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Der Rhein und Deutschlands Stämme

Es fließt ein Strom durch das deutsche Land,
drin spiegeln sich Schlösser und Zinnen;
er ist in den deutschen Gauen bekannt,
kein Refrain kann demselben entrinnen.
Und alle Romantik hat hier ihr Revier,
und je lauter das Rheinlied, je kälter das Bier
der kleinen und großen Verdiener.
Zum Beispiel so der Berliner:
»Ein rheinischet Meechen – beim rheinischen Wein –
Ja, Donnerwetter nich noch mal!
Na, det muß ja der Hümmel auf Erdn sein –!
Wat, Lucie –?«

Wer Lieder für Operetten schreibt
aus Prag, aus Wien und aus Bentschen –:
den Rhein möcht ich sehn, der da ungereimt bleibt –
es sind halt geschickte Menschen!
Und was sie dichten, ganz Deutschland grölts,
von Aachen bis Dirschau, von Kiel bis nach Ölz;
wo nur Treue und Weinbrand wachsen.
Zum Beispiel so unsere Sachsen:
»Ein rheinisches Mädchen – beim rheinischen Wein –
Nu heere mal, Agahde, was hasdn dn
Krachenschonr nich midgenomm? 's is doch
so giehle uffm Wasser?
Diß muß ja der Himmel auf Erden sein!
Eicha … !«

Im Rhein, da quillt unsere Mannesbrust,
da liegen dicke Tantiemen;
und befällt den Deutschen die Sangeslust:
hier kann er das Ding unternehmen.
Es reimt sich der Rhein
auf Schein und auf Sein
und auf mein und auf dein,
auf Jüngferlein, Stelldichein, Gänseklein …

Und ist auch zerklüftet das Deutsche Reich:
im Moorbad der Lyrik verstehn sie sich gleich.
Viel schneller als bei Richard Dehmel.
Zum Beispiel so jener aus Memel:
»Äin rhäinisches Mädchen – bäim rhäinischen Wäin –

äi, das muß ja der Himmel – auf Erden säin –
Wäißt, wenn dir der Wäin nich schmeckt,
jieß noch 'n kläin Schnapsche räin! –
Äi, das muß ja der Himmel auf Erden säin –!
Oder mäinst näin –?«
So ist der Rheinstrom ohne Fehle,
das Familienbad der deutschen Seele.


Theobald Tiger
Simplicissimus, 25.07.1927, S. 218.