Rin in die Escarpins!
Berlin liegt zwar an der Spree, aber wenn man so nach einer »Nacht der Bälle« die Zeitungen liest, könnte man denken, es sei an die Donau gerutscht.
Früher ging man tanzen, amüsierte sich und ließ Gott einen guten Mann sein. Dagegen ist nichts einzuwenden. Seit aber Tanzen eine Ehrensache geworden ist, bei der man nicht mehr aufs Mädel, sondern nur noch auf vier Beine sieht, geht das nicht mehr so einfach vonstatten. So ein Ball ist das, was der Berliner eine »Sache« nennt, man muß an die schönen Verse Peter Schers denken … »Wenn wir Berliner eine Lust entfachen, Denn jehn wir feste ran (Verschtehste: Schwung!) Natürlich aber doch mit Mäßigung – Da gibt es nischt zu lachen.« Gibt es auch nicht, es sei denn, man sieht sich am nächsten Morgen die Zeitungen durch.
In einer Reihe mit Ein- und Beinbrüchen, mit Kulturwerken und Klatschgeschichten stehen Ballberichte, die der selige Pietsch nicht besser hätte mit der Hand herstellen können. Ungeniert werden den Damen zweifelhaftester Provenienz – auf die niemand einen Stein werfen soll, solange sie bei ihrem Leisten bleiben – Kränzchen gewunden, und die Fräcke der Herren Schieber und Karikaturisten, die längst Modezeichner sind, werden hübsch genau abgemalt. Der Nachfolger des alten Pietsch in der Vossischen Zeitung – der Altmeister war berühmt wegen seines Schmalzes, das er gleichermaßen auf Gerechte und Ungerechte träufeln ließ – dieser Nachfolger ist tobsüchtig geworden ob des reizenden Anblicks, der sich ihm darbot.
Während Hunderte in der großen Stadt nicht wußten, wo sie den nächsten Tag das Essen herbekommen sollten, während kräftige arbeitswillige Arbeitslose bettelnd von Tür zu Tür zogen, tobten die jungen Leute bei Sekt und Tanz durch die Nacht. Gut. Aber man muß diese anstrengende Tätigkeit nicht als »Eleganz« oder »Kultur« oder sonst etwas Hervorragendes hinstellen. Man muß nicht von irgendeiner dunklen Dame, die wir erst wieder beim nächsten Schieberprozeß als Zeugin oder – wills Gott – als Angeklagte auftauchen sehen werden – sagen: »Ihr gertenschlanker Körper atmete Musik.« Es bleibt jedem überlassen, sich dies schöne Bild auszumalen.
Aber die Höhe des angeregten Rapports ist doch die Stelle – und ganz Berlin liegt drin –, wo jener sich gegen die schwarzen Fräcke ausspricht. Bunte Fräcke müßt ihr tragen! Rokoko! – Kurz: »Raus aus der schwarzen Trauerkluft und rin in farbenfreudige Escarpins und hellseidene Fracks mit Spitzenjabots!« So ists richtig. (Bis auf die Mehrzahl von »Frack«, die »Fräcke« heißt.) Nun wird also der Ladenjüngling oder Konfektionär am Tage sich vom »Alten« anschnauzen lassen, selbst den Hausburschen ankrähen, und abends … Abends wird er mit der Puderquaste über das rosige Ferkelgesicht fahren, rin in die Escarpängs, un denn los! Der Berliner Schieber mit Spitzenjabots!
Und wenn diese ganze Nachtunterhaltung nicht so dumm, so geistlos, so ohne jede Grazie (trotz der Ballberichte) wäre, möchte man ein bißchen lächeln. Aber es genügt, das Treiben dieser Jungens gelegentlich zu betrachten – aus der Ferne – und als vernünftiger Mann abends ein Buch zu lesen, ein gutes Wort mit einem anderen zu sprechen und früh in die Klappe zu gehen.
anonym
Vorwärts, 07.02.1914.