Die Frau mit den Fähnchen
In einem großen Kaufhaus zu Stockholm sitzt eine charmante Dolmetscherin, eine ältere Dame, sie spricht das Deutsch mit jenem singenden, leicht schleifenden Akzent der Balten … Und plaudert englisch und französisch und russisch und hat demgemäß auf ihrem Kleid eine ganze kleine Galerie von Emaillefähnchen stecken: eine französische Fahne und eine englische und eine schwarz-weiß-rote, also keine deutsche … Ich frage. »Ja –« sagt die Dame …
»Ja, ich bin aus der guten, alten Zeit – ich trage noch die Fahne, die Deutschland geführt hat, als mein Mann da herüberkam … sehen Sie, mit den Fahnen, das ist nicht einfach.« Das ist nicht einfach, sage ich, »Da ist zum Beispiel die russische«, sagt die Dolmetscherin. »Die alte kaiserliche Zarenfahne kann ich nicht führen – denn es verkehren hier die Mitglieder der Sowjet-Botschaft. Nun, und eine rote Fahne mag ich nicht tragen – ja.« Es ist nicht einfach mit den Fahnen.
Denn was soll ich nun tun? Der Frau klarmachen, dass die einzig wahre Fahne Deutschlands die der Republik sei: schwarz-rot-gold? Das ist leider nicht ganz richtig. Was soll ich tun? Für die Republik kämpfen? Für welche? Für diese da –?
Die will das ja offenbar gar nicht. Die deckt ja ihre Anhänger nicht einmal. Sie wagt es ja nicht. Sie traut sich nicht, ihre Richter hinauszuwerfen, die sich offen über sie lustig machen, weil sie wissen, dass ihnen nichts geschehen kann, denn wir haben die Unabhängigkeit der Arbeit vom Verdienst – ja, was hätte ich tun sollen?
Der Frau sagen: »Dies ist nicht mehr die Flagge meiner Heimat? Diese Flagge gibt es nicht mehr, so wie es die dahinter flatternde Gesinnung nicht mehr gibt – wir haben uns gewandelt, weil wir gelernt haben?« Das soll ich sagen? Das wäre gelogen.
Sie haben sich gewandelt, aber sie sind dieselben geblieben. Die Form haben sie gewechselt – kaum mehr. Die Armee, ohne deren Wespentaille kein besserer Deutscher denkbar gewesen ist … heute sind die Störenfriede, die unerwünschten Elemente, die Industriearbeiter und die paar Intellektuellen aus der Armee heraus, und Herren und Bauernknechte sind unter sich –: sie rüsten für den nächsten Frieden. Die Richter – das muß man gesehen haben. Die Beamten mehren sich wie die Sandflöhe am Meer – was soll ich hier verteidigen … ?
Vielleicht jene Republik, die ihr im Munde führt und deren Embleme nun überhaupt nichts mehr bedeuten? Was heißt denn das: »Ich bin Republikaner!« Damit kann man vielleicht einen amerikanischen Wahlkampf machen, eine jener Volksvergnügungen, an die kaum noch die Unbeteiligten glauben, ein Jahrmarktsfest der Politik!
›Republikanisch‹ – das heißt allein noch gar nichts. Portugal ist eine Republik, und die Vereinigten Staaten von Amerika sind eine, und Sowjet-Rußland ist eine, und Deutschland auch – republikanisch ist heute so wenig ein politisches Programm wie der Monarchismus noch eines ist. Das ist vorbei. Zeige mir deine Wirtschaftsform, und ich werde dir sagen, wer du bist – die fliegenbeschmutzten Bilder in den Stuben deiner lebenslänglichen Angestellten interessieren keinen Kenner.
Wißt ihr ganz genau und bestimmt, wodurch sich eigentlich Reichsbanner und Jungdo unterscheiden? Höchstens doch durch den Grad ihrer Energie: der redseligen Schlappheit von links steht der zielbewußte Kleinkampf von rechts gegenüber, der im Boykott ein wirksames Mittel sieht – die Weltpolitik dieser politischen Heilsarmee endet gewöhnlich in einem Stammtischcoup … Was soll ich der Frau sagen –? Daß es zwei Deutschlands gebe – – liebe Frau!
Ich habe ihr gar nichts gesagt, denn man hat mich schließlich nicht ausgeschickt, um ›Kulturpropaganda‹ zu machen; das mögen die Botschaften tun, die Hosen voller Taktik und die Dächer voller schwarz-weiß-roter Fahnen – was geht uns das noch an! Ich habe der Dolmetscherin nichts gesagt. Nicht einmal, dass es niedlich ist, wie sie Rußland ignorieren möchte, einem nicht unähnlich, der nicht an Eisenbahnen glaubt – ich habe ihr nichts gesagt.
Denn ich hätte ihr die Wahrheit sagen müssen, und die geht sie nichts an; ein Kaufhaus ist keine Volksversammlung. Die Wahrheit, dass es unsereinem ziemlich gleich sein kann, wer von diesen beiden die Oberhand gewinnt: der ohne Visier oder der mit Visier, der kostümierte oder der in Zivil, der offene oder der versteckte, der Herr der Untertanen oder der freigelassene Untertan, der eine oder der andre. Die Entwicklung wird über beide hinweggehen, und bestimmt nicht durch die sanft liberale Mitte.
Dies, im Jahre 1945 nachgelesen, wird sehr wahr sein.
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 30.04.1929, Nr. 18, S. 666.