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Operetten

Ein Rudolf Wilkescher Strolch hinter dem Bretterzaun: »In dem Roman jibt es nur Jrafens und Barone. Das jefällt mir. Man amüsiert sich und ist doch in juter Jesellschaft.«

Bei Millionärs ist Schuhr: es sind viele Gäste da; die Herren haben Pfannkuchengesichter und die Augen der Damen sind schwarz unterstrichen, damit man sie besser sieht. Alle stehen in lieblich geöffnetem Halbkreis um den Souffleurkasten, schwingen Sektgläser und singen ein Lied mit untergelegtem Text, den man aber nicht genau versteht, weil noch viele Leute zu spät kommen und mit den Sesseln klappen. Endlich hat sich das Parkett ausgeräuspert, -gescharrt, zurechtgesetzt, oben verlaufen sich die Damen und Herren der Gesellschaft, nur Lizzie und Fred bleiben zurück. Im Sprechton: »Gestatten Sie, mein sehr verehrtes gnädiges Fräulein, dass ich Ihnen mein Kompliment für Ihr außerordentlich poesiereiches und romantisches und gelungenes und wahrhaft vornehmes Fest mir zu machen erlaube.« Sie, flötend, gespitzten Mundes: »Ich weiß nicht, Herr Baron, welche Ursache Sie hätten, gerade mir diese zarte Liebenswürdigkeit entgegenzubringen, denn ich habe Ihnen doch wahrhaftig (Blick in die Logen) keine Veranlassung gegeben … « Das geht eine ganze Weile so, bis sich der Kapellmeister zurechtrückt, das Fagott aufwacht und die komische Figur auf die Bühne torkelt: ein stotternder Verehrer, eine umfangreiche Schwiegermama, ein lockiger Bösewicht. Auftrittslied, das Publikum lacht. Während sie nun vorne noch Wortspiele deichseln, schiebt der Regisseur von hinten die dämonische Ehefrau eines andern herein. Das wird böse Verwicklungen geben! Auch der Millionärpapa erscheint. Die Ehefrau-Schlange zischt, der Millionärpapa erlaubt irgendetwas nicht, weil … weil die Familientradition dawider ist, oder weil er schlecht gefrühstückt hat oder weil ihm Fred überhaupt nicht paßt. Die Vereinigung der Liebenden ist aufs höchste bedroht. Die Gäste kommen dazu, Fred (ab). Geschrei, Verzweiflung, Finale. Zweiter Akt. Dieser zweite Aufzug atmet stets Leidenschaft, immerhin gemessen, verhalten, Liebe mit dem Monokel, Seelenemotion mit zwei Dienern und einem Haushofmeister. Man weiß, was sich schickt, man ist upper ten schließlich. Das Liebespaar heult sich an: der Komponist gibt hier sein Feinstes, wie es nachher in den Kritiken heißt, und wenn man es noch nicht gewußt hat, dass er früher Militärkapellmeister oder Klavierspieler in einem Vorstadt-Varieté war: jetzt weiß man es. Ein Rezitativ ertönt: »Liebst du mich?« – »Ich liebe dich.« – »Wir lieben uns.« – »Ach ja, die Liebe« … und da steht, bei Gott, der Kapellmeister auf, breitet die Arme wie ein Flügelpaar auseinander, schüttelt die Mähne, hebt ermuntert den Kopf und was kommt nun? Der Schlager kommt nun. Der Schlager, das sind vier Zeilen, bei unerschöpflicher Phantasie acht, die im Lieben auf und ab und unter Zuhilfenahme eines kitzelnden Septimenakkordes dem Hörer mit Pauken und Trompeten suggeriert wird. Die Geigen wimmern, der Cellist maut wie ein Kater und wenn oben die Wogen der Gefühle über dem gut angezogenen Paar zusammenschlagen, quetschen sich die Posaunen laute Töne der Verzweiflung und noch einmal den Schlager fortissimo ab. Das Finale des zweiten Aktes ist immer schrecklich laut (manche sagen, das sei Instrumentation, aber das ist nicht wahr). Während der Pause ißt man Butterbrote und weiß gar nicht, wie es ausgehen wird. Es geht aber aus, im dritten Akt nämlich. Da erscheint noch einmal die komische Figur, noch einmal Herren und Damen in der Gesellschaft in einem herzbrechend vornehmen Miljöh, wieder tritt niemand ein, ohne vorher ein Stück Pappe vom Diener auf einer Silberplatte haben hereintragen zu lassen, noch einmal läutet man dem Stubenmädchen, läßt hinter der Szene eine Automobilhupe ertönen und hat überhaupt bereits in den Windeln im Frack gelegen. Das Ganze spielt etwa in einer Schiffskabine erster Klasse oder in einem Millionenpark oder (sehr beliebt) auf einer Gartenterrasse, Ausblick auf das unendliche Meer oder so. Die Monokel blitzen, die Paukenschlegel hüpfen im Zweivierteltakt, sie kriegen sich, Gruppe, Trauung, Segen, Schlußgeschrei.

Warum sehen sich das die Leute an? Warum halten dabei Tausende aus, ohne mit der Wimper, geschweige denn mit den Händen zu zucken? Sie zucken nur, um zu klatschen.

Weil sie ihre Ideale in strahlenloser Reinheit lebend bewundern dürfen. Weil sie sich selbst gesteigert sehen. Denn diese Jrafens und Barone sind keine Adligen, sondern es sind vornehme Leute, wie sie in der Vorstellung kleiner Nähmädchen leben. Darum halten sie auch so auf Vornehmheit, betonen stets ihr hohes Niveau und sind natürlich ein Opfer ihrer reichen Umgebung. Ich werde nie vergessen, wie eine solche adlige Mama einmal zu ihrem Kind sagte: »Aber ich bitte dich, Elvira! Wo bleibt da der Noblessoblisch?« – Die Operette hat recht, weil sie in innigem Kontakt mit dem Parkett steht, nur ist sie drei Stufen höher. Die Technik hat sich entwickelt, die Industrie ist da. Bis auf die Silbenzahl des Titels haben diese österreichischen Musikmacher ihre eigenen Gesetze: und was den Schlager angeht, so muß sein Text harmlos blöd sein, aber immer irgendeine erotische Ausdeutung zulassen. Um diesen Schlager wird die Operette gebaut, wölbt sie sich, wie die Glasglocke um den Kuhkäse.

Und das geht nun schon zehn Jahre so, und es ist nur ein Abflauen, aber kein Ende zu sehen. Kommt schon einmal einer wie Claude Terrasse, der witzige belgische Musiker, der den ›Franc Rohain‹ komponiert hat, mit dem ›Kongreß von Sevilla‹, dann zieht das nicht mehr, weil sich die Leute an das aufgeblasene Gehudel wiener commis voyageurs gewöhnt haben. Offenbach? Du lieber Gott, man ist schon zufrieden, wenn uns eine grazile, leichte Musik, sauber gemacht und hübsch gesetzt, nur einen Abend unterhalten würde, wenn uns nette Liederchen und auch einmal ein schmiegsamer Tanz das Blut schneller pulsieren machte: jawohl! Der Herr Lehár wird dir was! Und die ganz widerliche berliner Manier, am Anfang der Wintersaison der Einwohnerschaft drei, vier Gassenlieder aufzuoktroyieren, die sie zu singen, zu pfeifen, zu leiern, zu trommeln haben, greift über auf das Reich: das Niederwalddenkmal streckt segnend seine Hand aus über die grölenden Opfer fetter Operettenagenten, über ein Volk, das keine lustigen Musikpossen, keine kleinen Spielopern, keine Operchen, keine Operetten mehr hat, sondern nur noch Grammophonwalzen, musikalische Apfelstrudel, ›Schlager‹, und das von Eros und den drei Grazien und den neun Musen nichts mehr wissen will, weil Dreizehn eine Unglückszahl ist.

Kurt Tucholsky

März, 05.02.1914, Nr. 5, S. 158.