Die beiden Brüder H.
Was sind schließlich Nebendinge? Unsre Lehrer nannten Münzen oder fremde Bücher so oder den Kipling, den wir unter der Bank lasen, und niemand wird sagen wollen, daß diese Dinge wirklich nur nebensächlicher Natur waren. Relativ, für die Unterrichtsstunde genommen, waren sie es. ›Draußen‹ nicht. Steht nicht im Grunde alles in einer Reihe? Sehen wir nicht vielmehr nach Graden gestaffelt? Was wir sehen, ist. Jede wahre Objektivität ist grotesk. Sieh zugleich das Nahe und das Ferne, und du lachst. (Chesterton: »Die Überreste eines klardenkenden Menschen liegen im Küchengarten.«)
Also in praxi: es geht natürlich nicht. Geburt, Leben, Tod, Liebe, Geld – immer hübsch der Reihe nach. Aber vielleicht ist das nur bei uns so. Vielleicht gibt es auch eine umgekehrte Reihenfolge.
Und es ist lehrreich, darauf hinzuweisen: auf die Gleichberechtigung der ›Nebendinge‹. Zwei Komiker in Berlin tun dies.
Sie haben ein eigenes kleines Theaterchen, und sie spielen seit einundzwanzig Jahren, stets zusammen. Der eine spricht das Deutsch in fremder Klangfärbung, hart, holzig, stotternd, »I … i … i glaub«, sagt er, »i glaub, i krieg an Krupf …« Der andre bewältigt seine Rollen in Tönen einer Rasse, die wie keine zweite befähigt ist. Brücken zu schlagen von Menscheneinsamkeit zu Menscheneinsamkeit, Und alles, was sie – vielleicht ungewollt, nur im Hinblick auf die Kassenrapporte und das Lachen eines vollen Hauses – geben, ist dies Sicheinbohren und das Nie-auf-den-Grund-kommen und das wundervolle Aneinanderreihen der Haupt- und Nebensachen. Alles andre ist unwesentlich: die Ausstattung ist schlecht angemalte Leinwand, die übrigen Darsteller taugen nichts. Nur die beiden lassen einen aufhorchen, wenn sie sich unterhalten. Ihre Situationen sind dumm, sie haben beide ein traditionelles Schlenkern der Füße und Hände, eine Art Veitstanz, wenn sie, die ungetreuen Ehemänner, unvermutet die Gattinnen erblicken – aber das ist nichts. Ihre wahre Größe entfalten sie in den Konversationen.
Vorauszuschicken ist: sie stellen niemand dar. Sie geben keinen ›Typ‹, keinen dicken Rentner und keinen Geizhals, keinen Schulmeister. Sie spielen etwas, was es überhaupt nicht gibt. So bewegt sich niemand, so spricht kein Mensch, so etwas existiert nicht. Der mit dem fremdartigen Deutsch: wie vom Mars heruntergefallen ist er. Ein Phänomen, ein unmögliches Lebewesen, ein Widerspruch zu allem, was atmet. Ist das eine Art, die Beine zu setzen? Den Oberkörper so einzuziehen? So dazustehen, als seien Rumpf und Gestell etwas durchaus Verschiedenes. Was ist das mit diesem rosigen Gesicht? Die Nasenflügel sind angeklemmt, der halboffene Mund ist schief verzogen, die Zähne sind ein wenig schadhaft, und oben durch den Nasenansatz sind wahrhaftig drei tiefe waagerechte Falten gezogen. Wie mißvergnügt dieses Wesen aussehen kann! Das ist der Dominantakkord, der sich auflösen kann in ein seliges, listiges Lächeln: der Mund kaut die harten Worte und über den prekärsten Lagen dieses Menschen strahlen die kleinen schwarzen Augen wie zwei freundliche Sterne, Nein, es gibt ihn gar nicht, aber sofort, wenn er die Bühne betritt und gleichgültig, fast formelhaft äußert: »Kumm här! schlagg di glei tott!«, fühlen wir uns heimisch. Schon nehmen wir keinen Anstoß mehr daran, daß einer erst noch zu ihm kommen soll, um sich darauf ermorden zu lassen. Angenehm läßt man sich treiben: der eine kommt nicht, und der andre schlägt nicht tot, und das Ganze ist nur ein Spaß.
So etwas gibt es nicht, aber es könnte es doch geben, jeden Tag, jede Minute. Stets ist es denkbar, daß einer bei einer kritischen Geschäftsbesprechung wenigstens fühlt: »Wenn ich bloß wüßte, wo er sich frisieren läßt! – aber er sagt mers nischt!« Hier und da empfindet man wohl so etwas, schämt sich und steckt es weg. Diese sprechen es aus. Es handelt sich etwa um die eine schwierige Aufgabe, die Gattin, die teure, nichts merken zu lassen. Alles Wohl und Wehe hängt: von der Viertelstunde ab. »Was tun mer schon?« fragt der eine den andern. Und der: »Laß der'n Zylinder färben!« So. Er hat ja recht, denkt man, aber doch nicht jetzt! Man brüllt. Über deplacierte Wahrheiten.
Und wieviel ist in dem allen! Einer hat unrecht, und er schreit unmotiviert und siehe – er hat recht. »Das habe ich Ihnen doch gleich gesagt!« Crescendo. Er denkt gar nicht daran – aber wer kann gegen diese Stimmkraft! (Politische Analogien tauchen auf: unsre Agrarier.) Innen aber sitzt die Furcht und weint. Eine defensive Offensive …
Oder das breite Gesicht strahlt in Höflichkeit: »Bitte, nehmen Sie Platz, mein Lieber!« – und dahinter, geknirscht, gepreßt: »der Schlack (scilicet: soll ihn treffen)!« Gefühltes gesagt. Man krümmt sich.
Tausend Züge müßte man erzählen. Wie sich Dobrovice Wischek Poposchek vorstellt, weil er mit den Herren Karten spielen mochte. »Reden Se nischt und setze Se sich scho hin. Zewos stelln Se sich vor?« Antwort (belehrend): »Oho! das ise Anstand!« Wo ist eine prachtvollere Hohlheit?
Oder die sophistische Geschichte, wie sie beide in einem Boudoir zusammentreffen: »Du hier?« – »Nein du hier! Ich seh dich doch.«
So hundert Mal.
Früher, in den neunziger Jahren, war es wie eine Synagoge. Zum Abendgottesdienst, gewissermaßen als Fortsetzung des Geschäfts, kamen die Lehrlinge der umliegenden Weißwarengeschäfte mit ihren Brautens hierher und hörten: ›EinePartie Klabrias‹, die sie tagsüber im Kontor auswendig spielten. Es war eine gewichtige Sache, und wie man sagte: Ein guter Beckmesser, so durfte man sagen: Ein feiner Dovidl.
Sie sind mit der Zeit mitgegangen.
Und wie sie damals, in ihrem berühmten Stück, vor einer Schale Haut, Tiefstes, Menschlichstes erkennen ließen, so haben sie heute noch ein Wort gefunden, das unsre Stadt besser zeichnet, als viele andre. »I bin«, sagt der eine Bruder, »i bin ein Schintelemenn.« – »Was bist du?« – »I bin ein Schintelemenn.« – »Ein Gentleman? Wo hast du das Wort her? Weißt du denn, was das ist?« – »Jawull! Steht drin in mein Kragn!«
Und reibt sich scheuernd mit den Fingern den Hals entlang und steht da auf zwei abwesenden Beinen, mit lächelndem Mund und schadhaften Zähnen, und in dem rosigen Gesicht strahlen die kleinen, schwarzen, zusammengekniffenen Augen listig, selig, vergnügt, blank – wie zwei freundliche Sterne . . .
Kurt Tucholsky
Die Schaubühne, 09.01.1913, Nr. 2, S. 50.