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Pariser Dankgebet

In Nummer 20 hat Peter Panter geschrieben: »Ich bin dem Herausgeber dieser Blätter dankbar, dass er meine hymnischen Ergüsse aus meinen ersten pariser Tagen nicht zum Druck befördert hat.« Auf diesen Satz hin hat man mich der Feigheit geziehen: ich Internationalist hätte vermutlich aus Angst vor den deutschen Nationalisten nicht gewagt, die Wahrheit über Frankreich zu drucken. Bekanntlich ist Angst die Signatur dieser Blätter. Aber diesmal wars bei mir keine Angst, sondern einfach aus besserer Kenntnis der Stadt die Voraussicht, dass mein Mitarbeiter sich spätestens nach einem Jahr freuen würde, mit einem ungerechten Überschwang, wie er sich etwa in diesem Gedicht hier entfaltet, nicht Woche um Woche zu Worte gekommen zu sein.

Hier tritt mir keiner auf die Stiebeln. Hier sind die Leute höflich und nett.
Und wenn mir doch mal einer rauftritt, dann sagt er:
»Ah pardon, monsieur!« überall, in Malakoff und in der rue Lafayette.
Kyrie eleison!
Hier fahren die Autos glatt und schnell. Und geraten sie wirklich mal aneinander mit leichtem Buff,
dann sagt keiner: »Dir hol ick jleich runter vom Bock, du oller Mistkutschenfahrer, pass mal uff –!«
Kyrie eleison!
Hier ist der Schaffner kein Vorgesetzter, und der Verkäufer teilt keine Gnaden, sondern Schnitzel aus.
Hier geht man frühmorgens heiter und pfeifend aus seinem Haus.
Amen.
Hier kann man sich noch freuen, weil eine Markise so schön gelb leuchtet. Hier hat jeder Arbeit und doch Zeit,
ein Mensch zu sein, aufzuatmen allein und zu zweit.
Kyrie eleison!
Rekonvaleszenten sehen aus den Fenstern der Krankenhäuser, ungehetzt und voll Ruh.
Alte Herren gucken im Luxembourg den Spielen der Kinder zu.
Kyrie eleison!
Hier ist Wolke noch Wolke und Stein noch Stein.
Hier hat es noch einen Sinn, am Leben zu sein.
Amen.
Hier sind die Professoren keine Staatssklaven und die Studenten keine Hausknechte.
Hier muß man gebildet und kultiviert sein – das verlangt die Linke wie die Rechte.
Kyrie eleison!
Hier können sogar die Royalisten gute Artikel schreiben – es sind Leute von Witz und Esprit.
Und von schimmernder Wehr und Großfrankreich sprechen die Blätter fast nie.
Kyrie eleison!
Wenn sich hier die siegreichen Generale so benehmen wollten wie unsre geschlagenen zu Haus … !
Ein ganzes Land streckt friedfertig die Arme aus –
Amen.
Wie schön ist es, hier zu leben: ohne diese Gesichter, die keine sind;
ohne Krach und Krakeel – ohne den staubigen berliner Sommerwind.
Zehn Jahre zu spät! Und doch darf ich nicht klagen.
Es tut so wohl, auch einmal Ja zu sagen.

Theobald Tiger
Die Weltbühne, 25.05.1926, Nr. 21, S. 811.