Die Überschrift
Das haben wir eigentlich aus Amerika gelernt, nicht auf die Suppe, sondern auf den Topf zu gucken. Früher fragte man, wie eine Medizin wirke, heute, wie sie verpackt sei. Ein Königreich für einen Titel!
Die Zeitungen habens verschuldet, deren geschickteste Angestellte sich den Kopf zerbrechen müssen, um einen Titel, ein lockendes, fettgedrucktes Wort zu erfinden … Es ist nicht zu tadeln, wenn eine gute typographische Druckanordnung die Orientierung des Lesers erleichtert, – aber das geschieht bei uns auf Kosten des Inhalts. Die Überschrift macht den Kohl fett, der sonst so fad wäre, dass ihn niemand schlucken möchte.
Wenn die Überschrift noch den Extrakt der Nachricht, des Artikels enthielte: keine Spur! Anreizen soll sie, und die Folge ist, dass der ewig überhungrige Leser die dünne Kaviarschicht durchbeißt, auf den pappigen Teig stößt und dann das Ganze überdrüssig wegwirft. So werden viele guten Dinge diskreditiert: nur durch die Überschrift. Es gibt gerade in Berlin Zeitungen, die es darin zu einer beängstigenden Fertigkeit gebracht haben. Es kann kommen, was da will: eine Überschrift muß es haben, die den Leser vor den Kopf stößt. Wie? ›Der Glaszauber‹? – Und nachher ist es ein Flaschenfabrikant, der allerlei Triviales über sein Geschäft erzählt. ›Der Schrei in der Nacht‹? Und das wird wohl das Pfeifen einer Lokomotive bedeuten, und daran anschließend macht es sich sehr hübsch, wenn man ein wenig über die Lohnforderungen der Eisenbahnarbeiter schwätzt. In dieser Art: weil man erstens in der Regel nur Triviales zu bieten hat und zweitens der verhätschelte Leser für ernste und anstrengende Dinge nicht zu haben ist, verputzt man einen an sich gleichgültigen Aufsatz mit glitzernden Mätzchen und krönt ihn mit der Krone des Kolportageromans, mit einem wilden Titel.
Darunter leiden vor allem die Berichte aus den Gerichtsverhandlungen. ›Ein trübes Sittenbild aus dem dunkeln Berlin‹. ›Der geheimnisvolle Juwelendiebstahl.‹ ›Der Mord im Pantinenkeller‹, und der Unterschied zwischen einem Schundroman und einer parodistischen Operette wird nicht immer gewahrt.
Der Brauch, Flaschen abgestandener Flüssigkeiten mit aufreizenden Etiketts zu bekleben, hat seine Gefahr, weil der Leser gern seine wirklichen Erlebnisse etikettiert. Es gibt schon eine Menge Leute, die nicht deutsch, sondern Zeitungsdeutsch sprechen und die, statt einen komplizierten Seelenvorgang zu untersuchen, das Wort ›Lebenswandel‹ vorziehen.
Die Aufmerksamkeit des bürgerlichen Zeitungslesers auf soziale und wirtschaftliche Kämpfe hinzulenken, ist fast nur noch möglich, wenn man mit einer Dosis ranziger Sentimentalität aufkocht. Ehrliche, sachliche Zahlen, trockenes Material wirken längst nicht mehr. Die Überschrift wirkt, die Überschrift, das Etikett, die Schablone, das Schema: mit ihnen amerikanisiert diese aufkommende Presse die Köpfe und die Geister.
Ignaz Wrobel
März, 01.02.1914, Nr. 9, S. 281.