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Das Elternhaus

»Ich habe Ihnen das Giraffenhaus gezeigt«, sagte unser Führer, »und das Raubtierhaus und das Vogelhaus – wir kommen nun zu dem Elternhaus!«

Lärm empfing uns. Wir traten an das erste Gitter.

»Sie sehen hier«, sagte der Führer, »die gemeinen Hauseltern (parentes communes domestici). Sie sind weit verbreitet, harmlos und vererben alle ihre Eigenschaften.«

Hinter dem Gitter saßen an einem Tisch Vater und Mutter, er trug eine hohe, steife Hausmütze mit einer Quaste, er rauchte eine lange Tabakspfeife und las im Zeitungsblättchen. Die Mutter stopfte Strümpfe, daß die Nadeln klapperten. Kinder von vielerlei Altern krabbelten im Zimmer herum: das älteste hatte eine Brille auf der Nase und lernte aus einem Buch, zwei Mädchen nähten Puppenkleider, ein Junge baute unter dem Tisch eine Steinbaukastenburg, und das Jüngste steckte einen standhaften Zinnsoldaten in den weitgeöffneten Mund. Von Zeit zu Zeit erhob der Vater den Kopf und sagte, ohne hinzusehen: »Eduard! Tu das nicht!« und las weiter. Und die Mutter sagte dann: »Aber, Papa, laß doch die Kinder!« Worauf alles seinen ungestörten Fortgang nahm. Wir schritten zum nächsten Gitter.

»Dies«, erklärte der Führer, »sind die Eltern mit der Affenliebe (parentes simiarum modo amantes).«

Zunächst sahen wir nur die Eltern – sie standen um irgendetwas herum, was zunächst verborgen blieb, und schützten es mit ihren Armen und drückten daran umher. Dann traten sie auseinander: und es zeigte sich ein dickes, kugelrundes Kind von vielleicht acht Jahren, das, kaum war es frei, an den Tisch ging und dort alles Geschirr mit einer jähen Handbewegung herunterfegte. Krach! Aber schon stürmten die besorgten Eltern herbei und schlossen das Kind unter Jubelrufen erneut in ihre gerührten Arme. »Nein, wie selbständig es schon ist!« sagte der Vater. »Hast du gesehen, wie flink es zupackt?« sagte die Mutter. Das Kind prustete, ob vor Lachen oder weil es husten mußte, wußten wir nicht. »Ach!« machten die Eltern und packten es in ein Bett. Aber da stand es auf und lief durch die Tür in einen hinteren Raum. Die Eltern lockten. »Kunochen! Na, Kunochen! Kuno! Komm doch! Du kriegst Schokolade!« Kuno blies ihnen etwas, und wir gingen weiter.

»Wir kommen nunmehr«, sagte unser freundlicher Führer, »zu den Nationaleltern (parente furore teutonico affecti). Aber treten Sie nicht so nahe heran, Sie könnten sich verletzen!«

Eine Kugel kam geflogen – hoch über unsere Köpfe hinweg. Sie kam aus einem schwarzweißrot angestrichenen Blasrohr, das ein feldgrau gekleideter Junge mit Brille eben absetzte. »Friedrich Wilhelm!« donnerte eine Männerstimme. »Adalbert! Hans Oskar!« Rrrums – machte es in der Stube, und schnurgerade ausgerichtet standen drei Jungen wie die Orgelpfeifen da. Der Vater betrat die Szene, ein Greis von mächtigen Dimensionen, furchtbar anzuschauen. Er nagte an einem ungeheueren Speckbrot. Als er es verschluckt hatte, war er wie steinerner Grimm anzuschauen. Er schrie: »Disziplin! Nur der Kadavergehorsam kanns machen!« – »Nieder mit allen Nichtdeutschen!« piepste der Jüngste. »Schweig! Bevor ich dich frage!« rief der Vater in erschrecklichem Baß. »Aber hasts brav gemacht!« Und dann, die Hände in den Hüften: »Ich habe gestern wieder ein Buch in der Kinderstube gefunden! Wenn mir das noch einmal vorkommt! Bleisoldaten spielen sollt ihr! Griffe kloppen! Felddienstübungen machen zur Ertüchtigung der Jugend. Mama geht als Krankenschwester mit! Ein Buch –! Rasselbande! Potz Schwerebrett! Höllendunner … « Wir konnten ihn noch hören, während wir schon weitergingen.

»Jetzt kommen wir«, erklärte der Führer, »zu den modernen Reformeltern (parentes principiis onerati).«

In sackähnliche Reformgewänder gehüllt, saß hinter diesem Gitter ein sonderbarer Verein. Geschlechter waren nicht zu unterscheiden, nur an den etwas helleren Fingern konnte man die weiblichen Familienangehörigen vage ahnen. Aber auch dies schien zu täuschen … »Charlotte-Elisabeth!« säuselte ein Mitglied, anscheinend die Mutter, »du hast heute wieder Äpfel aus der Speisekammer entwendet. Das Eigentum ist heilig, weil wir es uns erarbeitet haben. Willst du dein Unrecht mit mir betrachten?« – »Ja, Mama«, sagte Charlotte-Elisabeth. »Charlotte-Elisabeth! Siehst du dein Unrecht ein?« – »Ja, Mama«, sagte Charlotte-Elisabeth. »Charlotte-Elisabeth! Wer sein Unrecht einsieht, der bereut es schon. Bereust du dein Unrecht?« – »Jaaa, Mama«, sagte die Äpfel-Charlotte. »Ich entsühne dich, mein Kind – – Paul!« schrie die Mama. Paul hatte dem Schaukelpferd den Schwanz ausgezogen und war damit beschäftigt, ihn sich zum Skalp aufzuputzen. »Paul!« sagte die schon wieder gefaßte Mutter, »auch Schaukelpferde fühlen wie du den Schmerz!« Da aber war es mit unserer Fassung zu Ende, und froh wallfahrten wir weiter.

»Hier sehen Sie«, sagte unser Führer, »die alleinstehende Hausmegäre (mater terribilis).«

Hurr – wie sauste da hinter dem Gitter jemand durch die Stube! Laut knallten die Türen, und wir hörten einen schrillen Sopran. »Marie! Marie! Habe ich Ihnen nicht schon tausendmal gesagt, dass die Staublappen nicht in die rechte Schublade gehören? Marie! Wo ist mein Schlüsselkorb? Marie! Der Korb! Wo ist Bubi? Marie! Wo ist das Kind? Das Kind! Der Korb! –« Und aus einer Ecke kroch, mit totentraurigen Augen, ein kleines, verwahrlost aussehendes Geschöpf: ein Kind. Nein, ein Opfer.

Wir gingen weiter. »Hier«, sagte der Führer lächelnd, »muß ich die Herrschaften bitten, den Mann nicht zu necken. Es ist das der kleine Haustyrann (pater tyrannicus).«

Nein, wir neckten nicht. Schade – einem Gockel gleich stelzte dort ein Herr der Schöpfung herum und warf von Zeit zu Zeit wütende Blicke auf ein kleines Mädchen, das verschüchtert am Tisch saß. »Papa ist heute wieder so schlechter Laune«, flüsterte die Kleine. »Wer spricht, wenn ich im Zimmer bin!« grollte der väterliche Fürst. Sie verstummte. Und er stapfte weiter umher und war sieghaft anzuschauen, wenngleichen er Filzpantoffeln trug.

»Zum Schluß gelangen wir«, sagte der Führer vor dem nächsten Gitter, »zu der Syndetikonfamilie. Sie kommt nur in Rudeln vor und kann auch bei Todesgefahr nicht auseinandergerissen werden. Man erzählt sich wunderbare Geschichten von ihrer Anhänglichkeit. Ihre Angehörigen schätzen einander wenig, hocken aber dessenungeachtet stets zusammen. Sehen Sie –!«

Wir sahen. Hinter dem Gitter saßen ungefähr acht Personen und gähnten. »Die kleine Ellen erwartet mich um zehn«, sagte der Älteste und zog ungeduldig, aber heimlich seine Taschenuhr. »Wie gern ginge ich heute ins Theater!« flüsterte die erwachsene Tochter. »Huach!« machte die Fünfzehnjährige, »ist das bei euch langweilig!« Dabei gehörte sie doch mit dazu! »Auf der Straße ist heute große Schlacht zwischen den Blauen und den Schwarzen!« sagte der Gymnasiast. Und als alle etwas gesagt hatten, sah sich der Vater im Kreise um und sprach: »Ich weiß mir nichts Schöneres, als wenn ich so alle meine lieben Kinder um mich versammelt habe. Nicht wahr, Kinderchen?« – »Hujaja!« gähnten alle.

Und dann gingen wir. »Sagen Sie«, fragte ich, wäh-rend wir hinausschritten, den Führer, »Sie haben uns da nun so viel gezeigt – aber … wie soll ich mich ausdrücken … « – »Sie meinen, ob es nicht auch vernünftige Eltern gibt?« – »So etwas Ähnliches wollte ich allerdings sagen.« – »Kommen Sie!« sagte er ruhig. Und zog mich an der Hand aus dem Elternhaus fort, in den Park. Der Abend dämmerte, die Bäume rauschten im Winde. »Kommen Sie!« sagte er. Und wir gingen, bis wir an ein kleines weißes Häuschen kamen. Wir schlichen uns heran und wurden nicht gesehen und nicht gehört.

Vor dem Haus saß ein blondes, junges Weib mit ungemein lustigen Augen. Vor ihr im Sande raffte ein kleiner Junge seine Spielsachen zusammen; er hatte einen frech gedrehten Haarbusch auf dem Kopf und einen kleinen dicken Bauch. Er schnaufte erschrecklich, weil er so viel zu tun hatte. Die junge Frau ging ins Haus. »Peter!« rief sie. »Peter!« und Peter wackelte aufjauchzend hinterdrein.

Ich sah den Führer an. Er nickte. »Das sind meine«, sagte er leise. »Die werden nicht eingesperrt!«

Peter Panter
Berliner Tageblatt, 15.03.1919, Nr. 108.