Operettenmusik
Wie muß sie sein, damit man sie gebrauchen kann – nicht: damit sie gefalle? Operettenmusik ist ein Gebrauchsgegenstand, wie Schränke, Kleider und eventuell die Zahnbürste. Wie muß sie sein? Muß sie musikalische Qualitäten haben? Muß sie leicht faßlich sein? Hübsch? Gemein? Dudelnd?
Ich weiß nicht. Das Publikum weiß auch nicht. Aber – brauchen muß man sie können. Im täglichen Leben anwenden, sozusagen …
Der Radfahrbote muß sich den Schlager vorführen können, wenn er, stumpfsinnigen Auges, durch die Straßen pedalt, nicht achtend, wen er anrempele – aber sein gespitzter Mund muß leise und falsch pfeifen: »Das ist der Herr da drüü-ben – von Numro süü – ben … « Die Komponierung muß geeignet sein für alle Lagen des Lebens: der Student, der frohbeschwingten Schrittes auf das Bücherregal zuschreitet, um seine Alimentationsverpflichtungsmängel festzustellen, muß es lieblich singen; das fegende und waschende Dienstmädchen muß die Bodenkammern erfüllen mit der Kraft ihres Mezzosoprans; die Kaffeetischrunde muß imstande sein, bei den großen Gesprächen über Kunst sie taktmäßig in die Debatte zu werfen, die Melodie nämlich, wenn anders es eine ist; und auf unseren häuslichen Gängen mag sie uns begleiten für und für.
Gott schütze die Operettenmusik! Wie denn, wenn diese alle, Erholung suchend von den Trivialitäten des Tages, die zweite Cherubim-Arie grölten? Wohin, wenn der moderne Schusterjunge, der Messingbeu, sich einen aus der »Aida« pfiffe? Wenn Florestan aus der Wanne tönte, worin der saubere Hausherr sich spült … !
Man muß etwas haben, das man im Munde trägt, wie in der Hand den Spazierstock. Die Amerikaner haben den Kaugummi. Wir haben die Operettenmusik.
Peter Panter
Die Schaubühne, 30.10.1913, Nr. 44, S. 1072.