Caruso
»Hei levet noch
Hei levet noch … «
Und ob er lebt! – Mittwoch standen die Leute zu Hunderten in langen Reihen um das Opernhaus herum, von Schutzleuten bewacht (zu zweien angetreten!), stundenlang in der Kälte, um Billetts! Billetts! – Händler, Messenger-Boys, Dienstmänner, um Billetts!
Dieser Caruso ist ein Symbol.
Ob er so viel kann, daß dieser Spektakel berechtigt ist, sei dahingestellt, nein, es ist ganz gleichgültig, denn die Leute gehen nur des Spektakels halber hin. Diese Begeisterung hat mit Kunst soviel zu tun wie ein Landrat mit liberaler Politik.
Da leben in Deutschland, sagen wir, 100 Künstler, Musiker, Maler, Literaten, die Ungeheures leisten und noch mehr leisten würden, wenn sie anerkannt, also bezahlt würden. Wer kennt sie? – Die Kollegen, die kleinen Fachkreise, eine Zeitschrift nennt ihren Namen – aus.
Ja, aber Caruso. Das ist nicht der Sänger, der Künstler, der Musiker – das ist das Phänomen, der Mann mit dem hohen Cis, das Kalb mit drei Beinen, der Kerl mit dem Millioneneinkommen. Speziell das letzte zieht immer: dafür bekommt er nun 10000 Mark!! –
Es imponiert, und das ist schließlich die Hauptsache.
Dieser Mann schluckt Millionen – niemand mache ihm einen Vorwurf, denn er nutzt berechtigterweise die Konjunktur aus – und bei uns zerquälen sich starke Talente (und vielleicht größere) die Köpfe mit der intensiven Frage: wann essen wir heute Mittag? –
Dieser Artikel erscheint alljährlich, wenn der Göttliche schmettert. Es ist immerhin möglich, daß nach seinem Tode die Begeisterung nachlassen wird.
K.T.
Vorwärts, 20.10.1911, Nr. 246, S. 1.