theaitetos: Offenbar von mir, und mich.
Fremder: Wie aber folgende wiederum?
Theaitetos: Was für eine?
Fremder: »Der Theaitetos, mit dem ich jetzt rede, fliegt.«
Theaitetos: Auch von dieser würde wohl niemand etwas der es sagen, als sie rede von mir und über mich.
Fremder: Und irgend eine Beschaffenheit, sagen wir, habe notwendig jede Rede?
Theaitetos: Ja. [b]
Fremder: Wie wollen wir also sagen, dass jede von diesen beschaffen sei?
Theaitetos: Die eine doch falsch, die andere wahr.
Fremder: Und die wahre sagt doch das Wirkliche von dir, dass es ist?
Theaitetos: Ja.
Fremder: Und die falsche von dem Wirklichen Verschiedenes?
Theaitetos: Ja.
Fremder: Also das Nichtwirkliche oder Nichtseiende sagt sie aus als seiend.
Theaitetos: Beinahe.
Fremder: Nämlich Seiendes, nur verschieden von dem Seienden in bezug auf dich. Denn in bezug auf jedes, sagten wir doch, gebe es viel Seiendes und viel Nichtseiendes.
Theaitetos: Offenbar freilich.
Fremder: [c] Die letzte Rede nun, welche ich von dir ausgesagt, war nach unserer vorigen Bestimmung darüber, was eine Rede ist, zuvörderst ganz notwendig eine der kürzesten.
Theaitetos: So waren wir eben wenigstens darüber einig geworden.
Fremder: Dann redete sie doch von etwas.
Theaitetos: Gewiß.
Fremder: Und wenn nicht von dir, dann gewiß von niemand anderem.
Theaitetos: Freilich nicht.
Fremder: Und redete sie von nichts, so wäre sie ganz und gar keine Rede. Denn wir haben gezeigt, es sei ganz unmöglich, daß, was eine Rede ist, eine Rede von nichts sein sollte.
Theaitetos: Vollkommen richtig.
Fremder: [d] Wird also von dir Verschiedenes als identisch ausgesagt und Nichtseiendes als seiend, so wird eine solche aus Zeitwörtern und Hauptwörtern entstehende Zusammenstellung wirklich und wahrhaft eine falsche Rede.
Theaitetos: Vollkommen wahr.