Rationalismus
Rationalismus ist der Gegensatz 1. von Empirismus und Sensualismus; 2. von Skeptizismus und Kritizismus; 3. von Supranaturalismus. Im Gegensatz zum Empirismus und Sensualismus ist der Rationalismus diejenige methodische Richtung der Philosophie, die, von dem Vorbilde der Mathematik ausgehend, aus der Philosophie ein System von Vernunftschlüssen, an deren Spitze ein oberster Grundsatz steht, machen möchte. Aus dem obersten Grundsätze versucht sie durch folgerichtige Ableitung das Ganze des begrifflichen Wissens zu gewinnen. Der Rationalismus ist die Grundrichtung der griechischen Philosophie gewesen. In der Neuzeit ist er in Frankreich von Descartes geschaffen, von ihm auf Spinoza übergegangen und dann für lange Zeit die Methode der deutschen Philosophie geworden: Leibniz, Wolf, Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Herbart sind seine namhaftesten Vertreter gewesen. Als oberster Grundsatz galt ihm bis auf Kant der Satz der Identität oder des Widerspruchs; Kant stellte dagegen den Gedanken der Möglichkeit der Erfahrung und damit den Begriff der transzendentalen synthetischen Einheit der Apperzeption an die Spitze seines Vernunftsystems. Auch der nachkantische Idealismus suchte nach neuen Ausgangspunkten. Es ist jedoch noch keine rationale Ableitung des Wissens zustande gekommen, ohne daß irgendwo, bewußt oder unbewußt, die Erfahrung zu Hilfe genommen ist. – Im Gegensatz zum Skeptizismus und Kritizismus ist der Rationalismus oder Dogmatismus diejenige Ansicht von den Grenzen der menschlichen Erkenntnis, welche unbedingtes Vertrauen in die Leistungsfälligkeit unserer Vernunft setzt. Dieser erkenntnistheoretische Rationalismus macht die Vernunft zur Alleinherrscherin im Reiche der Wahrheit und erklärt ihr Regiment für absolut. Von Cartesius (1596-1650) im Aufbau seines Systems geschaffen, hat er sich mehr negierend und die historisch gegebenen Verhältnisse in Gesellschaft, Staat, Kirche, Wissenschaft, Kunst auflösend als agitatorische Aufklärungsphilosophie im 18. Jahrhundert in Frankreich entwickelt und hier den Glauben an die Autoritäten untergraben. Mehr positiv sich haltend und in vornehmerer Wissenschaftlichkeit hat er in Deutschland durch Leibniz und Wolf seine Ausbildung empfangen und im 19. Jahrhundert in Fichtes, Schellings und Hegels Systemen fortgelebt. Auch in Deutschland zeigt er im 18. Jahrhundert Abneigung gegen das historisch Gegebene, und sein stets von ihm im Auge behaltener Gegner ist der Aberglaube gewesen. Er hat mit Erfolg dahin gewirkt, uns von dem Erbe mittelalterlicher Befangenheit zu befreien. Vor allem hat er den Versuch gemacht, Glauben und Wissen zu einem einheitlichen System zu vereinigen, bei dem nicht mehr wie im Mittelalter die Theologie der Philosophie übergeordnet ist, sondern umgekehrt sich der Glaube nach der Vernunft richten muß. – In dieser dritten Bedeutung ist also der Rationalismus diejenige theologische Richtung, welche in Glaubenssachen den Gebrauch der Vernunft nicht nur für erlaubt, sondern sogar für notwendig hält, um die göttliche Offenbarung aufzufassen und zu prüfen. Der theologische Rationalismus ist in Deutschland durch Chr. Wolf begründet. Dieser stellt in seiner „Natürlichen Theologie“ eine Vernunftreligion dem positiven Glauben gegenüber. Hiermit verband sich die durch Semler eingeleitete, durch Ernesti, Töllner, Griesbach u. a. fortgesetzte Kritik der Bibel und Kirchengeschichte. Ferner traten die Popularphilosophen (s. d.) sowie Nicolais „Allgemeine Deutsche Bibliothek“ für eine bisweilen seichte Aufklärung ein, welche auf religiösem Gebiet nichts gelten lassen wollte, was sich nicht vor dem „gesunden Menschenverstande“ (common sense) rechtfertigen könnte. Zwar vertiefte Kant ihre eudämonistische Moral, aber der Gegensatz zu allen positiven Elementen der Religion (Offenbarung, Wunder, Weissagung) und zu allem Mystischen war auch sein Standpunkt. Auch er betrachtet die Vernunft als die einzige Offenbarungsquelle und duldet nichts Mystisches und Unbegreifliches in der Religion. Um nun aber doch die geschichtliche Wahrheit der hl. Schrift, deren Autorität die Rationalisten anerkannten, zu retten, ohne mit der Vernunft in Widerspruch zu geraten, verirrten sich dieselben in gewaltsame, abenteuerliche, oft lächerliche Auslegungen, indem sie alles Wunderbare als Akkommodation der heiligen Schriftsteller deuteten. So ist viel Plattes und Unnatürliches beim Rationalismus herausgekommen, und der Rationalismus erscheint als das echte Kind des 18. Jahrhunderts, der Zeit der Ernüchterung, Verständigkeit und Aufklärung. Gegen ihn erhoben sich Hamann, Herder, Jacobi, Lavater u. a. ferner die Romantiker und vor allem Schleiermacher und Schelling. Nicht den Angriffen der Supranaturalisten, wohl aber dem historischen Sinn des 19. Jahrhunderts ist der Rationalismus wehrlos zum Opfer gefallen. Vgl. Stäudlin, Gesch. d. Rat. u. Supranaturalism. 1816. K. Hagenbach, Kirchengesch. des 18. und 19. Jahrh. 3. Aufl. 1836. K. Hase, Anti-Röhr. 1834.